30 . Kapitel

Rostock, Oktober 1985

K ay gingen Peggys Worte nicht aus dem Kopf, und so fuhr er am nächsten Nachmittag mit dem Fahrrad zur Universität, die in der Südstadt lag. Dort hatte der Prof, nach Auskunft seiner Mutter, heute bis siebzehn Uhr eine Vorlesung. Er war seit dem Sommer vom Wehrdienst zurück und hatte nicht lange gezögert, sondern sofort sein Studium aufgenommen. Kay plante, ihn auf dem Universitätsgelände abzufangen. Er bog vom Südring in die Albert-Einstein-Straße ein und stand wenig später auf den Vorplatz des Instituts für Schiffbau-Technik. Es war ein milder Herbsttag, und die strahlende Sonne schaffte einen guten Rahmen für das schwierige Gespräch. Und wenn Peggy ihm zu viel zutraute? Wenn er es nicht schaffte, die richtigen Worte zu finden, um sich zu versöhnen?

Kay schob sein Fahrrad über den Platz und hielt nach einer Sitzgelegenheit Ausschau. Erleichtert steuerte er auf eine Bank an der Längsseite des großen Rasenstücks zu. Von dort hatte er freie Sicht auf die alte Baracke und wollte abwarten, ob der Prof auftauchte. Er hatte sich nicht überlegt, was er sagen wollte, aber er ging davon aus, dass ihm etwas einfiele, wenn sie sich erst gegenüberstehen würden. Dass er den Prof hier abholte, war schließlich auch eine Nachricht, und auf die würde er reagieren. Wie er sich im weiteren Verlauf des Gesprächs positionierte, war eine andere Frage.

Kay beobachtete die Studenten, die wie die Ameisen zielsicher und mit forschem Schritt ihren unbekannten Zielen zustrebten. Er selbst hatte Nautik studieren wollen, bevor sie ihm das Seefahrtsbuch entzogen hatten. Nun war er mit dreiundzwanzig Jahren gescheitert. Was wollte ihm das Leben damit sagen? Bevor er eine Antwort darauf fand, sah er ihn. Die Nickelbrille blitzte in der Sonne. Kay stand auf und hob die Hand.

Tatsächlich bemerkte der Prof ihn sofort … und stoppte ab.

Was, wenn er sich umdrehte und wegging? Das hatte Kay gar nicht in Betracht gezogen. Gott sei Dank kam der Prof lässig auf ihn zugeschlendert. Er sah nicht einmal erstaunt aus, sondern lächelte warm, und seine Augen sprühten. »Mensch, Kay, das hat jetzt aber echt lange gedauert. Mach das bloß nie wieder, das halte ich nicht noch mal aus.«

Kay nickte und wollte antworten, als der Prof fortfuhr. »Ich hätte mit dir sprechen müssen. Es tut mir wirklich leid. Lass das nicht zwischen uns stehen.«

Kay nickte wieder. Und damit war die Sache für ihn erledigt. Er wollte seinen Freund zurück. Nachdem er gestern bei Peggy seine Entscheidung getroffen hatte, wollte er keinen Moment mehr warten, seinen Kumpel auf den neuesten Stand zu bringen und mit ihm über den Fluchtversuch der Zwillinge, Arnes Alleingang in Berlin und Peggys finanzielle Sorgen zu sprechen.

»Lindeneck?«

Diesmal nickte der Prof.

Kurze Zeit später saßen sie an ihrem alten Stammtisch. Saschas Vater lächelte ihnen wohlwollend zu. Er hatte seine ablehnende Haltung gegenüber der indischen Reisegruppe in der letzten Zeit aufgegeben. Vielleicht lag es daran, dass sie sich nur noch selten und in kleiner Runde im Lindeneck blicken ließen. Doch heute war es Kay wichtig, seine Versöhnung mit dem Prof genau hier zu feiern. Ihre Freundschaft dauerte fast zwei Jahrzehnte an, und so etwas Kostbares warf man nicht in der ersten Krise über Bord.

Er sah sich im Schankraum um und hatte für eine Sekunde das Gefühl, dass Sascha jeden Moment aus der Küchentür heraustreten und mit breitem Grinsen zu ihnen an den Tisch eilen könnte. Er lächelte wehmütig. Stattdessen kam der Wirt höchstpersönlich hinter dem Tresen hervor und stellte ihnen ungefragt zwei Bier hin. »Jungs, lange nicht gesehen. Alles gut bei euch?«

Sie nickten. Vor ihm breiteten sie keine Probleme aus.

»Soll ich euch Bescheid sagen, wenn Sascha anruft?«, fragte er.

Der Prof stimmte sofort begeistert zu. »Meldet er sich regelmäßig?«

»Wie geht es ihm?«, fragte Kay. Sie hatten ewig nichts mehr von ihrem Freund gehört. Der Vater konnte froh sein, dass er seit einigen Monaten ein Telefon hatte und wenigstens ab und zu die Stimme seines Sohnes hörte. Andererseits waren Anrufe aus dem Westen verboten, und der Wirt ging ein Risiko ein.

»Sascha hat einen Job, er kellnert.« Er lächelte. »Er hat eine Freundin und eine gute Wohnung«, erzählte er und stützte sich schwer auf den Tisch.

Er ist alt geworden, dachte Kay.

»Er ruft in letzter Zeit fast täglich an. Ich glaube …« Saschas Vater zögerte kurz. »Ich glaube, er hat Heimweh. Ist das zu fassen?«

Kay fiel es nicht schwer, das nachzuempfinden. Es war doch kein normales Leben, keinen Kontakt zu Eltern und Freunden haben zu dürfen. Die Welt, in der sie lebten, war verkehrt, nicht Saschas Gefühle waren es.

Sie tranken ihr Bier. Kay fragte, ob der Prof schon wusste, dass Hannes einen Ausreiseantrag gestellt hatte.

Er nickte. »Peggy hat es uns erzählt. Sie hat auch von dem Besuch der Alten von Ricksen und Alexander erzählt. Puh, das war hart. Die Eltern sind verzweifelt.« Er sammelte sich. »Es läuft alles aus dem Ruder, was?«

»Lass uns überlegen, wie wir Peggy helfen können«, sagte Kay. »Ihr die Bude streichen oder so? Der Onkel hat ihr seinen alten Krempel dagelassen. Es sieht schlimm aus. Und Murmel braucht ein eigenes Kinderbett. Er kann nicht ewig bei Peggy im Bett schlafen – das ist für beide nicht erholsam.«

Der Prof nickte. »Klar, ich bin dabei!«

Er schlug die Hand ein, die Kay ihm hinhielt. Wie in alten Zeiten.

Sie hörten das Telefon klingeln, als sie sich gerade schweigend gegenübersaßen und jeder seinen eigenen Gedanken nachhing. Gemeinsames wohltuendes Schweigen. Kay hob den Kopf und sah neugierig zum Tresen hinüber. War es Sascha? Der Wirt sprach ins Telefon, drehte sich von ihnen weg. Also nicht sein Sohn, sondern ein geschäftlicher Anruf.

Er wandte sich enttäuscht ab. Es wäre schön gewesen, Saschas Stimme zu hören.

Plötzlich sprang der Prof auf, und Kay blickte hoch. Der Wirt winkte ihnen zu. Er hielt dem Prof den Telefonhörer hin, und Kay rappelte sich auf, um ebenfalls zum Tresen zu kommen. »Er ist ein wenig … beschwipst. Aber er freut sich mächtig, euch zu sprechen.«

»Hey, Kumpel, wie läuft’s?«, schrie der Prof in den Hörer.

Kay verstand kaum, was Sascha antwortete, deshalb rückte er dem Prof dicht auf die Pelle und hielt sein Ohr mit an den Hörer. Nach ein paar Sätzen begriff er, dass die holprige Verständigung nicht nur daran lag, dass er schlecht hörte. Nein, Sascha war betrunken und nuschelte verwaschen.

Kay versuchte, sich aus den Bemerkungen des Profs eine Übersetzung zu basteln.

»Und ihr seid schon zusammengezogen? Das ist schnell … Wirklich? … Nicht, dass du bald Papa wirst.«

Offenbar sprachen sie über seine Freundin. Und eine gemeinsame Wohnung. Anders als im Osten war es im Westen nicht nur möglich, sich den Stadtteil, sondern sogar die konkrete Wohnung auszusuchen, in die man ziehen wollte. Skurril. Man bekam keine Wohnung zugeteilt, sondern durfte wählen. In ihrer Welt gab es keine Wahl. Hatte Sascha das Tempo angezogen und trat in die Fußstapfen von Juri: Heim, Frau und vielleicht bald ein Kind?

»Sag das noch mal, ich versteh dich kaum … was für ein Eisbär?«

Der Prof zog die Stirn kraus.

Kay zupfte ihn am Ärmel. Er wollte auch mit Sascha sprechen.

Der Prof hob fragend die Augenbraue und gab ihm den Hörer. »Er faselt was von einem Eisbären.«

»Sascha, ich bin’s!« Kay lachte. »Du bist mit einem Eisbären zusammengezogen?«

Kay hörte eine Weile zu und verstand, dass Sascha verzweifelt versuchte, ihm etwas zu sagen. Nur ergaben seine Worte keinen Sinn.

»Wie meinst du das, der Eisbär riecht nach Suppe?«

Kay versuchte, aus Saschas aufgeregtem Gestammel schlau zu werden. Er klang gehetzt und paranoid.

»Mach mal langsam … wie, Schluss … Mensch, pass auf dich auf!« Kay war nicht sicher, ob Sascha den letzten Satz überhaupt noch gehört hatte.

Der Prof verzog den Mund, und sein rechtes Augenlid zuckte. »Der war aber lustig drauf. Hast du das verstanden?«

»Er meinte, wenn wir Großes vorhaben, sollen wir aufpassen, weil der Eisbär nach Suppe riecht.« Kay runzelte die Stirn. »Kryptisch. Wie kann man besoffen sein und trotzdem besorgt?«

Kay winkte dem Wirt zu, der diskret zur Seite getreten war, als der Prof den Hörer übernommen hatte.

»Er hat leider schon wieder aufgelegt. Ich hoffe, Sie wollten ihn nicht noch sprechen?«

Saschas Vater schüttelte den Kopf. »Die Stasi hat mich schon auf dem Kieker. Wir … ich darf es nicht übertreiben.«

Das war Kay neu. Sah der Wirt deshalb so gealtert aus? Bedrängte ihn die Stasi allen Ernstes, weil der Mann mit seinem Sohn telefonierte? Kay wusste gar nicht, welche Frage er zuerst stellen sollte.

»Ist Sascha öfter so komisch?«

Der Wirt schwieg eine Weile. »Die Firma Horch & Guck beteiligt sich wohl nicht nur an unseren Telefonaten. Er hat angedeutet, dass er auch in Hamburg noch Besuche bekommt.«

»In Hamburg?«, echote Kay. »Das ist verrückt. Die Telefonate, okay. Aber … im Westen?«

Der Wirt zuckte mit den Schultern und stellte das Telefon in das Regal hinter der Bar.

Sie setzten sich zurück an ihren Tisch. Kay wusste nicht, was er mit diesem Anruf anfangen sollte. Bespitzelte die Stasi Sascha in Hamburg?

Der Prof wirkte ebenfalls bedrückt. »Zwischen uns alles wieder im Lot?«

Kay nickte. »Klar, Mann, wenn du die nächste Runde zahlst!«

Es wurde ein langer Abend.