20 . Kapitel

Rostock, Juni 1984

D raußen dämmerte es. Kays Wecker zeigte fünf Uhr einundzwanzig an. Eine weitere Nacht ohne Schlaf war überstanden. Er hatte die meiste Zeit mit Grübeln verbracht. Warum? Weswegen? Die in der Welt am häufigsten gestellten Fragen, auf die es kaum Antworten gab. Und doch hatte man eine innere Entgegnung. Die hatte auch Kay. Warum? Weil ihn jemand angeschwärzt hatte! Aus welchem Grund? Neid, Missgunst, Rache? Wer? Der Politoffizier auf dem Schiff? Angestachelt von wem auch immer. Kay kannte weder die Gründe noch den Übeltäter. Er wusste nur, dass es keinen Weg mehr zurück an Bord gab. Keinen Weg mehr, zur See zu fahren. Keinen Weg mehr in die verlockende Freiheit.

Er war am Ende. Sein Leben war verpfuscht.

Welche Arbeit fand ein Matrose an Land? Er stellte sich vor, wie er auf einem Schiff im Hafen stand und mit sehnsüchtigen Augen nach dem Meer Ausschau hielt. Eine berufliche Alternative gab es für ihn nicht.

Kays Welt lag in einzelnen Bruchstücken verstreut um ihn herum. Lähmende Angst und Resignation wechselten sich ab und bildeten eine zerstörerische Allianz. Die Wilhelm Florin war ohne ihn ausgelaufen.

Nicht nur sein Seefahrertraum war geplatzt. Auch seine Freunde waren weg. Die Gruppe zerfiel. Juri und der Prof waren beim Militär. Arne und Hannes in Berlin. Gott sei Dank gab es noch Peggy und die Zwillinge. Zum ersten Mal lebte Kay ohne die große Clique. Er hatte nicht gewusst, wie sich das anfühlte. Sie waren immer da gewesen. Wenn er auf Reisen war, blieben sie vor Ort und erwarteten seine Rückkehr.

Auf einmal war es umgekehrt. Er wartete in Rostock, und seine Kumpels waren nicht erreichbar. Er spürte den Hauch der Kälte, fühlte sich ungeschützt und ohne Rückhalt. Ohne Seefahrt gab es für ihn keine Zukunft in der DDR , und als Büttel der verhassten Regierung zur Volksarmee zu gehen, kam nicht infrage.

Plötzlich hieß es für ihn nicht mehr »da möchte ich hin«, sondern nur noch »hier muss ich weg«.

Und er hatte Glück, dass er Mina hatte.

Er wälzte sich in der durchgeschwitzten Bettwäsche auf den Rücken. Seine Schwester schlief im Stockbett unter ihm. Cora seufzte, als könne sie seine Gedanken lesen, doch sie war in ihren eigenen Träumen gefangen. Er besah sich die vielen Postkarten, die über ihm an der Decke hingen. Sie waren nicht länger ein Versprechen, eine Verheißung für die Zukunft. Sie verhöhnten ihn. Er klaubte die Karten von der Wand und zerriss jede einzelne. Als wolle er sich selbst Schmerzen zufügen. Schmerzen, die ihn daran erinnerten, dass es für ihn nichts Quälenderes gab, als nicht mehr zur See zu fahren.

Schon als kleiner Junge hatten ihn Schiffe fasziniert. Warum schwammen Boote? Warum sanken sie nicht? Wie steuerte man ein Schiff? Er liebte es, mit seinem Vater an der Warnow zu sitzen und sich von ihm die Wellen erklären zu lassen. Woher kamen die Schaumkämme? Warum war Meerwasser salzig? Wie färbte die Sonne es in den schönsten Blautönen? Was ließ die Wasseroberfläche so glitzern, dass man dachte, der liebe Gott begrüße einen persönlich? Er hatte so viele Fragen und sein Vater besaß die Geduld, sie zu beantworten. Seemänner unter sich.

Sein Wecker klingelte, er wälzte sich mühsam von der Matratze und wankte zum Fenster. Eine dichte Wolkendecke überzog den Himmel. Sie hatte sich schon vor Tagen gegen die Sonne durchgesetzt. Ihm war es recht, das Einheitsgrau entsprach seinem wattigen Gefühl. Er hatte einmal gelesen, dass der menschliche Körper wenig Reaktionsmöglichkeiten hätte. Es wäre egal, ob man verliebt sei, Panikattacken habe oder unvorstellbarer Kummer einen peinige. Das Herz raste, man schlief nicht, der Appetit blieb aus, nur die Gedankenwelt erzählte andere Geschichten dazu. Beim Blick in den Badezimmerspiegel versuchte Kay zu ergründen, ob so ein Zweiundzwanzigjähriger aussah, dessen Lebenstraum zerstört war. Blass, ausgemergelt, krank. Er stellte sich auf die Waage. Er hatte es befürchtet. Die letzte Woche hatte ihn erneut Gewicht gekostet. Dreiundsechzig Kilo bei einem Meter vierundachtzig und keine Idee, wie er zunehmen sollte. Er vertrug nicht mal mehr eine Tasse Kaffee.

Der Staat hatte ihn verraten. Ein Staat, den er zu hassen lernte. Sein Körper reagierte.

Die Reederei hatte ihn abgeschoben. Auf der Werft lag die MS Schwerin. Wortkarge Kerle teilten ihn für die Arbeit an Deck ein, gebraucht wurde er nicht. Kurz vor Ende der zweiten quälenden Woche stand ein hutzeliger Mann mit Rundrücken in Anzug und brauner Aktentasche vor ihm und händigte ihm kommentarlos sein Facharbeiterzeugnis aus. Einfach so. Ohne Prüfung auf See. Er riss dem Typen das Zeugnis aus der Hand und knüllte es in die Hosentasche. Es war wertlos, wenn der praktische Teil fehlte. Dem Fremden schien es egal, er zuckte mit den Schultern, raunte, dass Kay sich am nächsten Tag in der Reederei melden solle, drehte sich um und war genauso schnell verschwunden, wie er aufgetaucht war.

Kays kurzes Gastspiel auf der MS Schwerin war damit zu Ende und hatte ihn keinen Schritt weitergebracht. Am nächsten Tag stand er wieder in den Büros der Reederei. Ein anderer Sachbearbeiter, in einem ähnlichen Büro dieser Legebatterie, riet ihm, einen Aufhebungsvertrag zu unterschreiben. Kay weigerte sich. Das hatte er mit seinem Vater und der indischen Reisegruppe so besprochen. Alle sagten, er dürfe nicht nachgeben, müsse Forderungen stellen. Und gleichzeitig keine Angriffsfläche bieten. Was immer das heißen mochte.

Er spürte, dass seine Wut ihm die Kraft gab, sich zu wehren.

»Ich unterschreibe nichts. Ich bin Seemann. Ich will zur See fahren.«

Dem Sachbearbeiter-Soldaten verschlug es die Sprache, und er warf Kay aus dem Büro. Nicht ohne zu drohen, dass dieser Auftritt Folgen haben würde, er würde von ihm hören.

Als Kay das Gebäude verließ, verspürte er die winzige Genugtuung, dass er nicht eingeknickt war. Der Kerl hatte sich mächtig aufgeregt – ein Zeichen, dass Sachbearbeiter-Soldaten auch nur Menschen waren.

Drei Tage später erhielt Kay ein Schreiben mit der Post, in dem ihm angeboten wurde, als Haushandwerker auf dem Wohnschiff Fritz Heckert in Stralsund anzuheuern. Das oder der Aufhebungsvertrag. Arbeitsantritt sei am nächsten Montag um neun Uhr in Stralsund. Sie ließen ihm keine Zeit, sich zu entscheiden. Kay nahm an. Was blieb ihm auch übrig? Er brauchte erst einen Plan, eine Idee, wie er wieder aufs Meer kommen könnte.

Die Fritz Heckert war früher einmal ein Luxus-Kreuzfahrtschiff gewesen, das knapp vierhundert Passagiere auf acht Decks beherbergt hatte und jahrelang durch die Weltmeere gefahren war. Heute lag es fest im Seehafen von Stralsund vertäut, weil gravierende Konstruktionsmängel aufgefallen waren. Nunmehr war es ein Wohnheim der Reederei.

Ein rasanter Abstieg, dachte Kay, sowohl für das Schiff als auch für mich.

Noch am gleichen Abend trat er die zweistündige Fahrt mit dem Zug von Rostock nach Stralsund an.

Er wurde als Maler eingeteilt und sollte jeder Kammer einen neuen Anstrich verpassen. Das würde Monate dauern und war sinnlos, denn es hieß, ein Schiff zu verschönern, das niemand brauchte. Er schminkte eine Leiche.

Wenigstens waren seine Leidensgenossen erträglich. Auch die Klempner und Rohrschlosser. Und vor allem die Kollegen aus der Kantine und der Bar. Die Malerclique entwickelte sich zu einem eingeschworenen Haufen, um sich eine entspannte Zeit zu gönnen. Sich auf einem der vielen Wohndecks zu verstecken war leicht, und so war der Brigadier immer auf der Suche nach ihnen. Kay trainierte sich regelrecht in Ausreden: Er war auf Toilette, er hatte frische Farbe geholt, er hatte einem Kollegen am anderen Ende des Schiffes geholfen.

Warum auch nicht? Sie hatten kein Druckmittel mehr gegen ihn in der Hand. Er saß bis zu den Knien im Sumpf und hatte keine Aussicht, sein Seefahrtsbuch zurückzubekommen. Wer wollte ihm drohen? Und vor allem womit?

Die Tage auf der Heckert verbrachte er mit Grübeln, am Wochenende fuhr er zurück nach Rostock. Mina kam vorbei, wenn es ihr Schichtdienstplan zuließ, und versuchte, ihm Trost zu sein. Aber es gab keine Linderung. Auch die Clique probierte, ihn abzulenken. Sie schleppten ihn mit in den Mensaklub, um sich zu betrinken. Aber Kay fand keine Beruhigung im Alkohol. Im Gegenteil. Sein Magen spielte nicht mehr mit, und er war sich zu schade, den Staat gewinnen zu lassen, indem er sich dem Suff hingab. So viel Widerstand war noch in ihm. Er wollte nüchtern sein, um den Schmerz zu spüren, jeden einzelnen Nadelstich. Er konservierte den Schmerz regelrecht, um ihn später in Wut zu kanalisieren und dann anzugreifen.

Allein, ihm fehlte die Kraft, einen Plan zu entwickeln.

Als Juri in seinem ersten Urlaub von der NVA nach Hause kam, klingelte er am gleichen Abend bei Kay. Er sagte nichts, marschierte direkt in Kays Zimmer und setzte sich aufs Bett.

»Was ist passiert?«, fragte er.

Offensichtlich wusste er Bescheid. Wahrscheinlich hatte Romy ihn auf dem Laufenden gehalten, denn er selbst hatte keine Lust gehabt, Juri zu schreiben.

»Ich weiß es nicht. Niemand spricht mit mir, ich bekomme keine Antworten.« Kays resignierter Tonfall ließ Juri schweigen.

Nach einer Weile fragte er: »Wie geht es weiter?«

Kay zuckte mit den Schultern. »Ich arbeite auf der Fritz Heckert. Keine Ahnung, was ich da soll.«

Juri runzelte die Stirn. »Halt durch! Irgendwas ist da total schiefgelaufen. Ich weiß, dass du ein Guter bist. Irgendwann wirst du wieder zur See fahren.«

»Meinst du?« Kay glaubte nicht daran. Dennoch half es, zu hören, dass Juri optimistisch war. Freunde erkannten am ehesten, wenn man in der Krise steckte. Aber wie sollte er durchhalten, kämpfen, sein Leben gestalten, wenn er nicht wusste, was sie ihm vorwarfen?

Mit dem Arbeitsplatz um die Welt. So hatten sie getönt, geworben und versprochen. Nun hatten sie ihn ohne Vorwarnung und ohne Grund trockengelegt.

Kay wusste nicht, wohin mit seinen Gefühlen. Erstaunt registrierte er, dass auch Juri betreten zu Boden blickte. Sie waren alle ungeübt darin, mit heftigen Emotionen umzugehen. Sie hatten nicht gelernt, mit unbändiger Freude, überschäumender Wut oder verzweifelter Traurigkeit umzugehen. Man hatte ihnen nur beigebracht, nicht aufzufallen, denn in der DDR hatte alles ordentlich und gesittet abzulaufen. Seit frühester Jugend waren sie zur Zurückhaltung und Anpassung ermahnt worden, alles lief auf Normalnull. Kein Wunder, dass sie in den letzten Jahren so oft ihre Grenzen ausgetestet hatten. Irgendwo mussten sie ja hin mit ihren Gefühlen.

Kay war nicht länger bereit, sich anzupassen. In ihm war etwas zerbrochen. Und es ärgerte ihn, wenn jemand versuchte, seine Emotionen zu relativieren. So war es auch zu einem heftigen Streit mit Mina gekommen. Er war dankbar, dass sie für ihn da war, aber es ärgerte ihn, dass sie ihn nie nach seinen Empfindungen fragte. Sie gehorchte dem Staat, war ruhig und gefügig. Spürte sie denn gar keinen Ärger oder Unmut? Regte sich in ihr denn nie der Widerstand? Er fand seine Wut berechtigt, seine Angst vor der Zukunft legitim und nachvollziehbar, und es wurmte ihn, dass Mina ihm nicht beipflichtete. Er beschwerte sich. Sie stand seiner Kritik hilflos gegenüber und schwieg. Es war verfahren, und das musste sich schnell ändern.