18 . Kapitel

Rostock, November 1983

K ay beschäftigte Arnes Umgang mit Peggys Schwangerschaft. Einerseits pries Arne den Westen als Sehnsuchtsort, und andererseits plante er in der DDR eine Zukunft mit Kind? Wie passte das zusammen? Peggy war eine wichtige Stütze für Kay, und er mochte es nicht, wenn Arne sie für selbstverständlich nahm und sich so wenig Mühe gab. Er hatte gewusst, dass Peggy ihren Vater nicht alleinlassen würde, sie ginge nicht mit nach Berlin, und Arne machte keine Anstalten, darauf zu verzichten. Oder irrte er sich? Peggy schwankte zwischen dem Stolz auf ihre Schwangerschaft und der Sorge um Arne, aber sie sprach nicht darüber. Kay verstand, dass sie die Familie suchte, die sie nie hatte. Sein Bauch rumorte aber nicht nur wegen Peggy, auch Hannes’ Umzug nach Berlin sah er problematisch. Driftete die Gruppe auseinander? Er wartete ungeduldig auf seine letzte Ausbildungsreise, die im Januar 1984 beginnen sollte. Dann hätte er es geschafft! Warten war ja nichts Neues für ihn. Er stand schon sein Leben lang vor Geschäften in der Schlange und wartete, oft ohne zu wissen, für was er anstand. Er hatte auf das Schulende gewartet, auf die Entscheidung, ob er die Lehre zum Matrosen beginnen durfte, und sehnsüchtig auf die erste Seereise. Jetzt wartete er eben auf den Abschluss seiner Ausbildung.

Wenigstens hatte er die Zeit genutzt und seine Führerscheinprüfung bestanden. Nicht, dass er Hoffnung auf ein Auto hatte, aber er war bereit.

Heute war die Gruppe auf dem Weg ins Fußballstadion. Ohne die Frauen, ohne Hannes und ohne Arne, der sich nicht für Fußball interessierte. Dafür hatte Arne haufenweise Pläne und Ideen, wie er an Geld käme. Er verkaufte Würstchen, reparierte Autos, fuhr ohne Erlaubnis und mit einem privaten Auto Taxi, er lungerte auf dem Friedhof herum und sprach alte Damen an, ob er nicht den Grabstein des Verflossenen mal wieder auf Hochglanz polieren solle? Arne war es egal, was andere von ihm dachten, und er scherte sich nicht darum, was andere taten. Er war so umtriebig wie Hannes phlegmatisch. So charmant wie die Zwillinge polterig. So sorglos wie Oliver ängstlich. Genau deshalb hatte ihn die indische Reisegruppe aufgenommen. Er war ein Unikat. So wie Peggy. So wie jeder von ihnen.

Kay hatte nur Sorge, die Zwillinge könnten in ihren offensiv geäußerten Antipathien gegen den Staat unvorsichtig werden. Wenn noch Alkohol dazu kam … Es war ein Spiel mit dem Feuer, und Kay überlegte, wie man Ricksen und Alexander davor bewahren konnte, sich um Kopf und Kragen zu reden.

Arne hingegen war schlau und wusste genau, was er wann sagen durfte. Er war von Natur aus misstrauisch, beäugte erst jeden und wandte sich sofort ab, wenn jemand seine Musterung nicht bestanden hatte. Arne war rau und sanft. Er ließ sich von niemandem vorschreiben, an was er denken oder wie er leben sollte. Doch er war eben kein Plappermaul. Die Zwillinge hingegen waren ungestüm. Und das war gefährlich.

Heute ließen sie Dampf ab. Sie schrien und feuerten ihre Mannschaft an. Sie hatten Spaß und vergaßen die Probleme der Welt. Der Prof, Juri, Oliver, die Zwillinge und er waren auf dem Weg zu einem Heimspiel von Hansa Rostock ins Ostseestadion. Hansa gegen Dynamo Dresden versprach ein spannendes Spiel zu werden.

Die trockene Novemberkälte war auszuhalten und die Sonne gab sich Mühe, die löchrige Wolkendecke zu durchdringen. Sie hatten sich warm angezogen, um auf der unbedachten Tribüne nicht zu frieren. Mit ein paar Bier und einem Hansa-Sieg wäre die Welt für einen Moment in Ordnung. Im letzten Auswärtsspiel, vor zwei Wochen gegen den 1 . FC Union Berlin, hatte es nur zu einem Unentschieden gereicht, und heute dürsteten sie danach, ihren Verein endlich wieder siegen zu sehen.

Sie schlenderten durch eine Kleingartenanlage, die parallel zum Stadion verlief. Die Zwillinge waren ungewöhnlich still. Ricksen war mal wieder in ein Fettnäpfchen getreten und brauchte heute volle Konzentration, um ins Stadion zu gelangen. Im August hatte sich Hansa desaströs gegen BFC Dynamo mit 0 :4 blamiert, und Ricksen hatte betrunken vor dem Stadion randaliert. Er war so enttäuscht, dass er die Kontrolle über sich verlor, ein paar Stühle demolierte und auf einen Ordner losging. Sofort war er mit Stadionverbot belegt worden. Das war ein Problem, denn nur Gott persönlich hätte ihn bei einem Heimspiel von Hansa vom Stadion fernhalten können.

Die Hansa-Programmhefte druckten leider die Namen derjenigen ab, die Stadionverbot hatten. Eine Art pädagogische Maßnahme, die Randalierer mit sozialer Ächtung zu belegen. Das funktionierte kein bisschen, und so hoffte Ricksen, dass ihn am Eingang niemand wiedererkannte. Er hatte seinen Hansa-Schlapphut auf und den Schal um das halbe Gesicht gewickelt. Seine selbst genähte Hansa-Fahne hatte er Oliver in die Hand gedrückt. Er verhielt sich möglichst unauffällig und passierte tatsächlich ohne Probleme die Einlasskontrolle.

Er legte seine Vermummung ab, als sie auf den Holzbänken im Stadion saßen und sich auf dem Rasen bereits die Spieler aufwärmten. Alexander blätterte im Programmheft und hielt es seinem Zwillingsbruder hin. Sie lachten schallend.

»Dürfen wir mitlachen?«, fragte der Prof.

Alexander reichte das Heftchen weiter. »Mein Bruder ist die einzige Frau mit Stadionverbot.«

Der Prof runzelte die Stirn und las. Kay beugte sich vor, um mitzulesen. Tatsächlich stand bei den Namen derjenigen mit Hausverbot: Carla Richard. Aus Carlo war Carla geworden. Ein winziger Druckfehler, der Ricksen glücklich zurückließ. Die Ordner würden ihn schwerlich mit einer Frau verwechseln.

Der Prof klopfte Ricksen auf den Rücken. »Gut gemacht, meine Süße. Die erste Runde geht auf dich.«

Alle lachten.

Der Schiedsrichter pfiff das Spiel an.

Dynamo dominierte die erste Halbzeit. Hansa gelang es kaum einmal, in den gegnerischen Strafraum vorzudringen. Die Dresdner standen ihnen auf den Füßen. Es war das ewig gleiche Elend. Zu stark für die Zweite Liga, zu schwach für die Oberliga. Hansa quälte sich durch das Spiel.

»Hey, Kay, wie geht’s? Hab euch schon länger nicht mehr gesehen.«

Vor ihnen stand ein blasser Mann mit ungepflegtem Vollbart und Tränensäcken, die das restliche Gesicht dominierten. Sie waren ihm schon öfter im Lindeneck begegnet, wenn er stets mutterseelenallein am Tresen hockte. Woher kannte der Kerl Kays Namen? Zwar bedauerte Kay die einsamen Säufer, wenn er sentimentaler Stimmung war, aber er hatte noch nie mit einem gesprochen.

»Stimmt schon, wir leben enthaltsam«, antwortete Juri und prostete ihm mit seinem Bierbecher zu.

Der Mann lachte auf und beugte sich näher zu Kay. »Kommt wohl nicht mehr oft ins Lindeneck. Fehlt einer, was?«

Kays ganzer Körper spannte sich, Gänsehaut überzog seine Arme, als ob er die Gefahr spüre. Der Kerl war betrunken und suchte Streit.

»Wie ich höre, ist Sascha im Strafraum ordentlich gefoult worden?« Er zog wissend beide Augenbrauen in die Höhe.

Kay ballte die Fäuste. Der Typ wusste nichts, verstand nichts. Aber meinte, er müsse hier mal eben ein paar exklusive Informationen abgreifen? Oder wusste er etwas, was sie noch nicht wussten? Meinte er gar nicht Saschas Inhaftierung, sondern …? War Sascha etwas zugestoßen?

»’ne Schwalbe war’s jedenfalls nicht«, presste Kay zwischen den Zähnen hervor.

Gott sei Dank brandete in diesem Moment ohrenbetäubender Lärm auf, als Mischingers Flanke am Pfosten landete und der Ball dem Gegner an den Oberschenkel prallte.

Sie sprangen auf und brachen in wildes Gestikulieren aus. Kay sah, wie der Typ winkte und weiter die Treppe hochstieg. Gott sei Dank, den waren sie los. Aber die Begegnung hatte Sascha wieder ganz vorn in seine Erinnerung geholt. Lebte der Freund? War er gesund? Wie kam er in Haft zurecht? Seit seiner Verhaftung war über ein Jahr vergangen, und sie hatten kein Sterbenswörtchen von ihm gehört. Sie waren nur noch wenige Male im Lindeneck eingekehrt, um Näheres zu erfahren. Der Ort hatte seinen Reiz verloren, und es stimmte sie traurig, Saschas Vater einsam und gramgebeugt hinter dem Zapfhahn stehen zu sehen. Saschas Mutter tauchte gar nicht mehr auf, und Frau Niekrenz polterte, als ob sie ihnen die Schuld an Saschas Verhaftung gäbe.

Das Spiel lief – an Kay vorbei. Er dachte darüber nach, was es bedeutete, dass sie das Lindeneck mieden. Klar, Schuldgefühlen wich man gerne aus, aber da war noch mehr. Hatten sie Angst vor schlechten Nachrichten?

»Hey, soll ich dir ein Bier mitbringen?« Oliver drängelte sich an ihm vorbei.

»Bleib lieber sitzen, du weißt, du verpasst immer alles!«

»Du gibst mir gleich die Kurzversion.«

Kay nickte und wandte sich wieder dem Spiel zu. Hansa stürmte in die Abwehrkette von Dynamo. Es war kein Durchkommen. Aber sie setzten mutig nach.

Die indische Reisegruppe hatte nicht nachgesetzt. Sie hätten sich nicht aus dem Lindeneck vertreiben lassen sollen, hätten an der Seite des Vaters bleiben und mutig sein müssen, statt vor der Trauer davonzulaufen.

Kay achtete auf die Körpersprache der Spieler. Sie waren bissig. Sie gaben sich nicht geschlagen. Sie wollten ein Tor und gewinnen. War das ihr Rezept? Ein Kämpferherz zu besitzen?

Hansa konterte mit einem raffinierten Spielzug über links. Mit zwei langen Pässen hatten sie das ganze Mittelfeld überbrückt. Da nutzte auch das Pressing der Dresdner nichts. Plötzlich kam Radtke von links und sprang noch vor dem Verteidiger in den Ball, verlängerte die Flanke per Kopf ins rechte obere Eck.

TOOOORRRR !!!!!!!!

Sie sprangen auf. Brüllten voller Begeisterung. Endlich auf der Siegerstraße!

Ein wahnsinniges Kopfballtor!

So kurz nach dem Anpfiff der zweiten Halbzeit hatte niemand damit gerechnet. Nur die veränderte Körpersprache war Kay aufgefallen. Was der Trainer wohl in der Pause der Mannschaft mit auf den Weg gegeben hatte? Endlich drückte Hansa und nutzte seine Chancen.

Der Prof fiel ihm um den Hals. Juri klatschte alle ab.

Und Oliver stand wie aus dem Boden gestampft neben ihnen. Die Hände voll mit Bierbechern und einen hochroten Kopf.

»Das gibt es nicht! Nicht schon wieder. Ein Tor? Und ich hole euer blödes Bier? Wie ist das passiert? Oh nein, das darf nicht wahr sein.«

Das Bier schwappte ihnen auf die Füße, und sie nahmen es dem derangierten Oliver ab, bevor er die Becher womöglich fallen ließ.

»Radtke, schönes Tor«, schrie Juri.

Alle verkniffen sich ein Lachen, um Oliver nicht noch zu provozieren. Aber es passierte ihm fast jedes Mal. Er trabte los, Bier holen. Tor! Er hastete zur Toilette. Tor! Aus welchem Grund er auch in die Katakomben verschwand … Tor! Er hatte echt ein mieses Karma.

Kay klopfte Oliver auf die Schulter. »Du bringst dem Club Glück. Freu dich doch, wir liegen vorn. Und wir verspielen den Vorsprung garantiert nicht.«

Hatten sie im Lindeneck ihren Vorsprung versiebt? Allmählich nervte es Kay, dass er sich nicht von seinen grüblerischen Ausflügen lösen konnte. Wäre nur nicht dieser blöde Typ gewesen.

Das Spiel zog sich in der zweiten Halbzeit. Hansa wirkte mit dem 1 :0 so erleichtert, dass sie vergaßen, noch weitere Tore zu schießen. Sie wirkten, als hätte ihnen jemand den Stecker gezogen. Und so kam, was kommen musste. Einen kurzen Moment der Unaufmerksamkeit, und schon war der Linksverteidiger von Dresden durch die Abwehr und schlenzte zum 1 :1 ein. Da es die achtzigste Minute war, nutzte das letzte Aufbäumen von Hansa nichts mehr. Unentschieden. Mal wieder.

Auf dem Weg zum Ausgang beschwerte sich der Prof bei Kay, dass dieser heute wohl mit seinen Gedanken woanders gewesen sei. Er habe ja gar nichts mitbekommen. Kay blieb nichts anderes übrig, als mit den Schultern zu zucken. Solche Tage gab es eben im Leben eines Mannes.

»Hey«, schrie Juri plötzlich neben ihm. »Wie geht es unserem Libero?«

Kay sah auf, und vor ihm stand der Wirt aus dem Lindeneck. Saschas Vater. Wo kam der her? Gedankenübertragung? Schlecht sah er aus, grau im Gesicht, um Jahre gealtert.

Kay schämte sich für Juris unpassende Bemerkung. Er warf dem Wirt einen entschuldigenden Blick zu. Der schien sich aber an Juris brachialem Humor nicht zu stören.

»Habt ihr es noch nicht gehört?«, fragte er und sah sie der Reihe nach an.

Kay lief es eisig dem Rücken runter. Er hatte es geahnt. Sascha war etwas zugestoßen. Darum hörten sie nichts. Jetzt war der Moment gekommen, in dem der Vater ihnen Gewissheit verschaffte. Bitte nicht. Hätte er bloß nie von Lateinamerika erzählt. Dann wäre Sascha vielleicht …

»Sascha ist nicht in die Verlängerung gegangen«, unterbrach der Vater seine Gedanken. Er sprach die Worte so leise, dass Kay ihn kaum verstand. Dabei sah er sich unruhig um, während die Fans an ihnen vorbei Richtung Ausgang hasteten. »Pscht«, machte er und legte den Zeigefinger an die Lippen. Offenbar wollte er nicht, dass irgendjemand mithörte, und neugierige Ohren gab es um sie herum genug.

Was bedeutete keine Verlängerung? War Sascha tot? Hatten sie ihn im Gefängnis umgebracht?

»Oh Gott, was … haben sie … hat er …«, stotterte Kay. Es war ihm peinlich, aber die Angst überrollte ihn, krallte sich in seine Brust und nahm ihm die Luft zum Sprechen.

Saschas Vater legte ihm die Hand auf die Schulter und drückte beruhigend zu.

»Er ist vor der Verlängerung ausgewechselt worden.«

Kay starrte ihn sprachlos an. Konnte der Mann sich nicht klarer ausdrücken?

Der Vater erkannte, dass Kay auch damit nicht viel anzufangen wusste, denn er ergänzte ein wenig wehmütig: »Er hat jetzt einen neuen Trainer. Helmut K.«

»Das ist eine Top-Mannschaft! Wahnsinn!« Der Prof schien keine Probleme mit der Übersetzung der Andeutungen zu haben. Er grinste Kay an.

»Finde ich auch. Der HSV hat eine hohe Ablösesumme gezahlt, nur um ihn im Team zu haben«, sagte der Wirt. Ein gebremstes Lächeln erhellte sein Gesicht.

Neuer Trainer. Helmut. HSV . Kay begriff. Sascha war im Westen. Helmut Kohl. Freigekauft! In Hamburg? Das war eine grandiose Nachricht! Sein Kumpel hatte es geschafft. Er war frei.

»Er sucht noch seinen Platz im neuen Team, spielt sich erst ein, aber es geht ihm blendend«, ergänzte der Wirt. »Leider verzichten wir auf einen Teamkameraden.«

Das war es, was Kay spürte. Der Vater war erleichtert und betrübt zugleich. Ein Teil von ihm, sein Sohn, war ihm entrissen worden. Für immer. Wie lebte er damit? Tröstete es ihn zu wissen, dass Sascha im Westen eine neue Chance bekam?

»Ist ja ein fantastischer Spielzug. Empfiehlt er ihn?«, hakte Ricksen nach.

Das war dem Vater offensichtlich zu viel. Er antwortete knapp und schon im Weggehen. »Kommt auf den Betreuer an. Es spielt nicht jeder in der Ersten Liga. Macht es gut.«

»Boah, der hat es geschafft. Ich freue mich so für ihn!« Die Stimme des Profs klang nach einer Mischung aus Bewunderung und Sehnsucht.

Ricksen und Alexander lagen sich strahlend in den Armen. Sie freuten sich unbändig über die gute Nachricht. Ricksen löste sich von seinem Bruder, und seine Stimme überschlug sich: »Vielleicht probieren wir den gleichen Spielzug, das erscheint mir viel simpler, als eine Schnitte aus dem Westen zu heiraten.«

Kay schubste ihn. Sie hatten abgemacht, in der Öffentlichkeit darauf zu achten, worüber sie sprachen. Ricksen durfte im Überschwang seiner Gefühle nicht unvorsichtig werden.

Ricksen grinste. »Ist doch wahr.«

»Und wenn es nicht klappt?«, flüsterte Juri. »Schon mal daran gedacht?«

»Dann doch eher die Liebe«, meinte der Prof.

Hansa spielte zwar wieder unentschieden, aber Sascha war frei, und erstmals hatte sich ein regierender Westberliner Bürgermeister mit Honecker getroffen.

Lichtstreifen am Horizont.