Rostock, Juni 1984
J uri hatte sich in seinem Urlaub von der Nationalen Volksarmee viel vorgenommen. Er hatte von den dramatischen Ereignissen um Kay und dessen Seefahrtsbuch gehört und wollte alles bis ins kleinste Detail wissen. Mina hatte Romy erzählt, dass Kays Träume zerstört und er in tiefste Verzweiflung gesunken war. Er gäbe sich zwar Mühe, aber sei nicht mehr der Alte. Tatsächlich hatte auch ihn Kays Anblick erschreckt. Tiefe Augenringe, knochendürr und eine Körpersprache wie ein depressiver Greis. Wie munterte man einen trockengelegten Seemann auf?
Juri saß in seiner neuen Wohnung. In der frisch gestrichenen Küche knabberte er an einer Creck-Süßtafel. Er fingerte sich noch ein zweites Stück heraus und wickelte das Papier wieder darum. Nicht zu viel auf einmal, er wollte ja nicht fett werden, jetzt, wo er in den Hafen der Ehe einlief. Leider war es mit seinem Heiratsantrag nicht so spektakulär gelaufen, wie er es sich vorgestellt hatte. Er war urplötzlich beim Frühstück damit herausgeplatzt und hatte Romy um ihre Hand gebeten. Er wusste selbst nicht, was in ihn gefahren war. Aber jetzt war er stolz auf diesen Ausbruch. Ja, stolz auf das, was Romy und er sich in kurzer Zeit aufgebaut hatten. Sie bewohnten endlich eigene vier Wände: zwei Zimmer, Wohnküche, Bad. Sogar einen winzigen Balkon gab es.
Die Krönung ihrer Bemühungen würde mit der Hochzeit am Nikolaustag folgen. Romy kümmerte sich begeistert um die Vorbereitungen, und auch er fieberte der Party entgegen. Bis dahin musste das Seemännchen wieder auf dem Damm sein. Was half Kay aus der Krise?
Eine neue Seereise. Fehlanzeige.
Ein eigenes Boot. Haha.
Eine eigene Wohnung? Ein Liebesnest für Kay und Mina? Juri spürte am eigenen Leib, wie erholsam seine vier Wände waren. Endlich niemand mehr, der einem vorschrieb, was er tun oder lassen sollte. Platz für Romy und ihn und vor allem Raum für eigene Entscheidungen, die seine Eltern nichts mehr angingen.
Wie kam er an ein Zuhause für Kay? Es war schon für ihn schwierig genug und ein Wunder gewesen, dass die Wohnungsbaugenossenschaft ihnen eine Wohnung zugeteilt hatte, bevor er mit Romy verheiratet war. Er hatte sein ganzes Verführungsrepertoire aufwenden müssen, um die Sachbearbeiterin der Wohnungsbaugenossenschaft zu bezirzen. Das würde nicht noch einmal funktionieren. Eine Hausbesetzerszene wie in Berlin gab es in Rostock leider nur in einem überschaubaren Umfang. Aber es war möglich, und es war eine Idee. Er brauchte noch in diesem Sommer eine Wohnung für Kay und Mina. Schließlich hielt es niemand aus, ständig von diesem depressiven Miesepeter umgeben zu sein, er wollte seinen gut gelaunten, ewig optimistischen besten Freund zurück.
Er stand auf und ließ Wasser in den Teekessel, um sich einen zweiten Kaffee zu brühen.
Ja, er hatte für jedes Problem eine Lösung.
Er wollte seine Idee mit den Frauen besprechen. Es war ohnehin Zeit für seinen Antrittsbesuch bei Peggy und ihrem Baby. Der Kleine war im April geboren und er hatte ihn noch nicht sehen können. Romy drängte schon seit Tagen darauf, dass er endlich zu Peggy fahren sollte. Hoffentlich war sie nicht genauso erpicht darauf, sofort etwas Kleines zu produzieren. Er war noch nicht bereit für ein Kind und die damit verbundene Verantwortung.
Aber wann war man das schon …