Rostock, Oktober 1985
A m nächsten Morgen wachte Kay mit Kopfschmerzen auf. Die Migräneattacken hatte er von seinem Vater geerbt. Hätten sie nur gestern im Lindeneck früher Schluss gemacht. Aber es war so schön gewesen! Sie hatten gebechert und geredet, als ob nie etwas zwischen ihnen gestanden hätte. Und der Prof und Mina … Das ging klar. Na ja, wo die Liebe hinfällt, dachte Kay. Er bereute es allerdings, dass er dem Prof versprochen hatte, heute Abend wieder ins Lindeneck zu kommen, um auch ein kurzes klärendes Gespräch mit Mina zu führen. Er meinte, sie brauche das und es würde allen guttun. Er würde ihr sagen, dass er sich ein offenes Wort gewünscht hatte. Trotzdem hatten sie seinen Segen. Bier würde er jedenfalls die nächsten Tage nicht trinken. Herrgott, dröhnte ihm der Schädel!
Dennoch ging ihm weder das Gespräch mit dem Prof noch das gestrige Telefonat mit Sascha aus dem Kopf. Er hatte sogar von Sascha geträumt. Oder vielmehr von einem Eisbären, der einsam und entkräftet durch die Straßen Rostocks torkelte. Und Kay lief hinterher. Was suchten sie?
Was hatte Sascha gesagt? »Wenn ihr Großes vorhabt, passt auf, weil der Eisbär nach Suppe riecht.«
Hatten sie denn Großes vor? Was meinte Sascha? Was hieß groß? Der Entzug seines Seefahrtsbuches, das war groß. Die Geburt von Murmel. Der Fluchtversuch der Zwillinge. Dass Hannes nach Berlin gezogen war. War das groß?
Gab es einen Zusammenhang, der über das Offensichtliche hinausging? War Hannes umgezogen, um die indische Reisegruppe vor Repressalien zu schützen für den Fall einer Flucht? Oder seines Ausreiseantrags? Aber man fürchtete doch keinen Eisbären. Kay kam nicht weiter.
Abends warf er sich in seine übliche Kluft aus Jeans, weißem T-Shirt und Jeansjacke. Nichts Besonderes, um bei Mina ja nicht den Eindruck zu erwecken, dass er sich für sie Mühe gegeben hatte. Er würde ihr sagen, dass sie seinen Segen zur Verbindung mit dem Prof hätte, und fertig.
Als er das Lindeneck betrat, saßen die beiden schon am Stammtisch. Frau Niekrenz stand bei ihnen und … irgendetwas stimmte nicht. Mina hatte die Hand vor den Mund geschlagen, und dem Prof sah man selbst hinter der Nickelbrille an, dass seine Augen verschleiert waren.
»Hey?«, sagte Kay daher nur fragend, als er am Tisch ankam.
Frau Niekrenz wirbelte herum, als sei sie bei etwas Illegalem erwischt worden. Ihr liefen Tränen die Wangen hinunter.
»Was ist passiert?«, flüsterte er alarmiert. Er hatte den Impuls, sofort umzudrehen und fluchtartig die Kneipe zu verlassen. Er wollte gar nicht wissen, was los war.
Niemand antwortete.
Frau Niekrenz fummelte ein Taschentuch aus ihrer Kittelschürze und schnäuzte sich.
Kay sah sich verwirrt um. Der Tresen war verwaist. Wo war der Wirt? War ihm etwas zugestoßen?
Er sah den Prof an. Dann Mina. Beide suchten offenbar nach Worten, aber es kamen keine aus ihrem Mund. Was in aller Welt …
Frau Niekrenz schluchzte: »Sascha ist tot.«
Kay sah sie verständnislos an. Sascha? Mit dem hatte er doch gestern noch gesprochen. Das war ein Missverständnis. Welchen Sascha meinte sie?
Er fühlte die Schwäche in den Beinen aufsteigen und quetschte sich auf die Bank, bevor seine Beine nachgaben. »Das ist unmöglich. Gestern war noch alles in Ordnung.«
Die alte Tresenkraft des Lindenecks, die resolute Frau Niekrenz, der Fels in der Brandung. Sie sah ihn mit einem Blick an, der Kay die Wahrheit ins Gesicht schrie. Es stimmte!
Sascha war tot.
Unfassbar.
Sie drehte sich um, stürzte hinter den Tresen und durch die Tür zur Küche.
»Was ist passiert? Ein Unfall?«
»Er hat sich erschossen.« Der Prof wischte mit der Hand über den Tisch. So, als könne er damit auch die Tatsache wegwischen, dass Sascha nicht nur tot war, sondern auch sein Leben selbst beendet hatte. »Seine Freundin hat heute Mittag hier angerufen.«
»Das glaube ich nicht«, stieß Kay hervor.
Sascha tot? Ihr Freund Sascha? Sohn des Lindeneck-Wirts. Teilnehmer an den Jugendmeisterschaften der DDR in der Leichtathletik, Hundeliebhaber und trinkfester Kumpel. Der Sascha, der ohne ein Wort nach Berlin gefahren war, um dort von den Hochhäusern der Leipziger Straße die Sicherheitsanlagen um die Mauer zu studieren. Er hatte das Gefängnis überstanden und war freigekauft worden. Er hatte es in den Westen geschafft, eine Arbeit gefunden, eine Wohnung bezogen und eine Frau lieben gelernt. Dieser Sascha hatte sich das Leben genommen?
Kay begriff es nicht. Wie konnten sie mehr in Erfahrung bringen? Mit der Freundin sprechen? Warum hatten sie kein scheiß Telefon? Durften nicht mit dem Westen kommunizieren? Mit dem Klassenfeind. Unsinn. Irrsinn!
Er wusste doch nur zu gut, wie schnell man in eine tiefe Krise rutschte. Herrje, er war doch aus seiner eigenen Depression noch nicht heraus. Als sie ihm das Seefahrtsbuch weggenommen hatten, war seine Welt in Brösel zerstoben. Alles, was ihn ausgemacht hatte, war verloren. Aber deshalb brachte man sich doch nicht um. Kay zweifelte am Leben, brauchte unglaubliche Energien, um einen Sinn zu finden. Aber der Tod war eine Lösung, die an Endgültigkeit nicht zu überbieten war und niemandem half. Der Tod war scheiße, lieber kämpfte er für sein bisschen Lebensglück.
Hatte Sascha keine Kraft mehr zum Kämpfen gehabt? Niemals hätte Kay sich erschossen! Das klang nach einem schlechten Kinofilm. Merkte der Prof das nicht?
Oder gaukelte der Westen ihnen nur einen Selbstmord vor? Hatte jemand Hand angelegt? Wer? Der Klassenfeind? Die Stasi? Das war es also, was einen erwartete, wenn man sich mit der Stasi anlegte. Nicht nur in der DDR , sondern auch noch in der BRD ! Kay hatte geahnt, wie mächtig die Stasi war, aber das hätte er nicht für möglich gehalten. Nun war er eines Besseren belehrt worden. Das war sein Gegner!
Ihm schwindelte von den vielen Fragen. Er hob den Kopf und sah dem Prof in die Augen. »Wir müssen rausfinden, was passiert ist!« Er spürte nur Wut. Sie überdeckte gnädig die Verzweiflung. Wut auf den Staat. Wut auf die fehlenden Antworten.
Suizid? Niemals!
Der Prof sah in verständnislos an.
»Wie denn?«