Stralsund, Februar 1985
D ie Tage als Maler auf der Fritz Heckert glichen einer Atlantiküberquerung – jeden Tag nur Ozean, so weit das Auge reichte. Nur dass seine Eintönigkeit aus dem immer gleichen Blick auf die Mole von Stralsund bestand.
Zeitweise verlor Kay seinen Tagesrhythmus, weil der Alkohol inzwischen doch zum festen Bestandteil des Frühstücks avanciert war. Er vertrug ihn nicht, sein Magen war angegriffen, und die neue Lebenssituation ätzte wie Säure in seinem Bauch. Er ekelte sich vor sich selbst. Er gab es nur ungern zu, aber er verlor den Halt, rutschte Stufe um Stufe die Lebensleiter herunter. Er hatte alle Pläne, Überlegungen und Ideen verworfen, die ihm einfielen. Es waren nichts als kindisch-trotzige Fantasien.
Seit Juris Hochzeit an Nikolaus 1984 war er nicht mehr in Rostock gewesen. Auch das Fest hatte er wie unter einer Glocke wahrgenommen. Klar, er freute sich für Juri, aber gleich heiraten? Juri hatte sich mit der DDR arrangiert, sein Studium vor sich. Kay hingegen blickte in ein abgrundtief schwarzes Loch. Kurz vor Weihnachten war er zur Heckert aufgebrochen und zu faul gewesen, die Heimfahrt mit dem Zug anzutreten. So war er auch an den Wochenenden und über den Jahreswechsel an Bord geblieben. Er sah keinen Sinn mehr darin, sich für irgendetwas zu begeistern. Die Tage verschwammen im Alkoholdunst. Die negativen Gedanken hatten ihn fest im Griff. Er musste sich zusammenreißen und etwas ändern, sonst würde er für immer versinken.
Am Freitag erwischte er einen frühen Zug nach Rostock. Er wollte endlich wieder ausgiebig mit der indischen Reisegruppe quatschen. Der Prof und Juri hatten Urlaub von ihrem Militärdienst und verbrachten ihn in Rostock. Er hatte sie nicht einmal begrüßt. Das sollte sich heute ändern.
Am frühen Abend brach er zum Lindeneck auf. Die Temperatur war auf minus fünf Grad gefallen, und mit jedem Ausatmen sah er weiße Rauchwölkchen in den klaren Himmel steigen.
Zwar war das Lindeneck nicht mehr der angesagte Treffpunkt, aber er wusste nicht, wo er die indische Reisegruppe sonst antreffen konnte, denn der Mensaklub öffnete erst am späten Abend. Irgendjemand würde schon da sein. Es war ein friedlicher Nachmittag mit seinen Eltern gewesen. Sie hatten sich über das Wiedersehen gefreut, ihre Ängste und Sorgen heruntergeschluckt und tapfer gelächelt. Sie unterstützten ihn und seine Ideen, sich neu zu qualifizieren. Sein Vater schlug ihm vor, die Reederei anzuschreiben und um einen Schiffsführerlehrgang zu bitten. Vielleicht führe er anschließend, wenn schon nicht auf den Weltmeeren, zumindest auf kleinem Wasser. Kay hatte desinteressiert genickt, aber er ahnte, dass sein Vater nicht lockerlassen würde.
Er steckte die klammen Finger tief in die Taschen und bog um die letzte Ecke vor dem Lindeneck, blieb wie angewurzelt stehen. Zunächst verstand er nicht, was er sah. Er starrte auf die Seite mit den hohen Linden und auf die Holzbank, die dort stand. Auf das junge Pärchen, das sich trotz der eisigen Kälte hingebungsvoll küsste. Ein Knäuel aus sich umschlingenden Armen, dicken Jacken, Schals, Handschuhen und Mützen. Wer um Gottes willen saß bei Minusgraden auf einer Bank zum Knutschen?
Dabei war es vollkommen egal, welche Jahreszeit war. Nur war es das Einzige, was er verstand. Die restlichen Eindrücke, die seine Augen ihm übermittelten, waren unverständlich. Er sah ein Liebespaar auf einer Bank. Küssend.
Mina!
Ihm schwindelte. Träumte er? Er irrte sich, oder?
Er starrte geradeaus ins Leere.
Er hatte so viel durchgemacht, das würde sie ihm niemals antun. Sie wusste, wie schlecht es ihm erging. Sie hätte ihm sofort gesagt, wenn etwas nicht stimmte. Aber sie war es. Es gab keinen Zweifel. Mina küsste einen anderen Kerl! Auf dieser Bank. Einfach so.
Es war nicht der Anblick, seine eigene Freundin beim Fremdknutschen zu erwischen, der ihm die Magensäure bis in den Mund aufsteigen ließ. Es war … er lehnte sich an den nächstgelegenen Baum, damit ihn niemand sah. Er schämte sich.
Er schämte sich? Weshalb denn? Er küsste doch keine andere.
Was ihm den Boden unter den Füßen wegzog, war der Mann, mit dem Mina so innig knutschte.
Dieser Mann, den er so gut kannte. Dem er vertraute. Den er bewunderte.
Der Prof.
Mina und der Prof.
Mina und der Prof.
Mina und der Prof.
Der Gedanke drehte sich immer schneller.