Rostock, Juni 1984
E s klingelte, gerade, als das Baby eingeschlafen war. Peggy eilte mit dem Säugling im Arm zur Tür, um ein zweites Läuten zu verhindern. Sie war erschöpft und hatte sich mit Murmel hinlegen wollen und etwas schlafen, denn neuerdings bestimmte das Baby, wann und ob sie schlief.
In der Tür standen Romy und Juri. Romy strahlte sie so lieb an, dass ihr das Herz aufging und sie den Gedanken an Schlaf verbannte: »Ihr kommt genau richtig, Murmel schläft.«
»Heißt das Baby wirklich Murmel?«, fragte Juri irritiert.
Natürlich hatte sich schnell rumgesprochen, dass Arne und Peggy sich etwas ganz Besonderes ausgedacht hatten. Nicht jedem gefiel diese Idee, aber der Kleine war nun mal innerhalb kürzester Zeit aus ihr herausgekullert und Sekunden nach der Geburt wieder eingeschlafen wie ein Murmeltier. Der Kleine war etwas Besonders und brauchte einen einzigartigen Namen.
Peggy zog sie herein, damit sie überhaupt durch die Tür kamen.
Sie wohnte noch immer bei ihrem Vater, und es gab wenig Platz für Besuch. Arne hatte sich nicht um eine neue Wohnung bemüht, denn er wollte ja nach Berlin ziehen. Die Jungs von der indischen Reisegruppe ließen ihn spüren, dass sie nicht viel von seinen Plänen hielten. Peggy war inzwischen so eine Art Mutter der Kompanie geworden, und seit der Schwangerschaft weckte sie den Beschützerinstinkt in ihnen.
Sie hockten sich zu dritt auf das verschlissene Sofa in ihrem kargen Zimmer mit der hässlichen Mustertapete des VEB Tapetenwerk Leipzig, und Peggy drückte Romy das Bündel in den Arm. Romy starrte das Baby fasziniert an.
»Die größten Wunder sind so klein«, sagte sie leise.
Peggy wusste genau, was sie meinte, doch noch bevor sie ihr zustimmen konnte, schaltete sich Juri ein. Er fragte nach Arne. War ja klar. Peggy war sich nur nicht sicher, ob ihn das wirklich interessierte oder ob er davon ablenken wollte, dass Romy sich so für das Baby begeisterte. Arne war in Berlin, um Hannes zu besuchen.
»Stellt euch vor, ich bekomme die Wohnung meines Onkels«, verkündete sie. »Er tauscht mit mir die Wohnung und kümmert sich um meinen Vater. Das Baby schreit zu viel, und Papa dreht bald durch. Gestern hat er uns beinahe rausgeschmissen.« Sie lächelte müde. Ihr drohte die Situation über den Kopf zu wachsen. Der sterbende Vater, die Geburt, das fordernde Kind und ein nicht zu bändigender Arne, der durch ständige Abwesenheit glänzte.
»Dann bist du von der Pflege deines Vaters entlastet«, sagte Romy. »Du kümmerst dich eh um jeden.«
»Ach, Papa ist kein Problem. Wenn Murmel erst einen Rhythmus hat, wird es besser. Wir schlafen nur zu wenig.«
»Meinst du, Arne hat Kontakte in die Hausbesetzerszene in Rostock?«, fragte Juri.
»Nein, das ist nicht nötig, ich bekomme doch die Wohnung von meinem Onkel«, erwiderte sie.
»Nein, ich meinte keine Wohnung für dich, sondern eine Bleibe für unser Seemännchen.«
Das überraschte Peggy. Juri suchte eine Wohnung für Kay? Selbst Romy wandte sich für eine Sekunde von dem Baby ab und sah ihren Freund mit gerunzelter Stirn an. »Kay?«, fragte sie.
»Für Kay und Mina. Der Mann braucht mal ein Erfolgserlebnis.«
Die beiden Frauen sahen sich an. Nickten.
»Du hast recht«, sagte Peggy. »Ich hätte nie für möglich gehalten, dass er seinen ganzen Schwung und Optimismus verliert.« Sie seufzte. »Wir verstehen wohl gar nicht, was ihm die Seefahrt bedeutet hat.«
»Er hat gesagt, dass er auf der Stelle tritt«, ergänzte Romy. »Er meinte, seine Freunde zögen an ihm vorbei. Er war nicht aufzumuntern.« Sie flüsterte beinahe, um Murmel nicht zu stören. »Er tut mir so leid!«
Peggy seufzte tiefer. Jeder hatte sein Päckchen zu tragen, und sie hatte Kay vernachlässigt, aber das ließ sich ändern.
»Na ja, ein bisschen hat er recht, oder? Ich meine, verraten wir unser Geheimnis?«, fragte Juri und grinste Romy an.
Die lächelte selig zurück und wandte sich an Peggy.
»Hast du Nikolaus schon was vor? Falls nicht, komm zu unserer Hochzeit!«
»Ihr habt einen Termin? Glückwunsch!« Peggy lächelte. Sie hatte damit gerechnet. Es war klar, dass Juri Fakten schaffte. Er wollte wie immer der Erste sein, sonst war er nicht glücklich. Sie war sich aber nicht sicher, ob er Romy ernsthaft liebte. Andererseits waren schon ganz andere Paare glücklich geworden, und sie und Arne … Offenbar hatte sie einen Moment zu lange gezögert, denn Juri sah sie gekränkt an und erklärte in einem gönnerhaften Ton, dass sie sicher auch bald einen Heiratsantrag von Arne bekäme.
Peggy stutzte. »Du meinst, ich brauche einen Heiratsantrag?« Mein Gott, wie wenig er sie kannte. Sie hatte überlegt, Arne selbst zu fragen, und nachdem sie sich dagegen entschieden hatte, kam eine Heirat nicht mehr infrage. Sie hatte ein Kind von Arne. Mehr ging nicht. Und sie hatte endlich verstanden, dass sie Arne nicht mit einem Blatt Papier an sich binden konnte. Sie war in seinem Herzen, und diesen Platz gäbe sie nie wieder auf.
Juri nickte.
Peggy griff nach dem Baby und sagte bestimmt: »Wenn er um meine Hand anhalten würde, würde ich Nein sagen.«