28 . Kapitel

Stralsund, Oktober 1985

D as Zerwürfnis mit dem Prof und Mina, die Inhaftierung der Zwillinge und Hannes’ Ausreiseantrag lösten in Kay heftige Gefühle aus. Er vermisste Mina, aber er ahnte, dass es eher die Kränkung war als die Tatsache, sie verloren zu haben. Zumindest vor sich selbst gab er zu, dass sie schon vor Wochen, wenn nicht Monaten gescheitert waren. Viel mehr als Mina vermisste er den Prof und seine Freundschaft. Er fragte sich ständig, warum er sich nicht meldete. War es zu viel verlangt, dass er einen Schritt auf Kay zukam? Schließlich war er hintergangen worden, und er brauchte ein Signal der Entschuldigung. Und ausgerechnet jetzt waren die Zwillinge im Gefängnis! Sie waren mit Sicherheit die Schwächsten der Gruppe, und Kay hatte wenig Hoffnung, dass sie die Haft unbeschadet überleben würden. Er fühlte sich unendlich hilflos. Er hasste Hilflosigkeit, und das wiederum entfesselte eine ungeheure Wut, die er in Aktivität kanalisierte.

Die Wut ließ ihn erkennen, dass er, wenn er nichts änderte, über kurz oder lang untergehen würde. Er hörte auf zu trinken, begann mit Sport. Ein paar Monate hatte er noch darauf gewartet, ob Juri seine Idee in die Tat umsetzen und eine Wohnung für Kay organisieren würde, doch Juri vertröstete ihn immer wieder. Hinter der großen Bugwelle, die Juri vor sich herschob, dümpelte nur ein kleines Tretboot.

Stattdessen widmete Kay sich dem Lkw-Führerschein und ertrotzte sich bei der Reederei eine Fortbildung zum Schiffsführer in der Küstenschifffahrt. Er absolvierte die viermonatige Ausbildung mit Bravour, erhielt sein Patent und war immer noch wütend. Er erwarb das Seefunksprechzeugnis und die Zulassung zum Radarbeobachter. Er nahm an jeder Schulung teil, die er ergattern konnte – auch wenn er die neu erworbenen Kenntnisse gar nicht anwenden durfte. Die Wut schwächte sich nicht ab, aber seine düstere Stimmung schwand.

Seine Aktivitäten verdrängten die Frage, der er gerne auswich: Wer oder was stellte die Freundschaft der indischen Reisegruppe auf die Probe? Er fürchtete sich vor der Antwort.

Er arbeitete und wohnte noch immer auf der Fritz Heckert, als die Reederei einen Matrosen auf der kleinen Barkasse Pelikan suchte. Da Kay gerade seinen Schiffsführerlehrgang beendet hatte, fragten sie ihn, ob er sich vorstellen könne, in die Versorgungsflotte einzusteigen. Kay ließ sich nicht zweimal bitten. Hauptsache, eine Veränderung. Die Pelikan beförderte Werftarbeiter und Proviant zwischen der Insel Dänholm und Stralsund hin und her. Schon bald schipperte Kay die morgendliche Tour zur Volkswerft, um die Arbeiter hinüberzubringen, mittags übernahm er eine Fahrt in den Hafen, bunkerte das Mittagessen und fuhr zurück zum Liegeplatz, um den Männern des Bauhofs ihr Mittag zu bringen. Abends holte er die Arbeiter von der Werft ab und brachte sie an Land. Manchmal zog er Boote, Pontons oder Kräne an einen anderen Liegeplatz. Nichts Weltbewegendes, aber immerhin eine Arbeit auf dem Wasser. Die Sicherheitsbehörden gaben ihm sein Seefahrtsbuch nicht zurück und seine Bewerbungen bei der Handelsflotte lehnte die Reederei mit schöner Regelmäßigkeit ab. Das System ließ ihn nicht auf die Weltmeere, aber er war noch nicht am Ende. Er kämpfte weiter. Und er verweigerte sich nicht länger den drängenden Fragen.

Dabei hatte alles so vielversprechend begonnen. Die Seefahrt, die erste Liebe, Sascha war freigekommen … welchen Anteil hatte Kay dazu beigetragen, dass sich sein Leben in kurzer Zeit ins Elend verkehrt hatte? Wer hatte dafür gesorgt, dass er sein Seefahrtsbuch verlor? Wie ging es mit ihm und dem Prof weiter?

Er brauchte Antworten. Und er wusste auch, wer ihm helfen und ihn inspirieren würde.