34 . Kapitel

OstBerlin, Oktober 1985

H annes wanderte ruhelos in der Wohnung auf und ab. Kay und Juri hatten als Überbringer der schrecklichen Nachricht Kraft gelassen und schliefen tief und fest. Selbst Arne lag schnarchend in seinem Schlafsack in einer Ecke des Wohnzimmers. Samstagabend. Hannes sah auf die Uhr. Noch nicht einmal Mitternacht. Wie konnten sie schlafen? Er war so wach wie ein Rennpferd in der Startbox.

Vielleicht hatte er unbeteiligt gewirkt, als er von Saschas Tod hörte. Aber er verarbeitete nur langsam, was die Jungs ihm an den Kopf geworfen hatten, so unglaublich war die Wahrheit. Sascha erschossen? Tot! Mit einem Schießkugelschreiber? Er ballte die Fäuste und tigerte in der Küche umher. Warum hatte Sascha das getan? Was war so unerträglich gewesen? Hatte es keinen Ausweg gegeben? Irgendeinen? War etwas in seiner Haftzeit passiert, was ihm den Lebensmut genommen hatte? Sie hatten nie mit ihm sprechen können, wussten nicht, was er in der Haft durchlitten hatte. Trotzdem war Hannes aufgebracht, dass Sascha keinen besseren Weg gefunden hatte, mit seinen Problemen umzugehen. Er war erbost, dass er seine Kumpels nicht um Rat gefragt hatte, dass er sie mit all ihren Fragen zurückließ und sie keine Antworten darauf erhielten. Stinksauer, dass Sascha nicht bedacht hatte, was das für seine Familie und Freunde bedeutete, oder falls doch, hatte es seine Entscheidung offensichtlich nicht geändert. Der Idiot.

Er suchte in der Küche ein sauberes Glas, hielt es unter den Wasserhahn und trank gierig. Auch diese kleine Abkühlung half nicht.

Er ahnte, weswegen er so zornig war. Es war nicht nur die Traurigkeit über diesen sinnlosen Verlust, die Tatsache, dass Sascha diesen letzten Ausweg gewählt hatte, der keiner war. Das Gefühl der Hilflosigkeit. Vielleicht sogar der Schuld. Irgendwo in seinem Hinterkopf regte sich auch eine Stimme, die kritisierte, dass die Krisen und Aktionen der Freunde seinen Ausreiseantrag und damit seinen eigenen Lebensentwurf gefährdeten. Das war vermutlich nicht besonders solidarisch, aber die anderen waren es auch nicht. Warum hielten sie, verdammt noch mal, nicht zusammen? Jeder definierte Freundschaft und Zusammenhalt anders, aber es gab doch eine gemeinsame Basis. Welche war das? Ihr Anderssein? Ihr Hang zur Freiheit? Er war ein Eigenbrötler. Ein Einzelkämpfer. Sicher. Aber die anderen auch. Und trotzdem waren sie Mitglieder der einzigartigen indischen Reisegruppe, und das durfte niemand vergessen. Sascha hatte sich offenbar nicht mehr zugehörig gefühlt. Und dass die Zwillinge blind ins Verderben gestürmt waren, enttäuschte ihn ebenso. Auf wen war Verlass? Er musste sich doch auf seine Freunde verlassen können, sonst hatte es überhaupt keinen Zweck, Freundschaften einzugehen! Auf seine Freunde musste er sich stützen, sonst würde er das bisschen Orientierung verlieren, das er besaß.

Er drehte das Wasserglas in den Händen und sah hinein, als lägen dort die ersehnten Antworten.

Hatte jemand bei Saschas Tod nachgeholfen? Wer und warum?

Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Er fuhr so elektrisiert herum, dass er Arne fast eine runtergehauen hätte.

Arne sah ihn verwirrt an. »Ich hatte einen echt derben Traum. Wir sind verhungert. In Ostberlin eingekesselt, und es kam keine Nahrung mehr. Nichts, gar nichts.«

»Das war kein Traum«, blaffte Hannes. »Kartoffeln kannst du kaufen, aber intellektuelle Nahrung ist hier Mangelware.«

Arne setzte sich seufzend auf den zweiten Küchenstuhl. Er strich sich die langen Locken aus dem Gesicht und sah ihn ernst an. »Wollen wir noch ein bisschen raus und uns abreagieren?«

»Es regnet.« Hannes war noch nicht besänftigt. Die Herbstsonne der letzten Wochen hatte einem nervigen Regen Platz gemacht.

Arne sah aus dem Fenster. »Nieselregen, das ist gleich vorbei.«

Hannes nickte. Einen klaren Kopf zu bekommen war keine schlechte Idee.

Sie ließen die Tür leise hinter sich zufallen, um Kay und Juri nicht zu wecken. Sie schlenderten ohne Ziel durch den Prenzlauer Berg und hingen ihren Gedanken nach. Der Nieselregen hatte aufgehört. Hannes mochte den Duft, den der Regen auf dem wenigen Grün hinterlassen hatte.

»Warum, glaubst du, hat er es getan?«, fragte Arne.

»Warum er sich erschossen hat? Es gibt Hunderte Gründe und am Ende doch keinen einzigen!« Hannes holte tief Luft. Es fühlte sich alles irreal an. Sascha tot. Wie begriff man das? Kognitiv kein Problem, aber emotional? Sie hatten sich lange nicht mehr gesehen oder gesprochen. Sascha spielte in seinem Leben kaum noch eine Rolle. Und doch gehörte er in seine Biografie. Wie lebte man damit, dass dieser Teil seiner eigenen Lebensgeschichte ein jähes Ende gefunden hatte?

»Ich frage mich, was er wohl in seinen letzten Minuten empfunden hat? Hatte er Angst, oder war es im letzten Moment alles glasklar und erlösend?« Arne sah ihn an.

Hannes zuckte mit den Schultern. Für ihn war es unerklärlich. Sascha hatte es doch geschafft, alles erreicht, wonach die ganze Clique strebte. Und er warf sein Leben weg? Wäre es genauso gekommen, wenn Sascha in Rostock geblieben wäre? Hätte die indische Reisegruppe es verhindert? So viele quälende Fragen. Eine Woge der Hilflosigkeit überschwemmte ihn.

»Komm, gehen wir nach Hause. Es fängt schon wieder an zu regnen«, sagte er und fasste Arne am Arm.

»Warte, lass uns zum Checkpoint fahren.« Arne lächelte ihn an. »Es sind nur ein paar U-Bahn-Stationen, und wir gucken in den Westen.« Er zögerte. »Vielleicht bist du Sascha dort näher?«

Sie standen direkt vor dem U-Bahn-Eingang Rosa-Luxemburg-Platz . Hatte Arne deshalb die Idee? Hannes hatte keine Lust, in die U-Bahn zu steigen. Andererseits hatte er auch keinen Bock mehr darauf, stets den einfachen Weg zu wählen. Er nickte und spürte selbst die Last dieser winzigen Entscheidung. War womöglich der Wunsch, in den Westen zu kommen, auch keine Lösung seiner Probleme? Hätte er dort die gleichen Entscheidungsschwierigkeiten und die quälende Antriebslosigkeit?

Die Bahn war gefüllt mit gut gelaunt kichernden Jugendlichen auf dem Weg zu einer Party. Eine stark nach Alkohol riechende Frau schlief mit dem Kopf an die Scheibe gelehnt. Sie schnarchte. Für sie war der Abend gelaufen. Die Jugendlichen drehten gerade erst auf.

Sie fuhren bis Stadtmitte und trotteten die letzten Meter bis zum Checkpoint. Hier waren nur wenige Menschen unterwegs. Der Regen vertrieb Nachtschwärmer und dämmte die Geräusche der Autos. Die Absperrungen vor dem Checkpoint waren verwaist. Auch die Grenzer hockten lieber in ihrem trockenen Wachhäuschen.

»Lass uns umkehren«, knurrte Hannes. »Das wird mir echt zu schmuddelig.«

»Ich muss kurz noch was erledigen. Warte hier einen Moment. Beweg dich nicht von der Stelle«, sagte Arne. »Egal, was passiert, klar?«

Hannes grunzte und kam nicht mehr dazu, Arne zu fragen, was schon wieder los war, als Arne über den nass glänzenden Asphalt Richtung Kontrollbaracke rannte.

»Hey, warte!« Hannes schrie ihm hinterher, bewegte sich aber keinen Schritt vorwärts. Was um alles in der Welt hatte der Kerl jetzt schon wieder vor?

Direkt vor der ersten Baracke kam ein Volkspolizist aus dem Häuschen gestürzt und auf Arne zu. Hannes stöhnte auf. Ein Typ mit wallender Mähne und Parka – das war zu auffällig, als dass die Grenzer nicht sofort in Habachtstellung gingen. Arne war davon nicht beeindruckt, denn er schob den Posten beiseite und marschierte auf die Ausweiskontrolle zu. Hannes traute seinen Augen nicht. Nach ein paar Schritten stellten sich ihm zwei Grenzer mit Maschinenpistolen in den Weg.

Hannes vergaß das Atmen und starrte auf die Männer. Was, wenn sie Arne vor seinen Augen töteten?

Einer der Grenzer griff das Gewehr fester.

Legte er jetzt an? Oh Gott! Hannes hyperventilierte plötzlich. Was tat der Idiot da? Das war Kamikaze! Zum Schreien war es zu spät. Hinterherlaufen? Dann wäre er ebenso Zielscheibe wie Arne. Er ballte die Fäuste. Deshalb hatte Arne ihn hier stehen gelassen! Damit er nicht in das Geschehen eingriff und zu Schaden kam. Arne hatte weder Hilfe gewollt noch jemanden, der ihn zurückhielt. Verdammte Scheiße! Die Wut giftete in ihm. Zwei Freunde, die ihr Leben wegwarfen. Warum taten sie das?

Von seinem Standort hörte Hannes nicht, was Arne mit den Grenzposten sprach. Er sah jedoch, wie sich sein Mund bewegte. Hoffentlich erklärte er sein merkwürdiges Verhalten, redete sich raus, lullte sie mit einer abstrusen Geschichte ein. Und vielleicht schickten sie ihn nach Hause. Hannes klammerte sich an den Gedanken, obwohl er ahnte, dass es anders kommen musste. Er sah, wie Arne in seine Hosentasche griff und seinen Personalausweis zückte. Das blaue Büchlein war selbst auf diese Entfernung deutlich zu erkennen.

»Oh Gott, ich glaub nicht an dich, habe ich noch nie, aber wenn es dich gibt, tu etwas! Verdammt. Sofort!«, flehte Hannes, die Fingernägel schmerzhaft in den Fäusten gekrallt.

Wieder sprach Arne. Die Grenzer bellten unverständliche Befehle und drängten ihn zurück.

Hannes’ Herz raste. Er sah sich um. Beobachtete ihn jemand? Wussten sie, dass Arne zu ihm gehörte? Hatten die Schergen die Waffen auch auf ihn gerichtet?

Nein. Nichts Verdächtiges um ihn herum. Die wenigen Passanten hatten offenbar von dem Drama, das sich vor ihren Augen abspielte, nichts mitbekommen. Ihm rollten die ersten Schweißperlen die Schläfen hinunter. Vielleicht war es auch nur der Regen. Hannes zweifelte an seinem Verstand. Das passierte doch nicht wirklich?

Die Grenzer legten hektisch die Gewehre an, als Arne vor ihren Augen seinen Personalausweis zerriss und die Fetzen in die Luft warf.

Unfassbar! Besiegelte er damit sein Schicksal, und es würden gleich tödliche Schüsse fallen?

Hannes presste die Hand vor den Mund, um nicht zu schreien. Er stierte, ohne zu blinzeln, zu Arne. Was tat der blöde Hirni da? Er bettelte förmlich darum, dass die Grenzer auf ihn schossen!

Die Posten packten Arne und drehten ihm beide Arme auf den Rücken. Arne leistete keinen Widerstand. Sie schrien ihn an, bellten Befehle, führten ihn ab. Sie schleiften ihn zu einem Trabant Kübel, stießen ihn hinein, sprangen hinterher und gaben Gas.

Arne war weg. Einfach weg. Das war doch verrückt. Hatte Hannes das alles nur geträumt? Er wischte sich den Regen aus dem Gesicht. Klatschte sich eine Ohrfeige an die Wange. Er zitterte, ihm war kalt, er war nass, aber er war nicht verrückt. Arne hatte die Grenzer bis aufs Blut gereizt. Warum hatte er sich dazu hinreißen lassen? Warum hatte er Hannes zugucken lassen? Brauchte er Zeugen oder Bewunderer? Das war doch alles total surreal. Trotzdem mischte sich in Hannes’ Angst für einen Sekundenbruchteil auch Bewunderung. Arne war verrückt. Er provozierte, machte es immer anders als andere, und er hatte es den widerlichen Grenzern gezeigt. Er hatte ihnen vorgeführt, was er von diesem Staat hielt. Nichts. Nicht mal so viel, dass er seinen Personalausweis behielt. Er wollte nicht in diesem Land leben. Hannes wollte das auch nicht, sollte er also gleichziehen? Jetzt hinübergehen und das Ganze noch einmal von vorne. Wenn sie das alle täten? Die Bürger Ostberlins? Wenn sie einmal im Leben alle zusammenhielten? Die blöden Schergen wären machtlos. Was wollten sie denn tun, wenn das Volk sich auflehnte und das Land verließ?

Hannes drehte sich um und schlich nach Hause. Er hatte sich in Ostberlin eingerichtet. Er arbeitete nur, wenn er Lust hatte, genoss die kleinen Freiheiten der großen Stadt, Nachtleben und Kneipen und war darüber hinaus aus dem Einflusskreis seiner Mutter entkommen. Er hielt es noch eine Weile aus. Jedenfalls solange seine Eltern ihm Geld überwiesen.

Und eines war ihm leider jetzt auch ganz klar. Er war kein Fluchttyp. Er hatte nicht genug Mut. Er würde keinen Ballon basteln, um den Weg durch die Luft zu wählen, ein Unterwasserboot bauen, um durch irgendein Meer zu gelangen. Er würde sich nicht in den Kofferraum eines Autos quetschen, nicht durch Tunnel krabbeln oder irgendeine neue Form der Flucht erfinden. Er nicht. Er war … es tat weh, aber … er war antriebslos und feige.

Er hasste sich dafür.