33 . Kapitel

OstBerlin, Oktober 1985

J uri saß mit Kay auf den Treppenstufen vor Hannes’ Wohnhaus im Hinterhof.

Sie waren drei Tage nach der Nachricht von Saschas Tod in Rostock aufgebrochen, um die Freunde zu informieren. Weder Hannes noch Arne, der sich mal wieder in Berlin aufhielt, wussten bislang Bescheid. So blieb Juri und Kay nichts anderes übrig, als sich in den Zug zu setzen und hierherzufahren.

Juri schlug das Herz bis zum Hals. Jede Minute konnte Hannes um die Ecke biegen – oder auch erst in Stunden. Dann gäbe es kein Zurück mehr. Es käme der Moment, in dem sie die bitteren Worte aussprechen mussten: Unser Freund Sascha ist tot. Er hat sich das Leben genommen.

Juri hatte noch nie eine Todesnachricht überbracht und wusste nicht, welche Worte er wählen sollte. Gab es eine schonende Art, jemandem zu sagen, dass ein Freund sich umgebracht hatte?

Wie würde Hannes auf diese schreckliche Nachricht reagieren?

Juri erinnerte sich mit Grauen an den Moment, als der Prof und Mina zusammen mit Kay bei ihm geklingelt hatten. Es war furchtbar gewesen. Er hatte ihnen nicht geglaubt und beinahe gelacht, so absurd fand er die Botschaft. Es hatte gedauert, bis er begriffen hatte, was sie ihm beizubringen versuchten. Er war so erschüttert gewesen, dass er bitterlich geweint hatte. Er war sich so hilflos vorgekommen. Kay hatte ihn im Arm gehalten und ihn weinen lassen. Zu sagen wussten sie nichts.

Und Oliver? Puh, er hatte es womöglich am schwersten genommen. In Oliver pulsierte die Angst. Er hatte pure Panik vor einem plötzlichen Tod, davor, dass er selbst so depressiv werden könnte, dass er nicht mehr leben wollte; Angst vor der Wut der Stasi, vor … vor den Unwägbarkeiten des Lebens im SED -Regime. Es war ihnen nicht gelungen, ihn zu beruhigen, und so hatten sie ihn spät am Abend zu seinen Eltern gebracht und das Beste gehofft.

Es gab keinen Trost. Für keinen von ihnen.

Sie hatten überlegt, Hannes eine Karte zu schicken, aber schnell war klar, dass sie die Todesnachricht von Angesicht zu Angesicht überbringen mussten.

Am Ende waren sie doch nicht vorbereitet. Dabei hatten Kay und er die Rollen verteilt und sich darauf geeinigt, dass Kay sagen sollte, dass es Dringendes zu besprechen gäbe und dies kein Vergnügungsbesuch sei. Sie wollen schnell in die Wohnung hochgehen, und Juri sollte die entscheidenden Worte aussprechen. So die Theorie.

Stattdessen kam Hannes mit Arne um die Ecke und freute sich derart über die beiden Gäste, die mit hängenden Köpfen auf den Steintreppen vor seinem Haus saßen, dass sie nicht zu Wort kamen.

»Ey, wie toll! Besuch! Kommt, darauf stoßen wir im Spreewälder an!«

Hannes war so hibbelig, dass er nicht zuhörte. Kay hatte Mühe, die beiden ins Haus zu lotsen. »Wir müssen reden. Oben!«

Juri schob Hannes durch die Haustür.

Als Hannes die Tür zu seiner Wohnung aufschloss, schlug ihnen muffige Luft entgegen. Alles war wieder so kahl wie beim Einzug. Die Möbel, die Hannes sich von seiner Nachbarin geliehen hatte, um seine Eltern zu beeindrucken, waren längst zurückgetragen. Nachdem sie gesehen hatten, welches Potenzial in den Räumen steckte, schienen sie ihnen jetzt umso trostloser. Ein Blick in die Küche ließ Juri zurückweichen. Das Waschbecken lag abgerissen auf dem Boden. Der Kühlschrank stand auf dem Kopf und war kaum zu öffnen. Hannes quälte sich, um an ein paar Bierflaschen zu kommen.

»Was ist denn hier passiert?«, fragte Juri. Kay stand ebenso entgeistert daneben.

»Ach, nix. Ich habe eine Jeans gewaschen, und beim Auswringen hab ich das Ding runtergerissen.« Hannes wies lässig auf das Waschbecken. »Ich bin noch nicht dazu gekommen, es wieder anzubauen. Mach ich die Tage.«

Juri zog die Stirn in Falten. Was war nur mit Hannes los? Verlor er die Kontrolle über sein Leben?

Auf Kays fragendes Blinzeln antwortete Hannes, das sei alles nicht so schlimm. Ein Kumpel aus der Nachbarschaft hätte vor ein paar Wochen in einem Wutanfall versucht, den Kühlschrank aus dem Fenster zu werfen. Da das Fenster jedoch ein Holzkreuz hatte, passte der Kühlschrank nicht hindurch und sei auf den Boden gefallen. Er sei auf dem Kopf zu stehen gekommen, und er hätte noch keine Zeit gefunden, ihn umzudrehen.

Juri verließ der Mut. Warum gaben sie sich so viel Mühe und fuhren nach Berlin, um Hannes die Todesnachricht zu überbringen? Vermutlich interessierte es ihn genauso wenig wie der Zustand seiner Wohnung.

»Was gibt es denn so Ernstes?«, fragte Arne und setzte sich neben Hannes auf das Sofa. Er hatte ein besseres Gespür für die Atmosphäre als Hannes.

Juri, der sich mit Kay auf dem Boden niedergelassen hatte, sah Kay an. Warum fing er nicht an? Kay erwiderte seinen Blick jedoch nur hilflos und zuckte mit den Schultern.

Juri seufzte und wandte sich an Hannes. »Wir haben schlechte Nachrichten. Es geht um Sascha. Sascha ist tot. Er hat sich in Hamburg das Leben genommen.«

Er verschluckte sich, weil er keine Spucke mehr im Mund hatte. So schwer hatte er sich diese wenigen Sätze nicht vorgestellt. Sie brannten in der Kehle. Er öffnete das Bier, das Hannes ihm in die Hand gedrückt hatte, und schwieg. So wie die anderen auch. Hatten sie die schreckliche Nachricht kapiert?

Arne fing sich als Erster. »Ihr habt mir von Sascha erzählt. Es tut mir sehr leid für euch. Ich kannte ihn ja nicht, aber einen Freund zu verlieren, ist furchtbar. Was ist passiert?«

Juri beobachtete Hannes. Er schien Arnes Worte gehört und verstanden zu haben, aber eine emotionale Reaktion entdeckte er nicht. Oder war die Erstarrung auch ein Gefühl?

»Er hat sich angeblich mit einem Schießkugelschreiber in den Kopf geschossen«, sagte Kay. Er knetete hilflos die Hände und kniff die Lippen zusammen.

»Schießkugelschreiber? Was um alles in der Welt ist ein Schießkugelschreiber?« Hannes runzelte die Stirn.

Nicht die Reaktion, die sie sich erwünscht hatten, aber eine erste Regung.

Von draußen aus dem Innenhof drang Geschrei zu ihnen hinauf. Es nervte Juri. Welche Frau keifte denn da ständig nach ihrem Günther?

»So ganz genau wissen wir das auch nicht. Eine Waffe, die wie ein Kugelschreiber aussieht und nur einen Schuss abgibt.« Juri unterbrach seine Erklärung. War das wichtig? War es nicht viel bedeutsamer, warum Sascha nicht mehr leben wollte?

Arne schien seine Gedanken zu lesen. »Hat er einen Abschiedsbrief hinterlassen?«

Juri und Kay schüttelten gleichzeitig die Köpfe. Sie wussten nur, dass augenscheinlich alles bestens für Sascha gelaufen war. Job, Wohnung, Freundin … hatte es Probleme gegeben? Er hatte nichts erwähnt. Warum hatte Sascha sein Leben beendet?

»Schießkugelschreiber. Das ist verrückt. War er krank? Krebs? Eine Krise? Irgendeine Erklärung?« Hannes trank seine Bierflasche in einem Zug aus. »Egal, das bedeutet nicht, dass wir es drüben nicht schaffen.«

Juri bemerkte, dass Hannes’ Worte nicht zum Zittern seiner Hände passte.

»Kein Krebs. Wir wissen nur, was die Freundin, Ex-Freundin, seinem Vater am Telefon erzählt hat. Es war schwierig für ihn. Angeblich hat die Stasi ihn auch in Hamburg bespitzelt«, sagte Kay.

Juri warf ihm einen mahnenden Blick zu. Das tat doch jetzt nichts zur Sache.

»Was?«, echauffierte sich Kay, dem der Blick nicht entgangen war. »Stimmt doch!«

»Die Stasi in Hamburg?«, fragte Arne. Das interessiert ihn offensichtlich brennend, denn er setzte die Bierflasche ab und fixierte Kay. »Vielleicht hat sich euer Freund gar nicht selbst umgebracht.« Er dachte einen Moment über seine eigenen Worte nach. »Sie sind so mächtig. Die Stasi schafft das. So nach dem Motto: Seht her, im Westen geht man vor die Hunde!« Arne gestikulierte aufgeregt. »Ich meine, ein Schießkugelschreiber. Echt jetzt. Das klingt doch total nach Stasi.«

»Ein Mord, um angehende Republikflüchtlinge zu frustrieren? Das ist selbst für die Stasi ein bisschen happig!« Hannes schüttelte den Kopf. »Also ich lass mich deswegen nicht von meinem Ausreiseantrag abbringen.«

Draußen schrie die Frau. Juri stand auf, um das Fenster zu schließen. Hannes erhob sich ebenfalls und rannte wortlos in die Küche. Er kam nach wenigen Sekunden mit einem Plastikschlauch Milch zurück. Er drängte Juri beiseite, der gerade das Fenster schloss, riss es wieder auf und warf die Milchtüte aus dem dritten Stock auf die schreiende Frau. Juri sah aus dem Fenster hinunter. Der Schlauch klatschte tatsächlich neben der Frau auf den Boden auf und bespritzte sie in hohem Bogen mit Milch. »Ihr Schweine!«, schrie sie, stürzte aber aus dem Hof.

Hannes schloss das Fenster. »Jetzt haben wir Ruhe, die Milch war eh sauer.«

Juri seufzte. Hannes war genauso erschüttert und von der Rolle wie alle, aber er gab es nicht zu.

»War Sascha nicht euer Kumpel, der die Fotos in der Leipziger Straße aufgenommen hat?«, fragte Arne.

Juri drehte sich um und nickte. Er lehnte sich gegen die Fensterbrüstung.

»Wie lange hat er gesessen, bevor der Westen ihn freigekauft hat? Ist vielleicht eine Möglichkeit«, sagte Arne.

»Hä?« Juri verstand nicht, worauf er hinauswollte.

»Dafür zu sorgen, in den Bau zu kommen, um freigekauft zu werden!«

»Sascha hat über ein Jahr gesessen«, antwortete Juri bissig. »Anfangs sogar in Hohenschönhausen. Entweder bist du hart wie Beton, oder du zerbrichst. Vergiss es!«

Arne zuckte mit den Schultern und wandte sich ab.