25 . Kapitel

Rostock, Februar 1985

E s dauerte eine Weile, bis Kays Zittern nachließ.

Mina und der Prof waren inzwischen im Lindeneck verschwunden.

Hatte er nicht genug Probleme? Was taten sie ihm an? Jetzt stand er lausig in Lee.

Es war offensichtlich, was hier vor sich ging. Nur hatten sie vergessen, ihm davon zu berichten. Jetzt begriff er, warum Mina sich so selten gemeldet hatte. Na gut, er hatte sie vernachlässigt. Das Liebeswochenende auf der Fritz Heckert war am Ende doch nicht der Anfang einer besseren Zeit geworden. Und ja, Liebe erlitt auch mal Schiffbruch, aber war das Grund genug, ihn mit seinem besten Freund zu betrügen?

Niemals hätte er dem Prof das zugetraut. Hatte er sich in ihrer Freundschaft geirrt? Zeigte der Prof nun sein wahres Gesicht? Kay hatte mit eigenen Augen gesehen, was an Eindeutigkeit nicht mehr zu überbieten war.

Er konnte der Konfrontation keine Minute länger ausweichen.

Mit schleppendem Schritt näherte er sich dem Eingang der Kneipe. War er in der Lage, die Wahrheit auszuhalten?

Er öffnete die Tür und sah durch den blauen Dunst des Zigarettenqualms die indische Reisegruppe am Stammtisch sitzen. Heute hatte sich die kleine Runde versammelt: der Prof, Mina und die Zwillinge. Wo war Juri, wenn man ihn brauchte?

Er holte tief Luft.

Ricksen und Alexander prosteten ihm erfreut zu. Klar, er war wochenlang nicht hier gewesen. Über den Schock der Entdeckung hatte er vergessen, weswegen er gekommen war. Er klopfte zur Begrüßung auf den Tisch.

Er sah dem Prof in die Augen. Er entdeckte nichts anderes darin als ehrliche Freude, ihn wiederzusehen. So viel zu seiner Menschenkenntnis. Zu seiner Intuition. Vielleicht war er unaufmerksam gewesen, aber der Prof war ein Verräter!

Und Mina? Sie saß auf der langen Bank zwischen dem Prof und den Zwillingen eingeklemmt und unternahm keine Anstalten, sich daraus zu befreien, um ihn zu begrüßen. Das war Bestätigung genug, oder?

Frau Niekrenz kam an den Tisch und lächelte ihn aufmunternd an. »Pils?«

»Nein, danke, ich gehe gleich wieder.« Sein Herz raste.

Grölende Buhrufe. Einzig der Prof schien zu ahnen, dass etwas passiert war, denn sein Lachen erlosch. Offenbar funktionierte seine Intuition besser.

»Willst du mir nichts sagen?«, fragte Kay Mina und sah sie über die Köpfe der anderen hinweg direkt an. »Etwas, das ich dringend wissen sollte?«

»Wieso?« Ihre Stimme war so dünn wie ihr Lächeln.

Kay wandte sich an den Prof. »Und du?«

Der Prof musterte ihn. Er stand auf. Wappnete er sich? Kay wusste es nicht. Aber er spürte, dass der Prof ihn nicht mit einer Lüge oder eine Ausrede entwerten würde. Es war still geworden. Ricksen und Alexander starrten mit offenem Mund vor sich hin. Mina warf dem Prof einen kurzen Blick zu. Auch sie ahnte, was kommen würde. Das machte Kay noch wütender. Jetzt raste nicht nur sein Herz, sondern die Beine brannten. Er ballte eine Hand zur Faust. Warum standen die Freunde nicht zueinander? Warum ließen sie es zu, dass sich eine Frau zwischen sie stellte?

»Du bist angefressen«, stellte der Prof sachlich fest. Seiner Stimme war nicht anzuhören, was er fühlte. Aber er schob sich nervös die Nickelbrille höher auf die Nase. »Es ist passiert. Ich hätte erst mit dir sprechen müssen.« Er zögerte. »Ich liebe sie. Du nicht.«

»Da irrst du dich! Aber selbst wenn es so wäre, gibt es dir nicht das Recht …«, seine Stimme versagte beinahe. »Und du nennst dich meinen Freund?«

»Ich bin dein Freund«, antwortete der Prof und runzelte die Stirn. »Immer gewesen.« Er sah aus, als wäre er verwirrt, dass Kay ihm diese Frage stellte.

»So einen Freund brauche ich nicht. Ich brauche euch beide nicht.« Kay erkannte an dem Flackern in den Augen des Profs, wie sehr ihn die Wucht seiner Worte verletzte.

»Ho, ho«, sagte Ricksen scharf und stand ebenfalls auf. »Beruhigt euch.« Er hob die Hände, als wolle er signalisieren, dass er unbewaffnet und in friedlicher Mission unterwegs war.

Die Stille, die einsetzte, fühlte sich bleischwer an. Mehr gab es nicht zu sagen. Kay drehte sich wortlos um und verließ das Lindeneck.

Er hetzte ziellos durch die Straßen. Er rannte, um sein rasendes Herz zu beruhigen, die Beine zu beschäftigen und die Kälte zu vertreiben. Wäre er bloß nicht nach Rostock gefahren! Auf der anderen Seite wäre es weitaus schlimmer gewesen, wenn über Wochen und Monate alle Bescheid gewusst hätten, nur er nicht. Warum hatte Mina nichts gesagt? Niemand von den Jungs ihm einen Tipp gegeben? Er war nicht in Rostock gewesen, na und? Sie hätten auch den Weg nach Stralsund antreten können. Und Juri? Warum hatte Juri ihm keine Rückendeckung gegeben? Wo war er?

Er brauchte seinen Freund. Und jetzt wusste er, wohin ihn seine Beine trugen. Er war nur noch eine Querstraße von Juris neuer Wohnung entfernt. Kay hatte keinen Schimmer, wie er da rangekommen war, doch offenbar hatte er wieder seinen Charme spielen lassen. Er hatte Juri noch nicht mal beglückwünscht, geschweige denn die Wohnung angesehen. Okay, er hatte sich gehen lassen und die Kumpels vernachlässigt. Das würde ab heute ein Ende haben.

Kay stand vor einem typischen Plattenbau im Südring. Das musste Juris neue Bleibe sein. Er suchte auf den Klingelschildern nach seinem Namen und fand ihn tatsächlich gleich im ersten Stock. Er klingelte. Nichts. Er klingelte noch einmal. Ließ den Finger länger auf der Klingel liegen. Mist. Wo war Juri? Kay setzte sich auf die Stufen vor der Eingangstür. Irgendwann würde er schon nach Hause kommen. Und wenn nicht, geschah es ihm recht, wenn er seinen besten Kumpel erfroren auf den Treppenstufen vorfand.

Er dachte an den Prof und seinem waidwunden Blick. Selbst schuld. Er wusste, wie empfindlich Kay auf Lügen reagierte. Hätte er nur einen Ton gesagt, dann hätte er um Mina kämpfen können.

In diesem Moment sah er Juri die Straße heraufkommen. Ein Einkaufsnetz in der Hand. War er ein braver Hausmann geworden? Fehlte nur noch, dass er pünktlich Abendessen auf den Tisch brachte. Was war in seiner Abwesenheit nur mit den Jungs passiert?

»Ahoi!«, rief er ihm entgegen.

»Kennen wir uns?«, fragte Juri.

Kay war nicht in der Stimmung für Frotzeleien und winkte ab. »Ich muss reden«, sagte er. »Dringend!«

Kay wusste nicht, woran es lag, aber er sah Juri sofort an, dass er über Mina und den Prof im Bilde war und dass er ahnte, dass Kay genau deswegen auf seinen Treppenstufen saß. Sein Kumpel schaute ihm in die Augen, und er sah, dass Juri kein Mitleid mit ihm hatte. Warum verdammt noch mal hatten sich alle gegen ihn verschworen?

»Hättest ja mal Laut geben können, dann wäre ich nicht ins offene Messer gelaufen.« Kay kickte einen Kiesel mit dem Fuß weg.

»Auf meiner Hochzeit. Da fing es an.«

Kay glaubte, sich verhört zu haben. Auf der Hochzeit letztes Jahr im Dezember schon? Er hatte nichts mitbekommen. Er erinnerte sich nur, dass er betrunken war auf der Feier. An diesem Abend hatte der Prof auf Mina geschielt? Drei Monate war das her.

»Ändert nichts an den Tatsachen. Sie hat eh nicht zu dir gepasst«, fuhr Juri unbeirrt fort.

»Nee, klar, hinterher haust du so einem Spruch raus.«

Juri stellte das Netz ab, zog seine Handschuhe umständlich aus und griff in seine Manteltasche. Er klaubte mit steifen Fingern eine arg ramponierte Zigarettenpackung hervor und hielt sie ihm hin.

Kay lehnte ab. Es war zum Verrücktwerden, alle kamen vorwärts, wuchsen über sich hinaus, nur er kam sich vor wie ein dämliches Soufflé, bei dem jemand die Backofentür zu früh geöffnet hatte und das mit einem leisen Plopp in sich zusammengefallen war.

Juri hielt das Feuerzeug an die Zigarette, inhalierte tief und setzte sich neben Kay.

»Seit wann rauchst du?«, fragte Kay.

Juri grinste nur. Eine Weile schwiegen sie. Und langsam beruhigte sich Kay ein wenig.

»Als Seemann brauchst du in der Heimat keine Braut«, sagte Juri.

Kay verzog den Mund. »Bin ja kein Seemann mehr!«

Juri pustete Rauchwölkchen in die Luft. »Pass nur auf, dass eine Frauengeschichte nicht unsere jahrelange Freundschaft auseinanderbringt. Das ist keine Braut wert.«

Stimmte zwar, aber Kay war nicht besänftigt.

Juri trat den Zigarettenstummel aus und stand auf. »Ich erfriere, wenn ich noch eine Sekunde länger hier sitzen bleibe. Sei kein Frosch. Bleib zum Essen, du bist immer noch so spack. Außerdem arbeite ich schon an einer Lösung. Ich erzähl’s dir oben. Komm!«