15 . Kapitel

Rostock-Parkentin, Oktober 2016

K ay sah Hannes nach, der aufgestanden war, um Biernachschub zu holen und nachzusehen, wo er abgeblieben war. Sie hatten ihn aus den Augen verloren. Vielleicht war er im Haus oder hinten am Teich. Aber er war da. Er hatte nichts begriffen.

»Du kennst ihn doch«, hatte Hannes gesagt. »Er ist skrupellos und egoistisch. Vermutlich hat er sich ordentlich Mut angetrunken.«

»Er hat hier nichts zu suchen. Was sagen die anderen? Schmeißt ihn denn niemand vom Hof?«

»Tust du doch auch nicht!«

Kay wusste nicht, wie er reagieren würde, wenn er ihm gegenüberstünde. Wenn er auch nur ein Wort an ihn richtete, konnte Kay für nichts garantieren.

Es war eine seltsame Stimmung, die über dem Hof schwebte. Verstärkt durch die Musik und die merkwürdig verwobenen Gespräche zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Zwischen Hass und Liebe. Kay dachte mit einem Lächeln an den Urlaub in Budapest zurück. Er war furchtbar verliebt in Mina gewesen. Und er hatte Arne kennengelernt. Sehr genau sogar.

* * *

Er erinnerte sich mit einem Schaudern daran, wie streng ihn Juri angeblickt hatte, als er auf der Heimfahrt nach Rostock auf dem Bahnhof Lichtenberg verkündet hatte, er müsse mal kurz mit Arne auf die Toilette. War ihnen so deutlich anzusehen, dass es nicht ums Pinkeln ging? Dabei hatte Kay selbst nicht geahnt, was Arne vorhatte. Nur, dass es illegal war, das war ihm sofort klar gewesen, als Arne ihn um einen Gefallen gebeten hatte. Offenbar hatte Juri förmlich gerochen, dass etwas nicht stimmte, und hatte Kay festgehalten. Obwohl Kay mulmig zumute gewesen war, hatte er sich losgerissen. Er wollte wissen, was Arne vorhatte. Wer sollte davon erfahren?

Arne hastete zielstrebig auf die Herrentoilette zu.

»Du bleibst im Vorraum und lässt niemanden durch, okay?«

»Was hast du vor?«

Arne verschwand durch die Tür und ließ Kay keine Chance, irgendwelche Diskussionen zu beginnen. Kay drehte sich um. Im Gang vor den Toiletten war niemand zu sehen. Was trieb Arne da drin? War er allein? Vermutlich nicht. Scheiße, wenn jetzt jemand käme? Für eine Sekunde durchflutete ihn die Ahnung, dass ihm eine falsche Aktion das Seefahrtsbuch kosten könnte. Er seufzte.

Ein alter Mann schwankte auf unsicheren Beinen auf ihn zu. Ausgerechnet jetzt.

»Hey, Kumpel, warte mal einen Moment. Die reinigen gerade die Bude, und wir können da nicht rein.«

Der Alte starrte ihn an, als sei er Honecker persönlich. Er murmelte: »Kann nich warden«, und plumpste schwer gegen die Wand.

»Tja, wird schon gehen.« Kay stellte sich noch breiter vor die Tür.

Der Alte drehte sich zur Wand und nestelte an seiner Hose.

Das war nicht sein Ernst? Doch! Der Alte wartete nicht länger.

Wo blieb Arne?

In diesem Moment flog die Tür auf. Arne stoppte abrupt, als er die beiden sah. Kay und den Alten, mit offener Hose und sein bestes Stück in den Händen.

»Ist nicht so, wie du denkst!«, murmelte Kay. »Fertig?«

Arne nickte und schlenderte in aller Ruhe an dem Alten vorbei.

Kay stieß einen Stoßseufzer aus und eilte Arne nach.

Als sie wieder im Zug saßen, spürte Kay einen beginnenden Kopfschmerz. Eine blöde Aktion. Er war total verspannt.

Arne grinste und rutschte auf seinem Sitz hin und her, schob sein Hemd nach oben. Kay verstand sofort. Arne hatte etwas in der Toilette entgegengenommen, und was immer es war, er trug es in seiner Hose. Zwei Päckchen. Eins links, eins rechts. Bevor er mehr erkannte, zog Arne das Hemd auch schon wieder herunter und beugte sich vor.

Kay sah ihn an. »Und?«

»Was und?«

»Und?«

»Später!«

Tatsächlich wandte sich Arne ab und legte den Arm um Peggy. Himmeldonnerwetter, dieser Geheimniskrämer. Was war in den beiden Päckchen? Drogen? Unwahrscheinlich. Kay kannte die Szene, und es war fast unmöglich, in der DDR an harte Drogen zu kommen. Es gab schlichtweg keine zugkräftige Währung dafür.

Waffen? Undenkbar, da gab es kein Rankommen. Was sollte Arne auch damit anfangen?

Auf Kays fragend gehobene Augenbraue reagierte Arne nur mit einem verschmitzten Lächeln.

Na gut, dann eben nicht. Kay lehnte sich zurück, griff nach Minas Hand und wollte nicht mehr daran denken.

Es war vorbei. Es war nichts passiert. Es war alles in Ordnung.

Als der Zug in Rostock ankam, verabschiedete sich die indische Reisegruppe auf dem Bahnsteig. Umarmungen und Schulterklopfen.

Als Kay Arne auf die Schulter schlug, raunte der ihm etwas zu. Kay verstand ihn jedoch nicht, weil in diesem Augenblick die Lautsprecherdurchsage den nächsten Zug ankündigte.

»Ich hab was zum Genießen«, wiederholte Arne lauter, um die Ansage zu übertönen. »Sagen dir Christiane F. und George Orwell etwas?«

»Machst du Witze?«

Arne lächelte mal wieder geheimnisvoll.

»Zeig her!«

Arne klopfte auf die Päckchen in seinem Gürtel unter dem Hemd. »Bücher. Die gehen reihum. Macht eine Liste.«

»1984?«, hauchte Kay. »Wir Kinder vom Bahnhof Zoo?«

Arne nickte.

Verbotene Literatur. Sehnsuchtsliteratur. Damit katapultierte sich Arne ganz nach oben in der Hierarchie der indischen Reisegruppe. Und noch ein Gedanke schoss Kay durch den Kopf: Warum hatte Arne ihn mit zur Übergabe genommen und gebeten, Schmiere zu stehen? Ein Vertrauensbeweis? Das hätte auch verdammt schiefgehen können!

»Warum ich?«

Arne grinste nur und ließ sich von Mina umarmen, um Auf Wiedersehen zu sagen.

»Schon mal was von Paragraf 219 gehört?« Kay zog Arne dichter zu sich heran, als wolle er ihn umarmen. »Ungesetzliche Verbindungsaufnahme gibt drei Jahre Knast«, raunte er.

»Du verschlingst Bücher. Du verstehst mich«, antwortete Arne seelenruhig und drückte ihn ganz fest, bevor er sich löste.

Kay zögerte. Er kniff die Augen zusammen. »Ich bekomme Christiane als Erster, das habe ich mir verdient.«

Jetzt lachte Arne laut. »Abgemacht.«

Kay betrachtete ihn mit ganz neuen Augen. War dieser Typ hundert Prozent auf seiner Wellenlänge? War er mutig oder verrückt? Er konnte ihn noch nicht einschätzen. Jedenfalls hatte er sie beide in Gefahr gebracht und war dabei nicht einmal ins Schwitzen geraten. Andererseits gehörte er nun definitiv zur indischen Reisegruppe.

Kay beugte sich wieder vor. »Bist du so abgebrüht, oder tust du nur so?«

Arne schürzte die Lippen. Überlegte.

»Was würdest du sagen, wenn ich dir verrate, dass Peggy von mir schwanger ist?«, flüsterte er ihm ins Ohr.