16 . Kapitel

Rostock, November 1983

H annes hielt es nicht mehr aus. Nichts von allem. Er hasste den tristen November, er hasste das nahende Weihnachten und das Brimborium um Silvester. Er hatte versucht, in diesem Jahr zeitig ein Geschenk für seine Eltern zu kaufen, aber schon die Vorstellung um das Getue seiner Alten, eine krampfhaft harmonische Stimmung unter dem Bäumchen heraufzubeschwören, war unerträglich und hatte seine Kauflaune im Keim erstickt. Es gab auch nichts zu kaufen, geschweige denn, dass er gewusst hätte, womit er seinen Eltern eine Freude machen konnte. Er und sie distanzierten sich seit Jahren immer weiter voneinander.

Er schlenderte aus der Stadt den Südring zurück nach Hause.

Ihn nervte der Job und inzwischen auch die indische Reisegruppe. Sie sollten ihn alle in Ruhe lassen. Er hatte es satt, mit seiner Meinung allein dazustehen. Na gut, nicht allein, aber Peggy mahnte stets zur Besonnenheit. Er hatte keine Lust, vernünftig zu sein, und war wild entschlossen, der häuslichen Überwachung seiner Mutter zu entfliehen, ohne es sich dabei mit den Eltern zu verscherzen. Schließlich war er finanziell von ihnen abhängig. Denn er wollte auch weg von der Arbeit. Er war nicht bereit, das marode System durch seine Arbeitskraft zu unterstützen. Weg von den Frauen, die Männer an die Leine legten. Weg von der schwangeren Peggy und Arne, der durch die Gegend stakste wie ein Hahn über seinen Hühnerhof. Er pendelte zwischen Peggy in Rostock und einem Kumpel in Berlin. Eine eigene Wohnung hatte er noch nicht. Wenn es nach Arne ging, sollte sich das bald ändern.

Deshalb hatte sich Hannes entschieden. Er hatte seinen Job gekündigt und würde nach Berlin ziehen. Ostberlin – Westberlin. Das konnte doch nicht so schwierig sein. Vielleicht würde Arne ihm helfen? Der hatte Kontakte nach Westberlin. Wie käme er sonst an die Bücher? Leider hielt Arne sich bedeckt, was seine Möglichkeiten und Mittelsmänner anging. Aber er war oft in Berlin unterwegs. Das gefiel Hannes, und er hoffte, in Arnes Windschatten mitsegeln zu können. Zumal er den Eindruck hatte, dass Arne sich von der schwangeren Peggy nicht an die Leine legen ließ. Er hatte sie nicht geheiratet und auch keine gemeinsame Wohnung beantragt. Hut ab. Arne gab jedem deutlich zu verstehen, dass er keine langfristigen Planungen anstellte. Genau Hannes’ Geschmack. Langfristig – das war nicht seine Sache.

Er hatte die indische Reisegruppe für seine Umzugspläne rekrutiert. Sie wirkten traurig. Sagten, sie hätten Verständnis. Aber er spürte, dass sie mit ihren Gedanken ganz woanders waren. Kay würde ab Januar wieder zu einer neuen Reise aufbrechen. Hannes war nach wie vor mächtig sauer auf Kay, dass er so wenig von seinen Abenteuern erzählte. Er hielt mit seinen Gefühlen hinter dem Berg, aber es galt doch, dass Freunde keine Geheimnisse voreinander hatten. Hannes war sich sicher: Kay verheimlichte ihnen etwas, und das fand er gar nicht witzig. Deshalb war er ihm keine Rechenschaft schuldig.

Juri und der Prof hielten ihre Einberufungsbescheide zur NVA in Händen und würden sich schon im Januar 1984 an ihren Standorten Pasewalk und Dassow melden. Für Hannes unfassbar. Sie gingen vorzeitig zur Armee, weil sie anschließend studieren wollten. Wer sollte das verstehen? Hatten sie wirklich Zukunftspläne in diesem Land? Leider war niemand mehr da, der auf die Zwillinge aufpasste. Das war ein Problem. Er nahm sich fest vor, die beiden regelmäßig nach Berlin zu holen.

Alle bewunderten ihn für seinen Mut, allein nach Berlin zu ziehen. Dabei wollte er nichts Großes leisten, er wollte nur seine Ruhe haben. Denn es gab noch einen Grund, den er der indischen Reisegruppe nicht genannt hatte. Ja, auch er hatte ein Geheimnis. Wenn die anderen nicht mit offenen Karten spielten, würde er es auch nicht tun.

Wenn Juri und der Prof zum Militär einberufen worden waren, wäre es nur noch eine Frage der Zeit, bis auch alle anderen diesen Bescheid zugestellt bekämen. Die beiden waren die Ersten, weil sie eine Studienzusage hatten und die verkürzte Wartezeit zum Militärdienst nutzten. Was aber, wenn er eingezogen würde? Militär? Unvorstellbar. Also wirklich, er hielt es nicht einmal in einem Arbeitskittel aus, er würde definitiv keine Militäruniform anziehen. Einem brüllenden Offizier folgen? Seine Autonomie aufgeben? Er ordnete sich nicht unter – nur über seine Leiche.

Im Prenzlauer Berg blieb er unter dem Radar. Und später, als Westberliner, müsste er in der entmilitarisierten Zone keinen Militärdienst ableisten. Wenn er es denn über die Grenze schaffte. So sah es aus. Und deshalb verdünnisierte er sich. Er würde sich auf keinen Fall in Berlin anmelden. Er würde auch seinen Eltern nicht sagen, wo er untergekommen war. Mal sehen, wie sie sich zu ihm stellten. Er hatte sich bei seinem bisher einzigen Besuch in Ostberlin eine Altbauwohnung in einem verrotteten Haus ausgespäht. Er hatte die Tür aufgebrochen und gesehen, dass die Wohnung seit vielen Monaten leer und verlassen vor sich hin gammelte. Er hatte ein neues Schloss eingebaut und ein Schild mit seinem Namen an den Briefkasten geklebt.

Als er eingezogen war, entsperrte er mit Bastelgeschick die Wasserleitung. Es gab sowieso kein Bad in der Wohnung, nur ein Waschbecken in der Küche. Das würde reichen. Die Toilette befand sich auf halber Treppe im Treppenhaus, und leider rauschte die Toilettenspülung den ganzen Tag, damit das Wasser nicht einfror, aber dafür hatte er einen eigenen Wasseranschluss. Was wollte er mehr? Wenn Arne ihn besuchen käme, könnte dieser mit ein bisschen Geschick für ihn den Strom anzapfen. Er heizte mit einem alten Kohleofen, und fertig war sein neuer Wohntraum, in dem er niemandem mehr Rechenschaft ablegen musste.

Hannes war gespannt, wie lange es dauern würde, bis Arne vorbeikäme. Ob Peggy ihn ziehen ließ? Schwanger war schwanger, oder? Am Ende würde sie wollen, dass Arne sich um sein Kind kümmerte … und um sie.

Das war nichts für ihn.

Berlin, das war sein Traum. Eine eigene Wohnung. Keiner, der ihn nervte. Niemand, der ihn den ganzen Tag malochen ließ. Klubs zum Abhängen. Und – im Gegensatz zu Rostock – Lokale, die die ganze Nacht geöffnet hatten und in denen er essen gehen konnte, wann er wollte. Feiern open end. Das war Berlin. Und Westberlin gleich nebenan. Dort lag seine Zukunft.