31 . Kapitel

Hamburg, Oktober 1985

S ascha schenkte sich noch eine Handbreit Whiskey in das Glas und hielt es gegen das Dämmerlicht, das durch die Fensterfront seiner Zweizimmerwohnung in Hamburg-Altona hereindrang.

Er lächelte bei dem Gedanken an das eben geführte Telefonat. Dabei war er so betrunken, dass er nicht sicher war, ob er sich verständlich gemacht hatte. Aber er hatte nicht damit gerechnet, dass sein Vater den Prof und Kay ans Telefon holte. Die Clique kehrte nur noch selten im Lindeneck ein. Seine Gedanken hatten sich überschlagen und verheddert. So lange hatte er ihre Stimmen nicht mehr gehört. Dieser mecklenburgische Singsang, der nach Zuhause klang. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Jetzt nur nicht schwach werden. Er wischte sich übers Gesicht und nahm einen weiteren Schluck Whiskey.

Er war froh, dass er seiner Arbeitsstelle für heute Nacht abgesagt hatte. Auch seine Freundin hatte er auf morgen vertröstet. Ex-Freundin. Sie kam, um ihre letzten Sachen abzuholen. Viel war es nicht mehr. Er sah sich um. Er hatte ihre zwei Umzugskartons mit den restlichen Kleidungsstücken und ihren Büchern zusammengepackt, und die warteten im Flur auf sie. Ohne ihre Bücher sah das Wohnzimmerregal wieder trist und leer aus. Er hatte leider nie die Ruhe gefunden, ein Buch zu lesen. Ihr jedoch dabei zuzusehen, wie sie auf dem Sofa saß und ganz in einer Geschichte versank, schenkte auch ihm für ein paar Minuten inneren Frieden. Überhaupt hatte er sie gerne beobachtet, auch wenn ihr das ein bisschen unheimlich war. Er hatte es nie geschafft, ihr zu erklären, dass er versuchte, die Welt durch ihre Augen zu sehen. Sein Blick auf die Welt blieb ein schmerzhafter, und es gelang ihm nicht, sich von den zerstörerischen inneren Bildern zu lösen. Wenn er zur Ruhe kam, hörte er nur seine Schreie, spürte den Schmerz, roch die feuchten, verschimmelten Betonwände seiner Gefängniszelle. Nein danke, auf diese Muße verzichtete er gern.

Er hatte kurz darüber nachgedacht, ob es fair war, dass sie sich morgen um alles kümmern musste. Aber je schneller es geschah, umso besser. Sie war stark, sie würde das schaffen. Vermutlich war das am Ende der Trennungsgrund gewesen: ihre Stärke und seine Schwäche. Anfangs hatte es ihr gefallen, ihn zu unterstützen und für ihn da zu sein. Aber mit der Zeit hatte sie sich wohl eine Schulter zum Anlehnen gewünscht. Die konnte er ihr leider nicht bieten. Als sie ihm mitteilte, dass sie nicht mehr weiter mit ihm zusammenleben wolle, hatte sie geweint. Komisch, oder? Er hatte Grund, traurig zu sein, enttäuscht und gekränkt. Sie hatte ihn verlassen, aber er spürte nichts. Keine Träne schlich sich aus seinem Auge, über ihn senkte sich nur Nebel. Wie in Trance verbrachte er dunstige Tage, hinter denen jede Kontur verschwamm.

Jetzt war er allein. Ganz allein.

Er hatte den Jungs am Telefon nicht gebeichtet, dass sie Schluss gemacht hatte. Das er sich von allem und jedem entfremdet fühlte. Ihrer Leben hatte sich weit von seinem entfernt. Zwischen West und Ost lag eine Kluft, so groß wie das Chinesische Meer.

Hätte er vor seinem Ausflug in die Leipziger Straße gewusst, dass er den Osten nie abstreifen würde, dann hätte er es gelassen. So blieb ihm nur die bittere Erkenntnis, dass man seiner Herkunft nicht entfliehen konnte. Niemals. Und er hatte keinen Weg für sich gefunden, sich damit auszusöhnen.

Wenn die Erinnerungen an die ersten Wochen im Gefängnis ihn einholten, setzten heftige Schmerzen ein. In der Nierengegend, wo sie ihn immer wieder geschlagen hatten. Mit dem Holzknüppel. Dem sozialistischen Wegweiser. Einen Arzt hatte er im Knast nicht zu Gesicht bekommen. Erst hier im Westen hatte er verschiedene Ärzte aufgesucht, die keine Schäden fanden. Die Narben in seiner Psyche hatten sie nicht bemerkt. Na egal, das war auch nicht ihr Job. Er würde schon damit fertigwerden. Er brauchte nur Frieden. Endlich Frieden.

In der Haft hatte er sich neben seiner Gesundheit furchtbare Sorgen um die Eltern gemacht. Er wusste nicht, ob die Stasi die beiden vielleicht auch verhaftet hatte. Als Mitwisser? Hatten sie dem Vater die Kneipe geschlossen? Wie ging es seiner Mutter? Dann hatte er erfahren, dass sie einigermaßen zurechtkamen. Nachdem sein Vater ein Telefon bekommen hatte, sprachen sie regelmäßig miteinander. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten sie noch viel öfter und länger geredet, aber die Stasi hörte mit Sicherheit zu, und so blieben die Gespräche oberflächlich. Nun tat er ihnen noch ein letztes Mal weh! Und es tat ihm weh, seinen Eltern wehtun zu müssen, aber seine Entscheidung war gefallen.

So oft hatte er in der stinkigen Zelle mit seinem Leben abgeschlossen und darum gefleht, zu sterben. Er hatte in einer kalten, zugigen Gruft gesessen und darum gebettelt, dass die stundenlangen Verhöre aufhören würden und er endlich wieder schlafen dürfte. Warum waren sie so wütend auf ihn? Der Stasi-Beamte, der ihn zu jeder Tages- und Nachtzeit verhört hatte. Die herabwürdigenden Wärter, die ihn beschimpften und bedrohten, kränkten und verhöhnten. Alle halbe Stunde hatten sie das Licht angeschaltet und ein paar Minuten später wieder ausgeschaltet, um ihrem Verdruss an ihm auszulassen. Was hatte er ihnen getan? Er wollte doch nur schlafen. Aber das war zu viel verlangt.

Er schlief auch heute noch nicht. Albträume vermiesten ihm die wenigen Stunden der Nacht. Seine Freundin hatte es nicht länger ertragen, ihn im Schlaf schreien zu hören. Er hatte es mit Medikamenten versucht. Die wirkten tatsächlich, jedoch lief er bis zum frühen Nachmittag als Zombie herum, und so hatte er sie im Klo heruntergespült. Er musste es allein schaffen. So allein wie in der Zelle. Noch nie in seinem Leben war er so furchtbar einsam gewesen. Er hatte in der Haft keinen Außenkontakt gehabt, nicht einmal zu Mithäftlingen. Er vegetierte in strenger Isolation, und damit hatten sie ihn gebrochen. Als Kind hatte er Angst im Dunkel gehabt und er war noch nie gern allein gewesen.

Er war seinem Vater zutiefst dankbar, dass er unter Lebensgefahr einen Rechtsanwalt in Westberlin eingeschaltet hatte. Wie ihm das gelungen war, hatte er nie erzählt, aber diesem Anwalt und seinen Beziehungen zum Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen verdankte Sascha seinen Freikauf in den Westen.

Wenn doch nur alles mit Geld zu regeln gewesen wäre.

Jetzt würde er endlich sein Leben selbst in die Hand nehmen. Allein.

Er löschte das Licht, trank den letzten Schluck Whiskey und griff zum Kugelschreiber.