29 . Kapitel

Rostock, Oktober 1985

D ie Klingel der Wohnungstür schnurrte mehr, als dass sie klingelte. Peggy war es recht, so störte sie ihren kleinen Sohn nicht. Sie erwartete niemanden, und deshalb hüpfte ihr Herz vor Freude, als sie Kay vor der Tür stehen sah. Sie hatte es mit dem Kind, der neuen Arbeit und der neuen Wohnung nicht geschafft, ihn zu treffen. Vor wenigen Wochen war es endlich so weit gewesen, und sie hatte die Wohnung mit ihrem Onkel getauscht. Am Ende hatte es ein Jahr gedauert, bis der Onkel seine Ankündigung in die Tat umgesetzt und die Pflege des Vaters übernommen hatte. Leider war die Wohnung ihres Onkels ziemlich heruntergekommen. An den Wänden prangte eine merkwürdige Tapete mit stilisierten Zweigen und Kräutern aus den 50 er-Jahren, und die Möbel waren nicht viel neuer, aber sie war froh, dass sie mit Murmel eine Bleibe hatte, bei der sich niemand über ihr lebhaftes Kind beschwerte.

»Kay, ich habe gerade Kaffee gekocht!«

Kay lachte, als Murmel wie ein Derwisch um die Ecke gekrabbelt kam. Murmel war inzwischen eineinhalb Jahre alt und kreischte vor Freude, als Kay ihm ein altes Quietscheentchen hinhielt. Schnatterinchen gefiel jedem Kind, und Peggy war verdammt stolz auf ihren kleinen Mann im Haus.

»Er läuft schon richtig gut, ist aber manchmal zu faul, seine Beinchen zu benutzen.«

Ein paar Minuten später saß sie mit Kay auf dem verschlissenen braunen Sofa, und er versuchte, den zappelnden Murmel zu bändigen, während sie ihn fragte, wie es ihm ergangen sei.

»Arne ist wieder in Berlin, oder?«, bemerkte Kay, ohne auf ihre Frage einzugehen.

Peggy ließ sich einen Moment Zeit, um zu antworten. Sie zündete erst eine Kerze an, griff nach der Kaffeekanne auf dem Tablett und goss zwei Becher voll. Einen stellte sie vor ihn hin, in den anderen löffelte sie Zucker aus einer Dose und rührte langsam den Löffel herum. Ihre Bewegungen waren fließend und ruhig. Sie hatte sich im Griff. Sie würde sich Kay widmen und nicht umgekehrt.

»Er sucht dort eine Wohnung.« Sie nippte an ihrem Kaffee.

»Ihr drei zieht nach Berlin? Wozu hast du dann die Wohnung getauscht?« Kay klang erschrocken.

»Nein, ich bleibe in Rostock.« Offenbar wusste Kay nicht, wie es um sie und Arne stand. »Murmel fühlt sich wohl in seiner Kinderkrippe, und ich habe wieder eine Arbeit im Krankenhaus angenommen. Die bezahlen besser als die Arztpraxis. Arne geht ohne uns.«

Kays Gedanken waren ein offenes Buch für sie. Er dachte, sie hätten sich getrennt. Sie musste unweigerlich lachen. »Nein, wir haben nicht Schluss gemacht, wo denkst du hin? Arne braucht nur mehr Freiheiten. Für ihn sind Murmel und ich das Wichtigste auf der Welt. Aber du weißt, wie bockig er wird, wenn ihm jemand vorschreibt, wie er zu leben hat. Er bestimmt selbst, wann er mit mir und dem Kind zusammenzieht.« Sie legte den Kopf schief und lächelte Kay an. Verstand er, warum sie Arne gehen lassen musste?

»Und da hast du nichts mitzureden?« Er setzte Murmel auf den Boden und griff mit der anderen nach seinem Kaffee. Vorsichtshalber blies er in den Becher hinein, bevor er daran nippte und den Mund verzog.

»Rondo eben«, sagte sie entschuldigend.

»Es ist doch wunderbar, eine Familie zu haben und mit ihr zu leben«, erwiderte er. »Man weiß, wohin man gehört.«

»Auf Druck reagiert er allergisch.« Sie zögerte einen Moment. »Weißt du, er ist ein unabhängiger Geist. Seit Vater ist angepasst, bieder, strebsam, bringt durch die Arbeit im Rat der Stadt viel Geld nach Hause, aber er ist kein Vorbild für Arne. Arne hat seinen eigenen Kopf.« Sie nickte sich selbst bestätigend zu. »Deshalb hat er es auch so schwer in diesem System, das keine Individualisten zulässt. Verstehst du?«

Murmel hangelte sich am Tisch entlang auf sie zu und grapschte nach der Kerze, die sie schnell vor ihm in Sicherheit brachte.

»Sein Vater ist in der Partei und bekommt gutes Geld?«, fragte Kay und runzelte die Stirn. »Arne hat erzählt, dass sie beengt in einem Plattenbau leben!«

Peggy zuckte mit den Schultern. Wen interessierte es, wie Arnes Familie lebte?

»Ich verstehe, dass er sein Leben selbst bestimmt und sich nicht der Kontrolle des Staates unterordnet. Aber warum geht er seinen Weg nicht mit dir und Murmel?«

Peggy warf ihrem Sohn eine Kusshand zu, was der Kleine mit einem entzückten Glucksen beantwortete und die Ärmchen nach der Kaffeekanne ausstreckte. Sie hatte genug davon, Arne verteidigen zu müssen, sie wollte wissen, wie es Kay ging.

»Sag, wie geht es dir? Du hast dich rargemacht. Mina hat mir alles erzählt.« Peggy griff nach Murmel und zog ihn zu sich auf den Schoß. Sie gab ihm das Quietscheentchen zurück in die Hand, das er auf den Boden fallen gelassen hatte, weil die Kaffeekanne ihn mehr interessierte. »Schau, Murmel, das ist Schnatterinchen.«

Mina hatte sich ihrer Freundin Peggy anvertraut. Natürlich. In allen Einzelheiten hatte sie von ihrer Liebe zum Prof erzählt. Peggy hatte sie eindringlich gebeten, mit Kay zu sprechen und ihm die Karten auf den Tisch zu legen, aber Mina hatte sich nicht getraut, und am Ende hatte Kay sie dann leider in flagranti beim Knutschen mit dem Prof erwischt.

Murmel schmiss Schnatterinchen gleich noch mal auf den Boden und quietschte vergnügt, als Kay sich danach bückte.

»Deswegen wollte ich mit dir sprechen. Ich habe eine Frage. Also eher eine Befürchtung. Ich weiß nur nicht, wie ich es sagen soll. Ich …« Er brach ab.

Peggy schwieg und sah ihn aufmerksam an. Diesmal wusste sie nicht, worauf er hinauswollte.

»Ich glaube, dass sie mir das Seefahrtsbuch entzogen haben, war kein Zufall, das war von der Stasi angeordnet, logisch. Aber warum hat die Stasi das getan?« Er zögerte. »Ich bin alles durchgegangen, Peggy, ehrlich, mein Verhalten war tadellos. Mehr noch, ich bin in der Seefahrt aufgegangen und habe nicht den geringsten Anlass gegeben, an mir zu zweifeln.«

Peggy schwieg, aber sie nickte ihm aufmunternd zu. Er hatte noch mehr auf dem Herzen, und das musste ausgesprochen werden. Kay interpretierte ihre Geste ganz richtig als ein Zeichen, fortzufahren.

»Jemand hat mich denunziert. Jemand hat der Stasi gesteckt, dass wir mit Sascha befreundet sind. Jemand, der verraten hat, dass Hannes in Berlin untergetaucht ist, jemand, der weiß, dass die Zwillinge zu unserer …«

Peggy unterbrach ihn. Er sollte sein Herz ausschütten, aber das ging nun wirklich zu weit. Sie verstand seinen Kummer um Mina, aber seine Freunde zu beschuldigen, nein. »Du spinnst! Du versuchst, dich abzulenken, weil Mina und der Prof zusammen glücklich sind.«

»Was, wenn jemand der Stasi verraten hat, dass ich nicht auf Linie bin?«

»Unsinn! Ich verstehe, dass der Prof dein Selbstwertgefühl angegriffen hat, aber das ist noch lange kein Grund, Verschwörungstheorien zu entwickeln. Du redest über die indische Reisegruppe. Schon vergessen?«

Er errötete. Sie hatte ihn empfindlich getroffen, und natürlich hatte er nicht vergessen, wen er da beschuldigte. Sie hatten sich ewige Freundschaft geschworen, und er war gerade dabei, diesen Schwur zu brechen.

»Mina und der Prof wollten dir nie schaden!« Peggy stand auf und ging im Zimmer auf und ab, zu aufgewühlt, um still neben ihm zu sitzen. Murmel lief langsam hinter ihr her.

»Tja, und trotzdem haben die beiden vergessen, mir zu erzählen, dass ich nicht mehr auf dem Siegertreppchen stehe«, versuchte er, seine Stimme heiter klingen zu lassen.

»Sie lieben sich.« Mit ein bisschen Witz konnte er diesen Misston nicht so einfach ausbügeln. Offensichtlich war diese Tatsache jedem außer ihm bekannt.

»Danke für die anteilnehmenden Worte«, knurrte er.

»Mal abgesehen von Mina … Du und der Prof, ihr gehört doch zusammen. Warum seid ihr so stur und sprecht euch nicht aus?« Sie stoppte direkt vor ihm ab und zwang ihn, sie anzusehen.

»Er hat mich hintergangen. Und Mina hätte auch mal ein Wort sagen können, oder?«

Peggy nickte bedächtig. »Klar. Aber du hast nichts gemerkt, und dem Prof tut es echt leid. Er fühlt sich mies.«

»Hab ich nichts von gehört«, murmelte Kay.

Er hörte sich an wie ein bockiges Kind. »Vergib ihm«, sagte Peggy ernst, während sie ihn liebevoll musterte. »Freundschaften sind dir wichtig. Hol dir dein Leben zurück!« Es war Kay, ihr Kay mit dem Butterherz. Er war dem Prof nicht mehr böse, er wusste es nur noch nicht.

»Reden. Mensch, Peggy, ihr Frauen redet. Männer lecken sich ihre Wunden. Am liebsten in Gesellschaft von viel Alkohol.«

»Zur Freundschaft gehört Vergebung und Versöhnung.« Sie suchte nach Worten. »Der Prof bereut es, nicht mit dir gesprochen zu haben. Geh einen Schritt auf ihn zu. Sei stark!« Sie griff nach seiner Hand und zog ihn zu sich hoch. »Sei stark, indem du dich ihm auch mal schwach zeigst!«

Er lehnte den Kopf an ihre Schulter.

Seine Art zu sagen, dass er verstanden hatte.

»Darf ich dir noch eine Frage stellen?«, fragte sie vorsichtig.

Er nickte. Richtete sich wieder auf. »Natürlich.«

»Ich kenne dich erst seit zwei Jahren, aber es kommt mir schon viel länger vor. Warum willst du unbedingt zur See fahren?«

»Mein Vater ist Seemann. Ich hab ihm versprochen, auch einer zu werden.«

»Das bist du ja. Du hast dein Versprechen gehalten!«

Kay nickte.

»Die anderen haben mir erzählt, wie sehr du dich immer gefreut hast, wenn du zurückkamst. Ich habe dich mit den anderen beobachtet und mich gefragt, ob es dir überhaupt guttut, so viele Monate auf dem Schiff unterwegs zu sein und auf deine Freunde zu verzichten.«

»Was ist denn das für eine Frage?«

»Du gibst für deine Freunde alles.«

»Ich kenne gar kein Leben ohne meine Freunde. Der Prof und Juri waren schon immer für mich da.«

»Für dich da?«

Er zuckte mit den Schultern. »In meinen ersten Lebensjahren und noch bis zur vierten Klasse waren meine Eltern oft gemeinsam auf See. Ich wohnte monatelang bei meiner Oma. Der Prof und Juri waren da.« Er verzog den Mund. »Ein gutes Gefühl.«

»Deine Eltern waren zusammen im Ausland? Warum sind sie …«

»Mich haben sie als Pfand zurückgelassen.«

»Kaum zu glauben! Hast du sie vermisst?«

»Meine Eltern?«

Peggy nickte.

»Wie gesagt, meine Freunde …« Er stockte. »Wer Freunde hat, ist nie wieder einsam!«

»Und du hast deinem Vater versprochen, zur See zu fahren?«, flüsterte sie. Sie fand die Bestätigung ihrer Ahnung. Kay brauchte das nicht halb so sehr wie seine Freunde. Nur hatte er das noch nicht verstanden.

»Er soll stolz auf mich sein.«

»Du musst deinem Vater keine Versprechen erfüllen. Verbieg dich weder für das eine noch das andere. Du wirst immer Freunde haben. Immer am Meer leben. Vertraue auf dich, Zartgefühliger.«

Sie lächelte ihn an, als sei es das Einfachste der Welt. Egal, ob die Stasi ihm auf den Fersen war, ein Spitzel sich sein Freund nannte oder er keine berufliche Zukunft sah. Sie vertraute sich selbst, sie ruhte in sich. Und das traute sie Kay auch zu! Er musste es nur versuchen.

Er nahm sie in den Arm, und sie hielten sich eine Weile, während Murmel in der Ecke auf dem Teppich seine Bauklötze entdeckt hatte.