26 . Kapitel

OstBerlin, März 1985

H annes stand im Türrahmen und sah auf Kay hinunter. Der schlief den dritten Tag in seinem Schlafsack auf dem Sofa in Hannes’ Wohnung. So bedrückt hatte er Kay noch nie erlebt. Sein Kumpel war derart abgemagert, dass seine Hüftknochen durch die Jeans hervortraten, sein Bauch so eingefallen, dass er ständig neue Löcher in den Gürtel stanzte. Er zog trotz der sommerlichen Temperaturen keine kurzen Hosen mehr an, weil seine Beine nur noch Stäbchen waren und er sich schämte. Kay verhungerte, während sie ihm dabei zusahen.

Juri hatte Kay nach Berlin gebracht. Kay brauche Luftveränderung, hatte er gesagt, die Trennung radiere ihn aus. Der Ton in Juris Stimme genügte Hannes, um zu kapieren, dass damit nicht Mina gemeint war, sondern der Prof.

Hannes war ratlos. Seine bisherigen Versuche, Kay zu trösten, waren kläglich gescheitert. Klar, der Prof hätte ihm Mina nicht wegschnappen dürfen. Aber herrje, es war ein Mädchen. Kay würde in seinem Leben genug Weiber treffen und bald eine andere lieben. Die Überreaktion, dem Prof die Freundschaft aufzukündigen, stand in keinem Verhältnis dazu. Und Hannes war sich sicher, dass es anders gekommen wäre, hätte dieser verdammte Staat Kay nicht das Seefahrtsbuch weggenommen. Das war der heikle Punkt. Das war es, was ihn bis ins Mark getroffen hatte. Er, der immer an das Gute glaubte und dadurch so verdammt verletzlich war. Die Sache mit dem Prof und Mina kam einfach zum falschen Zeitpunkt obendrauf.

Heute Mittag waren die Zwillinge für einen Kurzbesuch eingetroffen, um mit ihm zu sprechen. Vielleicht würden sie gemeinsam einen Weg aus Kays Depression finden.

»Seemännchen, aufwachen. Du verpennst den ganzen Tag.« Hannes zog an Kays Schlafsack. »Steh auf, die Zwillinge haben gekocht!«

Kay grunzte, drehte sich auf den Rücken und öffnete die Augen. »Wann sind die denn gekommen?«

»Heute Mittag. Die beiden haben Redebedarf.«

Kay schälte sich aus dem Schlafsack und zog sich einen Pullover über. Hannes wandte sich ab, er wollte Kays Rippen nicht sehen.

Alexander hatte Nudeln mit Zwiebeln und Tomaten gezaubert, die wirklich lecker schmeckten. Ich sollte die Zwillinge öfter einladen, dachte Hannes, da spare ich sogar die Kosten für Essen.

»Du kochst richtig gut«, lobte er und stach mit der Gabel in Alexanders Richtung. Der sah mit leerer Miene auf die Nudeln. Was war ihm denn für eine Laus über die Leber gelaufen? Hannes verteilte selten Komplimente, und Alexander hätte sich geehrt fühlen sollen.

»Ich weiß, es ist blöd«, murmelte Alexander fahrig, »aber wir haben ein fettes Problem. Hilfst du uns?«

Hannes runzelte die Stirn. In welche Bredouille hatten sich die beiden wieder gebracht? »Spuck’s aus!«

»Wir haben … wir haben einen Einberufungsbefehl für die NVA

Stille.

Hannes’ Augenlid zuckte. Wieso ließen die Zwillinge eine solche Bombe ohne Vorankündigung platzen?

»Uns bleibt keine Wahl. Wir machen rüber«, sagte Ricksen mit einem seltsam entschlossenen Tonfall. »Zu Sascha. Aber wir schaffen es nicht über die Mauer. Die Sperr- und Selbstschussanlagen im Todesstreifen sind unüberwindbar. Und erst die verdammten Köter. Am Ende schießen uns die Grenzer ab.« Er schob seinen Teller von sich, ihm war offensichtlich der Appetit vergangen.

Hannes bemerkte erst jetzt, wie resigniert Ricksen aussah, und er wusste plötzlich, dass die Zwillinge bereit waren, das Unmögliche zu probieren.

»Seid ihr irre?«, rief Kay. »Denkt ihr, ihr könnt mal so eben auf Kommando türmen? Das haben schon ganz andere versucht!«

Ricksen zuckte mit den Schultern.

»Und sie erschießen euch auch nicht. Ganz einfach, weil ihr nicht hingeht«, legte Kay nach.

»Wir müssen weg!«, echauffierte sich Alexander.

»Scheiße!« Hannes hielt es nicht länger aus. »Wenn ihr erst bei der Armee seid, seid ihr verloren. Ihr schafft das nicht … ihr … müsst wirklich weg.« Er warf seine Gabel zur Seite. Sich die Zwillinge bei der Armee vorzustellen, überstieg seine Fantasie. Aber sich die beiden als Flüchtlinge an der Mauer auszumalen, war noch unvorstellbarer.

»Wir brauchen eine Idee, eine Strategie, irgendwas.« Ricksen klang kleinlaut. »Wir haben keine Kraft mehr, in diesem blöden Heizkraftwerk zu arbeiten. Ehrlich nicht.«

»Letzten Sommer sind doch über fünfzig DDR -Bürger in die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in Ostberlin eingedrungen. Erinnert ihr euch?«, murmelte Kay.

Hannes spürte, dass das ein wichtiger Gedanke war, ohne dass er wusste, worauf Kay hinauswollte.

»Sie wollten ihre Ausreise erzwingen … ich weiß, es hat nicht geklappt. Aber sie sind straffrei aus der Sache rausgekommen, und angeblich hat sich die BRD dafür eingesetzt, dass ihre Ausreiseanträge zügig bearbeitet werden.«

»Aber wir haben gar keinen Ausreiseantrag gestellt«, entgegnete Alexander.

»Unterbrich ihn nicht«, ging Hannes schroff dazwischen. Kays Gedanke war interessant. Vielleicht eine Möglichkeit für die Zwillinge. »Weißt du, ob sie tatsächlich ausgereist sind?«

Kay zuckte mit den Schultern. »Ich habe später gelesen, dass die Ständige Vertretung die Sicherheitsmaßnahmen verschärft hat, damit das nicht wieder passiert. Sie wollen sich nicht mit der DDR anlegen.«

»Dann hilft uns deine Idee auch nicht weiter«, nörgelte Alexander.

»Taucht erst mal in Berlin unter«, schlug Hannes vor. »Das verschafft euch Zeit. Zeit, die wir nutzen, um uns eine handfeste Strategie zu überlegen.« Er fand Kays Einwand gar nicht so übel, über die Ständige Vertretung der Bundesrepublik Druck auf die DDR auszuüben. Warum eigentlich nicht? Die DDR hasste nichts mehr als öffentliches Aufsehen im Ausland. Er überlegte, ob Arne vielleicht Genaueres über die Sicherheitsmaßnahmen wusste.

»Und wir wohnen bei dir, ja?«

Hannes zuckte zusammen. Mitbewohner waren das Letzte, was er sich wünschte.

»Nur bis ihr eine eigene Wohnung gefunden habt. Allerdings erst ab nächster Woche. Und vorher müsst ihr mir helfen, ein paar Möbel rüberzutragen.«

Kay runzelte die Stirn. »Möbel?«

»Meine Eltern kommen übermorgen vorbei.«

Kay hob beide Augenbrauen und sah sich langsam um. Hannes folgte seinem Blick.

Wenn man es mit den Augen eines Besuchers betrachtete, war die Wohnung wohl eher ein leeres Dreckloch. Für ihn war das in Ordnung. Doch er brauchte die finanzielle Unterstützung seiner Eltern, und deshalb inszenierte Hannes für seine Mutter das Schauspiel. »Ich habe mit der Nachbarin gesprochen. Sie leiht mir ein paar Stücke.« Er hatte alles vorbereitet. »Ihr helft mir schleppen, und ich denke weiter über euer Problem nach.«

Hannes fand das eine hervorragende Lösung. Die Zwillinge und Kay übernahmen die Mucki-Arbeit, während er die Denkleistung vollbrachte. Er lächelte. Die Erste einer hoffentlich endlosen Reihe von zielführenden Ideen, wie sie die Zwillinge in Sicherheit bringen könnten.

Am nächsten Tag sah die Wohnung aus, als gehöre sie jemand anderem. Kay und die Zwillinge hatten ganze Arbeit geleistet. Alles glänzte sauber, und eine Kommode, eine Vitrine, diverse Teppiche und ein Aquarium hatten den Weg in Hannes’ Räumlichkeiten gefunden. Sogar einen Staubsauger hatte die Nachbarin herausgerückt. Das würde seine Mutter endgültig davon überzeugen, dass ihr Junge in Berlin in die Spur kam und der monatliche Unterhalt eine lohnend angelegte Investition war.

Kay nickte anerkennend. »Das sieht schön aus. Daran gewöhnst du dich, oder?«

Hannes dachte kurz nach. Er fühlte sich sehr wohl in der Stadt, in der niemand fragte, sich keiner um ihn scherte. Er war frei, durch die Straßen zu schlendern, ohne jemandem zu begegnen, den er kannte. Nie wieder wollte er Rechenschaft ablegen.

Er schüttelte den Kopf. »Nö. Das muss ja alles sauber gehalten werden, wer soll da denn Staub wischen?

Kay lächelte. »Warum gibst du dir dann so viel Mühe?«

Hannes zögerte. Sollte er Kay einweihen?

»Ich brauche die Unterstützung meiner Eltern.« Er setzte an, stockte erneut, atmete tief durch. »Ich beichte ihnen morgen, dass ich einen Ausreiseantrag gestellt habe!«

Er sah, wie Kay erstarrte.