13 . Kapitel

Rostock, Juli 1983

P eggy saß vor der alten Tretnähmaschine ihrer Mutter in dem winzigen Zimmer, in dem sie auch schlief. Sie und ihr Vater teilten sich die kleine Wohnung. Sie dachte wieder mal an Arne, und das ließ Schmetterlinge in ihrem Bauch tanzen. Innerhalb von wenigen Wochen hatte sich ihr Leben gewandelt. Sie war mit ihrem Vater in die billigere Bleibe in der Südstadt gezogen und hatte die Lehre im Krankenhaus begonnen. In ihrer Kollegin Mina hatte sie nicht nur eine gute Freundin gefunden, sondern auch die Jungs der Siedlung kennengelernt. Mittlerweile begleiteten Mina und sie die chaotische Männerclique regelmäßig in den Mensaklub zum Tanzen. Und dann war auch noch Arne dort aufgetaucht und in ihr Leben getreten. In null Komma nichts hatte er ihr Herz erobert, und ein Leben ohne ihn war nicht mehr vorstellbar. Er war anders als alle anderen Männer, die sie bisher kennengelernt hatte. Er war wild und unbequem, selbstsicher und liebevoll. Sie spürte genau, dass er sie haben wollte, aber er tat so, als seien Frauen nur Begleiterinnen für kurze Zeit. Na, da kannte er sie aber schlecht. Sie würde ihm das Leben so sehr bereichern, dass er sich ohne sie leer fühlen und sein Dasein öde sein würde. Sie waren das perfekte Paar – er wusste es nur noch nicht.

Sie strich über den dunkelroten Samt, den Arne auf dem Flohmarkt für sie ergattert hatte. Er war viel feiner und dünner als die dicken Samtvorhänge, aus denen sie sonst Jacken nähte, um durch deren Verkauf die Haushaltskasse ein wenig aufzubessern. Sie hasste die Zonenfummel und nähte sich ihre Kleidungsstücke am liebsten selbst. Sie wünschte, es gäbe mehr schöne Stoffe, dann wären ihre flippigen Kreationen bald ein lukratives Geschäftsmodell. Leider waren gute, erst recht farbenfrohe und bedruckte Stoffe im Osten Mangelware. Dieses wundervolle Stück Samt reichte für einen knappen Rock mit Gummizugbund, und wenn sie sich ranhielt, bekäme sie den Rock noch vor dem großen Urlaub fertig.

Urlaub! Schon das Wort verhieß das pralle Leben, auf das sie sich so freute. Die Truppe wollte zusammen nach Budapest, allerdings hatte Peggy kein Geld für den Flug. Ihr ganzes Lehrlingsgehalt als Krankenschwester ging dafür drauf, den Vater und sich selbst durchzubringen. Er verdiente schon lange nichts mehr. Und wer würde sich um ihn kümmern, selbst wenn sie es schaffte, die Summe für Budapest zusammenzukratzen? Sie musste dringend mit ihrem Onkel sprechen und ihn bitten, einzuspringen und die Pflege seines Bruders ein paar Tage zu übernehmen. Auf keinen Fall durfte sie in Budapest fehlen.

Sie markierte mit einem Bleistift die Länge des Rocks und gab noch drei Zentimeter für die Naht dazu. Damit sie nicht ketteln musste, legte sie die Stofflagen so aufeinander, dass die gute Seite außen lag, und nähte sie zusammen. Die Maschine ratterte die Stoffbahn herunter, und Peggy schaffte eine saubere Naht, obwohl sie mit ihren Gedanken woanders war. Aber wenigstens hatten ihre Hände eine Beschäftigung, und die rhythmische Fußbewegung für den Antrieb der Maschine hatte etwas Beruhigendes.

Sie stoppte das Handrad. Hatte ihr Vater gerufen? Sie lauschte, aber es blieb still. Ihn plagten wieder die Kopfschmerzen. Manchmal ertrug er nicht mal mehr ein Zeitungsrascheln.

Ob Mina und Kay ihr Geld zusammenlegten? Sie waren ein Paar geworden – das war schon am ersten Abend im Mensaklub abzusehen gewesen. Peggy freute sich für Mina, denn sie teilten ihr Liebesglück und konnten gar nicht genug über ihre Zukunft fantasieren. Sowohl über den nahen Urlaub als auch über die weitere Zukunft. Die Jungs würden sich niemals in die engen Grenzen des Systems pressen lassen, was einerseits aufregend war. Andererseits war sie schockiert, wie offen sie über Fluchtpläne schwadronierten. Nicht, weil sie selbst nicht auch schon mal darüber nachgedacht hätte, sondern weil in ihren Augen eine gemeinsame Flucht wegen der mangelnden Disziplin der Gruppe schiefgehen würde. Ihre Naivität ließ sie an der Realität scheitern. Bei dem Gedanken daran musste Peggy lächeln. Wenn sie sich vorstellte, dass die Jungs Ernst machten, voller Aufregung und Angst nach dem Alkohol griffen und dann in einem Fluchttunnel stecken blieben … nein, es war nicht zum Lachen, im Gegenteil. Sie nahm sich vor, aufzupassen, dass keiner der Gruppe ins Visier der Sicherheitsorgane geriet. Einer musste ja darauf achtgeben.

Sie stand auf, um das Bügeleisen auf dem bereitgestellten Bügelbrett anzuheizen, und schnitt dann die Nahtzugabe knappkantig herunter. Eine kurze Bewegung mit dem angeleckten Zeigefinger auf die Bügelfläche zeigte, dass das Eisen bereit war. Sie bügelte die Naht glatt. Perfekt.

Gott sei Dank hatte Arne keinen Zweifel daran gelassen, dass sie in Budapest in einem Zelt schlafen würden, so brauchte sie den Vorschlag nicht mehr zu machen, und es fiel nicht auf, dass sie gar kein Zelt besaß. Es wäre ihr erster Urlaub seit Jahren. Kamen die Schwärme der Schmetterlinge in ihrem Bauch auch daher? Oder aß sie zu wenig? Sie hatte kaum noch Appetit, seit sie mit Arne unterwegs war.

Sie maß das Gummiband an ihrer Taille ab und schnitt es mit zwei Zentimeter Nahtzugabe ab. Etwas enger schadete sicher nicht.

Doch, da war ein Geräusch. Sie legte den Rock zur Seite und öffnete die Tür zum angrenzenden Zimmer so leise wie möglich, falls ihr Vater schlief.

»Papa«, flüsterte sie.

»Peggy, was ist das für ein Krach?«

Sie setzte sich zu ihm auf das abgewetzte Sofa, auf dem er lag. »Ach, Papilein, ich nähe mir einen Rock. Bin schon fertig.« Sie half ihm, sich aufzurichten, damit sie sein Kissen aufschütteln konnte. »Arne hat mir Stoff geschenkt. Roten Samt, himmlisch.«

»Schon wieder dieser Arne, ich höre keinen anderen Namen mehr.«

Sie lachte. »Ich brauche keine anderen Namen mehr. Der ist es!«

»Sieht er das auch so?«

»Noch nicht. Aber das kann nicht mehr lange dauern!«

Ihr Vater lächelte zaghaft. »Er hat keine Chance.« Sein Lächeln ging in ein Husten über.

»Soll ich dir meinen Rock zeigen?« Sie sprang auf, holte den halb fertigen Rock und tanzte zurück zum Sofa. »Schau!«

Doch ihr Vater hatte die Augen wieder geschlossen und atmete schwer. Immer öfter schlief er von einer Sekunde auf die nächste ein.

Peggy drückte ihre Nase in den Samt und hatte plötzlich eine Idee, wie sie an das Geld für den Flug herankäme. Sie rannte in ihr Zimmerchen zurück und holte ein paar ihrer Eigenkreationen aus dem Schrank. Man musste sich auch trennen können. Die Stücke brachten sicher genug Geld ein, und wenn sie und Arne erst unzertrennlich wären, würde sie sich neue Sachen nähen.

Sie ging mit wiegendem Schritt mit dem Stoff langsam durch das Zimmer. Arne.

Sie spürte seine Unzufriedenheit und sein Schielen Richtung Westen. Noch hatte er keinen Fluchtplan, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis er verzweifelt genug war, um eine Dummheit zu begehen. Peggy musste ihn davon abhalten. Die ganze Gruppe liebte es, zu provozieren, doch irgendwann könnte ihr Tatendrang ihnen zum Verhängnis werden.

Sie wollte Arne nicht verlieren!