14 . Kapitel

Rostock, August 1983

P eggy waren Wetterprognosen total egal, aber diesmal überschlugen sich die Hitzewerte der Vorhersagen. Und tatsächlich war es in jeder Hinsicht ein heißer Sommer. Sie hatte es geschafft, das Geld für den Flug nach Ungarn aufzutreiben, und freute sich unbändig auf einen ersten Urlaub mit Arne und der indischen Reisegruppe. Sie hatte ihren Kleiderschrank geplündert, und ihr Onkel hatte mit einer großzügigen Unterstützung ausgeholfen. Sie war so glücklich, dass sie gar nicht mehr wusste, wohin mit ihrer Vorfreude. Dazu kam, dass der erste Flug ihres Lebens auf sie wartete.

Fliegen! Schon der Klang des Wortes versprach ein Abenteuer. Von Berlin über Prag nach Budapest. Peggy schlief seit Tagen kaum noch. Es war für alle der erste Flug, und es grenzte an ein Wunder, dass die gesamte Gruppe eine Reisegenehmigung erhalten und genügend Geld zusammengekratzt hatte, um die Flüge zu buchen. In ihrer Euphorie hatte sich Peggy vorgestellt, ihr Ziel wären die Bahamas oder Kapstadt oder Sydney oder irgendeine andere Stadt auf einem anderen Kontinent in einer anderen Welt. Rucksacktouristen auf dem Weg in die Tropen. Tatsächlich würden sie mit großem Gepäck reisen und schwer an den Zelten schleppen. Aber es war illusorisch, sich ein Hotelzimmer zu leisten. Sie waren zwar knapp bei Kasse, aber bester Laune. In dieser Stimmung traf es Peggy vollkommen unvorbereitet, als ein Zwischenfall am Flughafen beinahe ihren Urlaub vorzeitig beendete.

Sie hätten es sich denken können. Natürlich zog ein Trupp langhaariger Männer in Jeans und Parka die Aufmerksamkeit der Grenzer auf sich. In diesem Fall trugen sie Zolluniformen.

Sie wiesen den Männern einzelne Kabinen zu und forderten sie lautstark auf, ihre Sachen vorzuzeigen. Peggy und Mina winkten sie zusammen in eine Kabine. Peggys Herz klopfte heftig, und sie begann zu schwitzen. Was, wenn so kurz vor dem Abflug noch etwas schiefging? Sie waren der Willkür der Behörden hilflos ausgeliefert.

Die Zöllner bauten offenbar Juris Wanderrucksack fachmännisch auseinander, und Peggy hörte Arne schimpfen. Auf einmal knallten stakkatohaft die Fragen durch die Kabinenwand: »Sie dachten wohl, wir finden das nicht? Was haben Sie damit vor? Gibt es noch mehr? Wer weiß davon?«

Was war da los?

Peggy konzentrierte sich so sehr darauf, zu lauschen, dass sie gar nicht mitbekam, wie der Zöllner sie und Mina weiterwinkte. »Ist noch was?«, raunzte er sie an.

Peggy schüttelte erschrocken den Kopf, griff nach ihrem Rucksack und wandte sich hastig ab. Mit Mina wartete sie direkt hinter dem Zollbereich auf die Männer. Als Erste kamen die Zwillinge und Oliver, dann folgten Juri und Hannes.

»Ich glaube, sie haben beim Prof was gefunden«, stammelte Juri.

»Beim Prof? Nie im Leben«, sagte Hannes trocken. »Arne?«

»Spinnst du?« Peggy ging sofort auf die Barrikaden. Niemand beschuldigte reflexhaft ihren Arne.

In dieser Sekunde kamen Arne und Kay gemeinsam um die Ecke. Alles schien in Ordnung, denn sie strecken den Daumen hoch. Peggy seufzte erleichtert auf. Fehlte noch der Prof – wo blieb er?

Sie warteten über eine halbe Stunde. Peggy schwitzte Blut und Wasser. Gott sei Dank war noch Zeit bis zum Abflug, sonst wäre der Flug ohne sie gestartet. Peggy wich nicht von Arnes Seite. War ihr Urlaub zu Ende, bevor er angefangen hatte? Was hatten sie gegen den Prof in der Hand?

Endlich kam er um die Ecke geschlichen. Er ließ sich schwer neben sie auf die Bank plumpsen. »Sie haben mir meine Westmäuse abgenommen.« Er zuckte resigniert mit den Schultern.

»Du hattest Westmark dabei?« Arnes Tonfall war voller Bewunderung.

»Na, wovon kaufe ich mir sonst die Schallplatten? Ich hab ’ne lange Liste. Das schaffe ich mit unseren paar Forint doch nie. So ein Scheiß, daraus wird jetzt nix.«

Peggy lachte – laut und unkontrolliert. Schallplatten? Sie sorgte sich, dass die Grenzer ihren Freund verhafteten, ihr Urlaub ausfiel, und der Prof grämte sich wegen seiner Plattenliste? Klar war es ärgerlich, dass sie nur einen geringen Tagessatz ihrer Ostmark in ungarische Forint hatten wechseln dürfen. Die Westmark hätte in Ungarn zu einem fantastischen Kurs getauscht werden können und ihr Reisebudget enorm aufgepeppt. Die DDR -Mark hingegen war in Ungarn wertlos. So blieben sie chronisch knapp bei Kasse, aber deshalb ging man doch nicht so ein hohes Risiko ein.

Ausgerechnet der stille Prof! So oder so, Peggys Erleichterung war grenzenlos und ließ sie hysterisch auflachen. Der Prof sah sie hinter seinen dicken Brillengläsern mit dem verständnislosen Blick eines Kleinkindes an, dem man seinen Lutscher weggenommen hat.

»Hör mal auf zu grinsen. Das ist nicht komisch.«

»Doch«, stieß Peggy hervor. Plötzlich, bei dem Gedanken an die möglichen Konsequenzen, gefror ihr Lächeln. Devisenschmuggel war keine Kleinigkeit, und sie wollte den Prof außer Reichweite haben, bevor die Zöllner es sich anders überlegten. »Los, wir gehen zum Abflugschalter, bevor sie dich zurückholen.«

Es fiel Peggy schwer, den Flug zu genießen. Sie grübelte über den Zwischenfall am Flughafen nach, dabei hätte sie erleichtert sein sollen, dass sie im Flugzeug saßen und nichts weiter passiert war. Die anderen schienen das Ganze auch schon vergessen zu haben, sie aber nicht. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass der korrekte Prof klammheimlich Geld schmuggelte. Ob er die Westmark von seinem Vater hatte? Peggy hatte den Verdacht, dass die ruhige Ausstrahlung des Profs über charakterliche Tiefen hinwegtäuschte. Da war etwas aufgeblitzt, das Peggy zeigte, dass der stille junge Mann wesentlich mehr zu bieten hatte, als man auf den ersten Blick dachte. Sie sah ihn mit ganz neuen Augen. Er saß auf der anderen Seite des Gangs, daneben Juri mit Romy am Fenster, und die beiden Männer tuschelten miteinander.

»Wo hattest du das Geld versteckt?«, hörte Peggy Juri dem Prof zuflüstern.

Der Prof lächelte. »Im Gestänge des Rucksacks zusammengerollt. Ich war wohl nicht der Erste, der auf die Idee gekommen ist.« Er zuckte mit den Schultern und knuffte ihn in die Seite. »Noch mal gut gegangen. Jetzt stürmen wir die Plattenläden und verjubeln unsere paar Mäuse. Hast du eine Liste dabei?«

Juri grinste und tippte sich an den Kopf. »Alles da oben drin. Ich grübele noch über die Reihenfolge, falls das Geld nicht reicht.«

Der Prof nickte wissend. »Wir teilen uns auf. Jeder kauft eine andere, und wir tauschen.«

Sie gaben sich die Hand.

Peggy lächelte. Die Jungs waren so einfach zu durchschauen. Ihre innigsten Sehnsüchte galten in diesem Urlaub der Musik. Schallplatten waren im Osten Mangelware, und auch wenn sie von Zeit zu Zeit in einem Intershop abhingen, um den Duft von Schokolade, Kaffee und Lux-Seife zu schnuppern und zu bestaunen, standen für sie die angesagten Rock-Bands an erster Stelle. Wenn man diesen Männern ein paar Wünsche erfüllt hätte, sie genug Schallplatten bekämen, ein paar Konzerte besuchen dürften und vielleicht ein Auto fahren, dann wären sie viel zufriedener. Warum war das in ihrem Land so schwierig?

Sie hatten sich auf einem Campingplatz auf der Budaer Seite der Donau eingemietet und bezogen ihre Zelte. Nur Hannes war mal wieder zu faul gewesen, eines einzupacken, und hatte wie üblich seine Hängematte mitgebracht, die er zwischen zwei Bäume spannte. Sobald die Zelte standen, nahmen sie die U-Bahn ins Stadtzentrum nach Pest. Schon die Fahrt war aufregend, denn in Rostock gab es keine Untergrundbahn. Peggy beobachtete die Menschen, die ein- und ausstiegen. Sie wirkten traurig, erschöpft und hatten ebenso graue Gesichter wie die Menschen in der DDR . Das bedrückte sie.

In der Innenstadt angekommen, schlenderten sie Richtung Parlament und bestaunten die Kettenbrücke, bevor Mina, Romy und sie dem Drängen der Männer nachgaben und sich auf die Suche nach Plattenläden begaben. Im Gegensatz zu Rostock pulsierte in Budapest das Leben und schürte ihre Sehnsüchte, denn hier gab es Motorräder und Autos, von denen sie nur träumten. Peggy liebte es, sich einfach durch die Straßen treiben zu lassen und die Geschäfte, Bauten und vor allem die Menschen zu beobachten. Die Art, wie Familien aus den Läden herausgestolpert kamen, lachend und glücklich mit großen Einkaufstüten in der Hand. Diese Menschen waren das Gegenmodell zu denen in der U-Bahn.

Nachdem die Männer in den ersten beiden Plattenläden lang ersehnte Scheiben gekauft hatten, wurden sie ruhiger. Sie schlenderten am Astoria vorbei, und Peggy stellte sich vor, wie sie hier mit Arne in einem der weichen Betten lag statt auf der harten Isomatte im Zelt. Morgens eine heiße Dusche statt des eisigen Wasserstrahls im Toilettenhäuschen des Campingplatzes. Auch Kay und Mina waren stehen geblieben und drückten sich an der Fensterscheibe des Hotels die Nase platt. Sie wollten sehen, was der Speisesaal zu bieten hatte. Peggy war es ein wenig peinlich, dass die Menschen, die dort saßen, sie ebenfalls begafften. Dafür erhaschten Kay und Mina einen Blick auf das reichhaltige Büfett. Und genauso wenig waren sie sich zu schade, sich vor einem West-Reisebus fotografieren zu lassen und sich für einen Moment so zu fühlen, als gehörten sie dazu. Das war lustig. Und es war traurig. Es war ihre Realität, aber deswegen waren sie noch lange keine Menschen zweiter Klasse.

Auf dem Campingplatz holten sie sich einen Hotdog von einem Imbissstand und setzten sich selig in die offenen Zelte. Sie tauschten ihre Platten aus, tranken Bier und redeten. Selbst Arne öffnete sich der Gruppe und erzählte über sich und sein Elternhaus. Es war nicht alles eitel Sonnenschein. Arne erwähnte fast wie nebenbei, dass er bei seiner Familie in einem beengten Plattenbau wohnte. Sie lebten zu siebt in drei Zimmern, und es kam beinahe täglich zu Streitigkeiten. Seine Eltern hatten nicht die Mittel, sich eine größere Wohnung zu leisten.

»Was macht dein Vater beruflich?«, fragte Kay.

»Er ist in der Forschung tätig. Meine Mutter kümmert sich um die Kleinen. Und das nervt total. Ich warte nicht länger auf die Wohnungsvergabe vom Staat. Das dauert doch Jahrzehnte. Ich halte es zu Hause nicht mehr aus.«

Peggy kuschelte sich an ihn. »Vielleicht finden wir gemeinsam eine Wohnung? Ich spreche mal mit meinem Onkel. Der hat angedeutet, dass er seine Bude an mich abtritt, um Papa zu versorgen. Immerhin sind sie Brüder und stehen sich sehr nahe.«

Arne lächelte sie schweigend an.

Die nächsten Tage vergingen mit der Jagd auf Platten und Bestaunen der Sehenswürdigkeiten. Mittags saßen sie im Schatten einer Mauer, um sich auszuruhen und der Hitze zu entkommen.

»Kassensturz!«, rief der Prof. »Ich habe noch zwei Ideen: Musical und Kino! Was meint ihr?«

Alle waren begeistert und zählten ihr Geld. Es würde reichen, wenn sie nichts mehr für Essen ausgaben.

»Ich habe ein Plakat von Jesus Christ Superstar gesehen!«, schwärmte Kay.

»Religion? Das finden wir …«, raunte Ricksen.

Kay unterbrach ihn. »Die Religion ist unwichtig. Das ist eine Rockoper. Das ist Kunst. Musik pur!«

Peggy klatschte begeistert in die Hände, und es war beschlossene Sache. Darauf freute sie sich wirklich. Eine Rockoper. Nach dem Flug eine weitere Premiere in ihrem Leben.

»Bedeutet das, Musical und Kino oder Musical oder Kino«, fragte Juri.

»Und Kino«, argumentierte der Prof. »Wir essen nur noch Brot. Lasst uns Krieg der Sterne gucken. Eine einmalige Chance. Zu Hause gibt es nur französische Schwarz-Weiß-Filme.« Die Stimme des Profs überschlug sich vor Aufregung.

Diesmal dauerte es nur Sekunden, bis alle einschlugen.

Es wurde zwei unvergessliche Abende. Zwar verstanden sie Englisch nur ansatzweise, aber die Schauspielerei der Musicaldarsteller in Verbindung mit der Musik sagte mehr als tausend Worte.

Peggy hatte Hunger, trotzdem trug sie ein seliges Grinsen im Gesicht.

Wäre da nicht die eine Platte gewesen, die Kay unbedingt noch haben wollte. Er nervte schon seit Tagen. Die neue Platte der englischen Band Yes. Er hielt den Song Owner of a Lonely Heart für genial. Er wäre über Leichen gegangen, um sie zu besitzen. So saßen sie in einem Park auf der Margareteninsel unter den Bäumen, und Kay zählte seine letzten Münzen aus der Hosentasche. Es reichte hinten und vorne nicht, und niemand hatte stille Reserven. Die große Insel mitten in der Donau war bei den heißen Temperaturen beliebt, um Natur und Schatten zu genießen. Deshalb bemerkten sie den kleinen Jungen zuerst nicht, der sich vor Kay aufbaute. Das Gesichtchen schmutzverkrustet, redete er in atemberaubender Geschwindigkeit auf Kay ein. Keiner verstand ein Wort.

»Bettelt er?«, fragte Mina und sah den Racker mitleidig an.

Der Dreikäsehoch strich sich über den Bauch. Auch er hatte Hunger. Plötzlich drehte Kay seinen Handteller um und ließ die Münzen in die Hände des Jungen fallen. Ehe er auch nur ein Wort herausbrachte, rannte der Junge weg.

Jetzt hatte Kay weder seine Platte noch etwas zu essen.

Peggy tadelte ihn sanft: »Mensch, Kay, gib ihm doch nicht noch dein letztes Geld. Du hast genauso viel Hunger wie der Junge. Dich spickt man wie Fleisch, so dünn bist du geworden.« Sie machte sich wirklich Sorgen um Kays Gesundheit. Sie war schon dünn, aber er war wirklich zu mager.

Kay zuckte mit den Schultern und bedachte sie mit seinem Welpenblick.

»Verarsch mich nicht für einen schwachen Moment.« Er seufzte. »Lasst uns zum Zeltplatz zurückgehen. Es ist der letzte Abend, und ihr müsst mir und Mina ein Bier spendieren, ich bin pleite.«

Als sie in ihren Zelten saßen, waren die Männer wieder mit ihren Schallplatten beschäftigt, was Peggy langsam nervte. Sie sehnte sich nach etwas romantischeren Momenten mit Arne. Spürte er ihre Unzufriedenheit? »Ihr mit euren Schallplatten«, maulte er. »Ey, ich will die Bands live hören!«

Peggy hatte ihn noch nie so aufgebracht gesehen.

»Tja«, sagte der Prof. »Das wird wohl nix. Morgen geht es heim. Rockkonzerte kannst du vergessen!« Er lächelte Arne milde an.

»Nein. Ich muss nicht heim. Ich habe mir überlegt, nach Berlin zu ziehen. Und dann weiter. Nicht zurück. Nur nach vorn.«

Peggy brauchte einen Moment, bis sie übersetzt hatte, was Arne damit meinte, dann erstarrte sie und brachte kein Wort heraus. Wollte er sie verlassen? Machte er Schluss?

»Was willst du denn in Berlin?«, fragte Kay. »Deine Freunde sind alle in Rostock!«

»In Berlin gibt es viele leer stehende Häuser und in einem davon werde ich mir eine Wohnung nehmen.«

»Berlin ist so unübersichtlich, dass man vom Radar der Behörden verschwinden kann.« Hannes nickte Arne anerkennend zu.

»Ach, jetzt zieht ihr schon zusammen nach Berlin? Wie bekommt ihr eine Wohnung? Eine Tür eintreten und die Wohnung besetzen?« Juri verbarg seine Ironie nicht.

Arne und Hannes grinsten sich an.

Genau das schien ihr Plan zu sein. Peggy war fassungslos. Warum hatte Arne nicht vorher mit ihr darüber gesprochen? War es ihm egal, was sie darüber dachte? Sie konnte ihren kranken Vater nicht allein in Rostock zurücklassen, wie stellte er sich das vor?

»Und eure Jobs?«, fragte Mina.

»Kündigen«, antwortete Arne.

Hannes nickte.

Peggy sah sie fassungslos an. Wovon wollten die beiden leben?

»Mensch, für uns gibt es in der DDR keine Zukunft«, rief Hannes. »Glaubt ihr, ich verzehre mich nach Haus, Hof, Kind und Kegel?«

Ja, warum denn eigentlich nicht, dachte Peggy. Wenn man mit der Liebe seines Lebens zusammen war, stand man alles durch. Alles.

»Schau dir an, was sie eurem Kumpel Sascha angetan haben«, fuhr Arne fort. »Darauf warte ich nicht. Wenn wir wachsam sind, tut sich ein Loch auf, durch das wir schlüpfen. Berlin ist der Anfang von etwas Neuem.«

»Und was ist mit mir?«, krächzte Peggy mit letzter Kraft.

Arne zuckte mit den Schultern. »Du kommst mit!«