Rostock, Januar 1984
K ays Warten auf sein Schiff fand zu Beginn des neuen Jahres ein Ende. Die Wilhelm Florin lag seit Weihnachten 1983 in Rostock und sollte Mitte Januar mit neuer Mannschaft wieder Richtung Mexiko auslaufen. Kay war glücklich über den Freikauf von Sascha, und die Reling unter seinen Händen fühlte sich wunderbar vertraut an. Die Sonne strahlte von einem wolkenlosen Himmel und versuchte, die Januarkälte abzumildern. Auf der Pier entluden Kräne in einer nicht enden wollenden Reihe Zuckersäcke, die das Schiff aus Kuba mitgebracht hatte, auf die Eisenbahnwaggons. Die Bahnschienen verliefen direkt auf der Pier, und die vielen Kräne und Kranbrücken luden die Fracht um. Arbeiter sausten mit Gabelstaplern umher, es herrschte geschäftiges Treiben.
Mitten in diese Betriebsamkeit fuhr ein grauer Wartburg die Pier entlang auf die Wilhelm Florin zu. Private Autos waren im Hafen nicht gestattet, sodass Kay der Wagen auffiel wie ein West-Kaffee im Konsumregal.
Zwei ältere Männer in langen Mänteln stiegen aus und stapften, ohne zu zögern, auf die Gangway zu. Sie wussten, wo sie hinwollten, aber sie ahnten noch nicht, dass die Gangway-Wache sie gleich wieder zum Umkehren zwingen würde. Kay grinste. Einen Moment später verging ihm das Lachen, und er zog die Stirn in Falten. Wieso ließ die Wache die beiden Männer passieren? Wer waren sie? Und warum drückte plötzlich sein Magen, als hätte er einen ganzen Hering verschluckt? Irgendetwas war im Gange, und es war nichts Gutes. Er schlenderte betont lässig Richtung Gangway-Wache. Vielleicht schnappte er eine Information auf.
»Hey, die Typen haben nach dir gefragt und sind weiter zum Kapitän«, raunte der Wachhabende Kay zu und sah ihn dabei nicht an.
Kay zuckte die Schulter. Tat unbeteiligter, als er sich fühlte. Wer zum Teufel fragte nach ihm? Es konnte sich nur um hohe Behördenmitarbeiter oder Reederei-Funktionäre handeln. War seinen Eltern etwas zugestoßen? Er schluckte.
Eine halbe Stunde später rief ihn der Bootsmann. »Geh mal zum Alten auf die Kammer. Und wisch dich vorher ein bisschen sauber«, schnauzte er.
Es war ein Unglück geschehen! Er hatte es geahnt. Mit seinen Eltern. Sonst hätten sie nicht nach ihm geschickt. Er flitzte in seine Kammer. Nicht, um seine Hände zu waschen, sondern um sich einen letzten Moment Sicherheit vorzugaukeln, bevor das Schicksal zuschlug. Er wusste, dass diese Männer schlimme Nachrichten für ihn hatten. Er sah in den Spiegel, sah die Angst in seinen Augen. Nach einer Weile wandte er sich ab und trotzte dem Verlust. Den Zusammenbruch sparte er sich für später auf.
Seine Schritte hallten durch das Deckshaus auf dem Weg nach oben zur Kapitänskammer. Er klopfte, und auf das prompt gerufene »Ja« öffnete er die Tür.
Er war erst ein einziges Mal in der Kammer des Kapitäns gewesen. Sie war eingerichtet wie ein Hotelzimmer. Schreibtisch, Sitzecke mit drei Sesseln. Alles in Brauntönen. In der linken Ecke die Backskiste, die Sitzbank mit Deckel, sie stand direkt neben der Tür zum separaten Schlafraum.
Der Kapitän erhob sich nicht von seinem Stuhl, als Kay eintrat. Er streckte nicht die Hand vor. Er kondolierte nicht. Doch kein Trauerfall? Warum war der Politoffizier auch hier?
Für eine Sekunde dachte Kay, es ginge um sein verlorenes T-Shirt. Das rote. Mit der Westwerbung. Es war nicht mehr aufgetaucht. Kassierte er nun den Anschiss dafür?
»Hören Sie, wir machen es kurz. Die Sicherheitsorgane waren gerade bei mir. Sie packen sofort Ihre Sachen und verlassen noch heute das Schiff.« Die Stimme des Kapitäns klang rau, aber geschäftsmäßig.
Kay kapierte nichts. Er hatte eine Todesnachricht erwartet. Damit gerechnet, dass der Kapitän ihm mit getragenen Worten mitteilen würde, dass seine Eltern verunglückt waren. Aber doch nicht die Aufforderung, das Schiff zu verlassen? Abmustern? Wie kam der Kapitän auf so eine unsinnige Idee? Was meinte er mit Sicherheitsorganen?
»Ich … was? Ich … Ich will das Schiff nicht verlassen. Warum?« Kay stotterte, er konnte keine klaren Gedanken fassen. In seinem Kopf rotierten Fragen ohne Antworten.
»Kay, Sie fahren die Reise leider nicht mit, sondern mustern sofort wieder ab.«
Wieso nannte der Kapitän ihn beim Vornamen? Kay war überrumpelt. Es dauerte einen Moment, bevor ihm sich der Sinn der Worte erschloss. Er hatte sich bestimmt verhört. Abmustern? Schon wieder landete er bei diesem unwirklichen Wort.
»Wie bitte?«
»Es tut mir leid, aber Sie steigen heute noch ab. Melden Sie sich morgen früh bei der Reederei in der Langen Straße. Dort wird man sich um Sie kümmern.«
»Was ist passiert?«
»Die Versuchung ist zu groß«, nuschelte der Kapitän. Er sah ihn nicht an.
»Was denn für eine Versuchung, Käpt’n?« Kay hörte selbst, wie verzweifelt er klang. Er bettelte. Er verstand nicht, was hier vor sich ging. Sie ließen ihn zurück? Er liebte die See. Wussten die das nicht? Diejenigen, die diese merkwürdige Anordnung erlassen hatten?
»Man bringt Sie vor den imperialistischen Angriffen des Klassenfeindes in Sicherheit. Ich habe Ihren Eltern ein Telegramm geschickt, damit sie Sie abholen.«
»Was wirft man mir denn vor? Ich habe nichts verbrochen!«, presste Kay hervor. »Das ist ein Missverständnis.«
»Reißen Sie sich zusammen, Mann. Machen Sie es nicht schlimmer, als es schon ist. Ich will und ich darf Sie nicht länger an Bord behalten.« Der Kapitän stand jäh drohend hinter seinem Schreibtisch auf.
»War das die Stasi, oder was?«
»Packen Sie Ihre Sachen.« Er zögerte. »Mehr sage ich Ihnen nicht. Vielleicht haben Sie Feinde …«
»Feinde? Ich doch nicht. Seefahrt ist mein Leben. Ich bin nie abgestiegen, nicht mal verspätet zurückgekommen. Ich bin immer loyal gewesen.« Kay bettelte weiter, aber es war sinnlos.
»Melden Sie sich bei der Reederei, und sprechen Sie mit denen. Ich kann Ihnen nichts anderes sagen.«
»Ich hole meine Sachen nicht. Ich bin morgen wieder an Bord. Ich brauche diese Reise für die Facharbeiterprüfung. Was soll sonst aus mir werden?« Kay zitterte. »Ich kläre das, ich lasse mich nicht abschieben. Ich fahre zur See.«
Der Politoffizier, der bisher schon kein Wort gesagt hatte, stand auf und öffnete wortlos die Tür. Ein unmissverständlicher Rausschmiss.
Kay schlich aus der Kammer wie ein geprügelter Hund. Was ist hier los, verdammt noch mal?, fragte er sich. Er wankte in Richtung Gangway und verließ, ohne sich umzuziehen, das Schiff. Er wunderte sich kurz, warum die Gangway-Wache ihn passieren ließ. Wussten bereits alle Bescheid? Wie schaffte er diesen Irrsinn aus der Welt, bevor das Schiff auslief?
Am Haupttor erwartete ihn sein Vater. Er trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen, oder fror er nur in der Januarkälte?
»Was ist passiert?«, rief er Kay zu.
Kay hatte einen Kloß im Hals und brachte kein Wort heraus. Er war zu sehr damit beschäftigt, nicht in Tränen auszubrechen. Sein Vater fragte nicht weiter, bugsierte ihn ins Auto und fuhr ihn schweigend nach Hause.
Seine Mutter öffnete die Tür.
»Mutti«, schluchzte er. »Ich bin mein Seefahrtsbuch los …«
Als sie den Kopf zur Seite legte und die Arme ausbreitete, ließ er sich im Wohnungsflur zusammensacken. Verzweifelte Schluchzer brachen aus ihm hervor, und in den Armen seiner Mutter, die sich zu ihm auf den Boden gesetzt hatte, ließ er die Tränen fließen.
Am nächsten Tag begleitete ihn sein Vater zur Reederei. Sie hatten sich eine Gesprächsstrategie ausgetüftelt und ihre Fragen notiert. Kays anfängliche Verzweiflung war unbändiger Wut gewichen. Niemand hatte das Recht, sein Leben zu zerstören!
Sein Vater fuhr zügig den kurzen Weg in die Stadtmitte. Die Reederei residierte in einem Glasbau im Zentrum Rostocks. Sie mussten nicht lange warten, dann saßen sie einem Sachbearbeiter gegenüber, dessen eigentümlich altmodischer Schnurrbart während des Gesprächs wippte.
»Warum sind Ihre Sachen nicht von Bord? Sie hatten klare Anweisungen. Die Sachen müssen runter, morgen läuft das Schiff aus.«
»Und ich fahre mit.« Kay hätte sich gewünscht, dass seine Stimme fester geklungen hätte, aber wenigstens versagte sie nicht ihren Dienst.
Der Mann musterte ihn hinter seinem Aktenberg. Er spürte offensichtlich die geballte Aggressivität, die ihm von Kay entgegenschlug, denn er rückte mit seinem Stuhl zurück. War er ein Stasi-Mitarbeiter? Er hatte nicht einmal seinen Namen genannt. Kay war es egal. Er wollte Antworten. Erklärungen. Von wem auch immer.
Kay erfuhr nichts. Er erhielt keine Begründungen. Der Mann speiste ihn mit leeren Worthülsen ab. Sie schützten ihn vor den Angriffen im Ausland, vor den Attacken der Imperialisten.
»Das ist Kommunistenkram. Haben Sie Angst, dass ich flüchte?«
»Haben Sie das vor?«, fragte der Kerl. Dabei schob er eine Akte vor und zurück.
Hatten sie eine Akte über Kay angelegt? »Nein! Ich hatte hunderte Gelegenheiten – und habe ich eine genutzt? Warum wohl nicht? Weil ich nicht will. Ich bin Seemann«, schrie Kay.
Sein Vater legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm.
»Wissen Sie«, begann er und seine Stimme zitterte vor unterdrückter Wut. »Ich finde das eine Riesensauerei. Ich bin seit Jahrzehnten ein verdienter Seemann, und Sie behandeln meinen Sohn derart schäbig. Er hat nicht mal seinen Facharbeiterabschluss.«
Der Mann wollte ihn unterbrechen, aber Kay sah, dass sein Vater die Hand hob und ihm Einhalt gebot.
»Im Kapitalismus gibt es für die Jugend angeblich nur Arbeitslosigkeit. Im Sozialismus hingegen die strahlende Zukunft. Davon merken wir nichts. Das ist ja wohl genau umgekehrt. Sie überlegen sich eine Lösung.«
»Beruhigen Sie sich. Wir finden einen Ausweg.« Der Mann schlug die Akte auf und las. Schloss sie wieder.
»Er darf auf der Warnowwerft arbeiten. Auf der MS Schwerin brauchen sie Unterstützung. Und dann … sehen wir weiter.«
»Was ist mit meinem Studium?«, krächzte Kay. Er hatte erst vor Kurzem eine Zusage an der Ingenieurhochschule für Seefahrt in Wustrow erhalten. Er wollte Nautik studieren, hatte Zukunftspläne. Wünsche. Träume.
Er erhielt nicht einmal eine Antwort. Der Blick des Mannes bohrte sich in seinen. Die Kälte, die darin lag, verschlug Kay die Sprache. Seine Vision, seine Lebensträume wurden in der entwertenden Miene des Reederei-Mitarbeiters pulverisiert.
Jäh verließ ihn alle Hoffnung und hinterließ eine große Leere in ihm.
Als er am nächsten Tag unter Aufsicht seine persönlichen Sachen aus der Kammer auf der Wilhelm Florin holte, begegnete ihm noch einmal diese Kälte, die schlimmer war als jeder Winterfrost. Niemand verabschiedete sich, niemand sprach mit ihm, die anderen Lehrlinge waren nicht zu sehen. Sie ließen ihn fallen und erinnerten sich nicht mehr daran, dass er lange Zeit einer von ihnen gewesen war. Kay war froh, dass er nie geglaubt hatte, an Bord Freunde gefunden zu haben. Das waren keine Freunde. Wenigstens diese Enttäuschung blieb ihm erspart.
Er verlor keine Freunde – er kehrte zu ihnen zurück.