Rostock-Parkentin, Oktober 2016
K ay fröstelte. Es war inzwischen dunkel geworden, und er beobachtete die Jungs dabei, wie sie noch immer Holz aufstapelten. Der Hof lag einsam im Hinterland und die nächsten Nachbarn, die sich womöglich an dem riesigen Feuer oder lauter Musik stören könnten, waren weit weg. Es gab keine Infrastruktur, keinen Anschluss an die Kanalisation, nicht mal einen Briefkasten. Das einzige Zugeständnis an die Zivilisation war ein Stromanschluss.
Hannes stand mit dem Feuerzeug in der Hand parat und begann, an verschiedenen Stellen Papierfackeln und Holzwolle anzuzünden. Über Kays Gesicht huschte ein kurzes Lächeln. Der Anblick der züngelnden Flammen und das Übergreifen der Flammen auf die dünnen Zweige gaben einen Vorgeschmack darauf, dass der Holzstoß gleich lichterloh brennen würde. Feuer übte eine große Anziehung auf ihn aus. Er spürte die Kraft des Feuers, die Magie, die Gefahr. Und die Wärme.
Oder waren es gar nicht die Temperaturen, die ihn frieren ließen, sondern die vielen Erinnerungen, die dieser Abend heraufbeschwor? Der unerträgliche Gedanke, dass er irgendwo hier im Dunkeln stand. Kay hielt die Ungewissheit kaum aus. Aber eine Konfrontation war genauso unvorstellbar. Er spürte, wie die alte Wut die Oberhand gewann. Und er wollte die Wut nicht über seine Trauer dominieren lassen. Heute war er hier, um sie zu ehren, und er zerstörte alles. Wiederholte sich das Schicksal ständig? Sie zu verlieren, war unendlich bitter. Hatte er sich eingebildet, dass ihn sein bisheriges Leben darauf vorbereitet hatte?
Es waren damals die Verluste gewesen, die Kays Weltbild innerhalb kurzer Zeit in Trümmer gelegt hatten. Er war noch heute erstaunt darüber, wie wenig es gebraucht hatte, seine Lebensanschauung völlig umzuwerfen. Er hatte dem Staat kritisch gegenübergestanden. Zweifellos. Aber er hatte bis zu diesem Zeitpunkt nie ernsthaft an Flucht gedacht. Er war beseelt davon gewesen, zur See zu fahren. Sein Leben war in Ordnung, bis der Staat ihm das Vertrauen entzog, ihm die Seefahrt verbot und den Sinn seines Daseins mörserte.
Als ob das nicht dramatisch genug gewesen wäre, hatte in diesem Moment der Prof mit Mina angebändelt und seine erste Liebe beendet. Hatte Mina die Nase voll gehabt von Kays depressiver Stimmung? Plötzlich waren seine Zukunftsträume, seine Ideale, sein Glaube an die Freundschaft – alles war in seine Einzelteile zerlegt worden und zerrieben an der Ohnmacht, dem Zorn und der Verbitterung.
Und die Verluste hörten nicht auf.
Auch Hannes’ Ausreiseantrag war in diese schwarze Zeit gefallen. Es war zwar folgerichtig, dass er das Land verlassen wollte, denn er war für den Sozialismus verloren, aber dass er seine Entscheidung getroffen hatte, ohne mit ihnen darüber zu diskutieren, verunsicherte Kay. Er fühlte sich zurückgewiesen. Hannes löste sich von der Gruppe. Um allem die Krone aufzusetzen, unternahmen die Zwillinge einen Fluchtversuch. Kay hatte geahnt, dass sie eine Dummheit begehen könnten. Er hatte noch mit Hannes darüber gesprochen, wie sie Ricksen und Alexander zur Geduld mahnen könnten, denn die beiden hatten genauso viel Angst vor dem Militärdienst wie vor der Flucht. Und Angst war kein guter Ratgeber. Er hätte es sich denken können, dass sie seine Appelle in den Wind schlagen und sich auf den Weg zu Sascha machen würden. Und wenn er ehrlich zu sich war, überraschte es ihn nicht, dass sie scheiterten, obwohl sie es verdient gehabt hätten, einmal im Leben Glück zu haben.
Er saß schon seit einiger Zeit allein auf der Bank und hing seinen Gedanken nach. Schluss damit. Kay akzeptierte die Vergangenheit, ändern ließ sie sich ohnehin nicht.
Er stand auf, um sich eine weitere Flasche Bier zu holen, ans Feuer zu treten und selbst nachzusehen, wo der Verräter war. Er hatte beschlossen, ihm nicht auszuweichen. Sie hatten eine Rechnung offen, und zwar eine hohe.
Murmel legte immer noch Holzpaletten nach. Er war inzwischen ein junger Mann von zweiunddreißig Jahren. Er war Tischler und ein guter Kerl. Das Feuer prasselte und knackte. Die Flammen schlugen über einen Meter hoch, und das hatte etwas Meditatives. Das Feuer wärmte ihn, und als Ricksen kam und ihm seinen Arm um die Schulter legte, fühlte er sich beinahe in die 80 er-Jahre zurückversetzt.
»Has dich mächtich rausgebutzt«, lallte er. »Wär doch nich nötich gewesn.«
Kay sah an seinem schwarzen Anzug herab. Er hatte den Anzug nicht wegen der Trauerfeier angezogen, nicht wegen seiner Freunde, sondern weil es ihm der einzige Weg schien, etwas von seinen Gefühlen auszudrücken. Er sah sich nicht in der Lage, eine Rede zu halten, denn wie drückte man seinen Verlust aus, wenn man keine Worte hatte?
Er sah Ricksen an, und sein Blick blieb an dessen langer Narbe hängen. Sie zog sich vom Kinn quer über die rechte Gesichtsseite bis zum Ohr hinauf. Ricksens Andenken an den Knast. »Doch, Kumpel, das war nötig.« Kay legte ihm tröstend den Arm um die Hüfte.
Damals hatten sie nicht gewusst, was aus den Zwillingen geworden war und ob sie sie jemals wiedersähen. Erst als die Eltern der Zwillinge Peggy und das Baby besuchten, erfuhren sie, dass Ricksen und Alexander verhaften worden waren. Sie waren in einer Nacht-und-Nebel-Aktion Richtung Polen aufgebrochen.
Was sich im nahen Grenzgebiet zugetragen hatte, fand Kay erst Jahre später heraus.
Ricksen und Alexander hatten sich von Rostock in Richtung Warschau auf den Weg gemacht. Ihr Ziel war die westdeutsche Botschaft. Vielleicht hatte Kays Bericht über die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in Ostberlin sie dazu ermuntert, etwas Ähnliches in der weniger bewachten Vertretung in Polen zu versuchen. Im ersten Grenzort hinter Pasewalk hatten sie sich Mut angetrunken.
»Sag mal, Ricksen, wie war das eigentlich damals bei eurem Fluchtversuch ganz genau? Ihr habt nie so richtig darüber gesprochen!«, fragte Kay und hielt den Freund eng gedrückt. Vielleicht gab er ihm so den Halt, über die schwere Zeit zu sprechen.
»Meins du, im Wald?«
»Ja. Ihr seid aufgeflogen, oder?«
Ricksen nickte und schwieg. Kay war sich nicht sicher, ob das Gespräch damit beendet war, aber da Ricksen sich nicht wegbewegte, hielt er die Stille aus und wartete.
»Wir hatten zu viel Rotwein intus.«
Ricksen sprach mit geschlossenen Augen, als liefen die Bilder von damals noch einmal in ihm ab.
»Wir hatten so ’nen Bammel vor den Gesichtern hinner den Gardinen!«
»Gesichter?«
»Die Dorfbewohner hinter den Gardinen. Die haben … und dann … dann war da dieser Polizist auf einem Motorrad. So ’n Dicker. Der schwitzte wie ein Schwein. Jemand hatte ihm einen Tipp gegeben.«
Er hob den Kopf und blickte Kay an. »Du weißt ja, wir sind Schluckspechte. Alexander und ich. Ich glaube, wir trinken, um unsere Probleme zu ersäufen, aber die Scheißer können schwimmen.«
Kay lächelte. Er verstand, dass sie sich nicht nüchtern dem möglichen Tod gestellt hatten. Manchmal war ihnen auch das Leben zu furchteinflößend.
»Der Dicke, der war ganz allein. Trotzdem hatten wir furchtbare Angst vor ihm. Er hatte eine Maschinenpistole dabei! Er hatte die Waffe auf uns gerichtet.« Ricksen schüttelte den Kopf. »Wohin hätten wir denn laufen sollen? Wir wollten doch nicht mit einer Kugel im Rücken enden.«
Kay konnte sich nicht vorstellen, wie es sich anfühlte, mitten im Sperrgebiet von einem bewaffneten Grenzer gestellt zu werden.
»Ich hab immerzu auf die Schweißperlen des Dicken gestarrt. Auf dessen Stirn. Das Haar klebte ihm im Nacken. Das war verrückt, es war doch noch tiefster Winter Anfang 1985 . Wer schwitzt denn im Winter?«
»Ich bin froh, dass ihr Angst hattet. So seid ihr besonnen geblieben!«, antwortete Kay und drückte Ricksen.
»Der Dicke hat keine Verbindung über Funk bekommen. Der fuchtelte immer nervöser mit seiner Maschinenpistole rum.« Ricksen zögerte. »Und dann … dann hat er gesagt, ich soll das Motorrad schieben!«
»Hä?«
»Ich sollte das Motorrad nehmen. Aber nicht fahren, schieben. Alexander ging hinter mir und der Dicke mit der Waffe im Anschlag hinter Alexander. Wir sind zurück ins Dorf getrabt. Den ganzen verdammten Weg im Gänsemarsch bis zur Polizeistation.« Jetzt lächelte Ricksen sogar ein wenig. »Wir sahen bestimmt komisch aus.«
Eine gefährliche Situation. Eine lächerliche Prozession.
Leider waren die Folgen gar nicht lächerlich, sondern furchtbar. Da die Zwillinge eine Straßenkarte und ein Messer bei sich trugen, unterstellten die Behörden ihnen einen »geplanten und bewaffneten Grenzdurchbruch«.
Sie erhielten zweieinhalb Jahre Knast in Bautzen.
Und als ob diese Erinnerung nicht schwer genug war, blickte Kay genau in diesem Moment dem Verräter in die Augen. Keine vier Meter entfernt stand er am Feuer und fixierte ihn. Er deutete ein Lächeln an. Kurz nur, dann nickte er ihm einen Gruß zu und kam auf ihn zu.
Kay biss die Zähne aufeinander. Ihm wurde speiübel. Aber er rammte die Füße in den Boden. Er würde nicht weichen.