35 . Kapitel

Im Zug nach Rostock, Oktober 1985

W aren sie vor zwei Tagen nach Berlin gefahren, um Hannes die Nachricht von Saschas Tod zu überbringen, saßen Kay und Juri schon wieder in einem Zug zurück nach Rostock. Juri hockte blass ihm gegenüber, und Kay war froh, dass sie das Abteil für sich hatten. Obwohl sich das schmutzige Fenster nicht öffnen ließ, hielten sie die Tür geschlossen. Sie hätten ungestört sprechen können, nur hatten beide im Moment keinen Bedarf, sich auszutauschen. Zu viel stürmte auf sie ein. Wenn Kay an die letzten Monate zurückdachte, schwindelte ihm. Dennoch würde er sich nicht verkriechen, denn er musste Peggy so schonend wie möglich beibringen, was sich Arne am Checkpoint Charly eingebrockt hatte. Sie war so oft für ihn da, nun würde sie Halt brauchen.

Hannes hatte ihn und Juri aus dem Schlaf gerissen. Sie hochgezerrt und atemlos und regennass berichtet, was sich gerade am Checkpoint Charly abgespielt hatte. Arne war verhaftet worden. Von einer Sekunde auf die nächste. Was hatte ihn zu dieser Aktion veranlasst? Hatte er keinen Gedanken an Peggy und Murmel verschwendet? Kay hatte Hannes nicht geglaubt und war zur Wohnzimmerecke gewankt, um Arnes Schlafsack hochzuheben. Niemand darunter. Hannes hatte verbittert aufgelacht. So eine wahnwitzige Geschichte erfand er nicht. »Es ist passiert. Heute Nacht.«

Juri war noch benommen von Saschas Tod und verkraftete das neuerliche Fiasko um Arnes Verhaftung nicht besonders gut. Er hatte sich gestern bei Hannes mehrfach übergeben. Kay warf seinem Freund einen Blick zu. Viel besser sah er immer noch nicht aus.

»Geht’s?«

Juri sah auf und lächelte schwach. »Warum hat er das getan?« Er schluckte. »Ich denke immerzu daran, dass wir hier sitzen könnten, um Peggy eine Todesnachricht zu überbringen.«

Kay nickte. Sosehr Peggy auch in sich ruhte, wie würde sie es verkraften, dass ihre große Liebe und Vater ihres Babys im Gefängnis saß? In diesem Staat war eine Verhaftung beinahe schon ein Todesurteil. Vor allem für Arne, der jede Form der Unterordnung und Gängelei ebenso sehr hasste wie eine Party ohne Alkohol und im FDJ -Hemd.

Ein paar Stunden später saßen sie in Peggys kargem Wohnzimmer. Murmel schlief, und Peggy ahnte sicher, dass dies kein Vergnügungsbesuch war. Zu ernst ihre Mienen, zu schuldbewusst flackerten ihre Blicke durch das Zimmer. Gott sei Dank hatten sie den Prof und Mina getroffen und beide hatten sich ihnen sofort angeschlossen. Ehrensache. Sie waren vollkommen verdattert, als sie die Neuigkeiten von Arnes Provokation am Checkpoint Charly hörten.

»Wie seht ihr denn aus? Komm, Mina, wir kochen uns einen Kaffee!« Peggy lachte. Sie nahm Mina die Packung Mokka-Fix ab, die sie mitgebracht hatte.

Juri und der Prof nickten dankbar. Kay war sich sicher, dass Peggy die Sorge verdrängte, die der Besuch ihrer Freunde ausgelöst hatte. Sie bettelte mit ihrer fröhlichen Stimme um eine letzte Gnadenfrist. Gott sei Dank ignorierte Mina Peggys Aufforderung und setzte sich aufs Sofa. Die anderen taten es ihr nach. Kay hielt es keine Sekunde länger aus, Peggy im Ungewissen zu lassen. Halbsätze und einsame Worte sprudelten aus ihm heraus. Nicht langsam. Nicht geordnet. Nicht einfühlsam. Dann lagen die harten Fakten auf dem Tisch. Niemand hatte sich bewegt. Es hatte wohl doch nicht halb so lange gedauert, wie es Kay vorgekommen war.

Peggy starrte ihn an. Er sah den Schmerz ihre Augen verdunkeln. Und den Trotz. Er hätte sie so gerne in die Arme geschlossen, aber sie versteifte den Rücken, und er wusste, sie würde sich von niemandem anfassen lassen.

»Du wusstest nichts, oder?«, flüsterte er. »Er war eine spontane Idee von ihm? Er hat die Nachricht von Sascha …«

»Ich hatte keine Ahnung«, unterbrach sie seine jämmerlichen Erklärungsversuche. »Arne bringt mich und sein Baby niemals in Gefahr. Aber womit habt ihr ihn provoziert?«

Kay war perplex. Glaubte Peggy ernsthaft, sie hätten Arne zu dieser Dummheit angestiftet?

»Wir hatten auch keine Ahnung. Es ging nur um Sascha. Und dann …«, stammelte Kay. Er sah sich Hilfe suchend zu Juri um. »Wir waren nicht eingeweiht, ehrlich nicht«, beteuerte er.

Juri nickte. »Wir waren überrumpelt. Wir haben über Saschas mögliche Gründe gesprochen, sich umzubringen. Ich meine, ihr kennt Sascha ja nicht mal. Du und Arne. Ihr … wir haben von unserem letzten Kontakt zu Sascha, von dem Telefonat, erzählt. Sonst nix.«

»Arne hatte sicher seine Gründe«, antwortete Peggy. Sie zitterte und strich sich mit der Hand immer wieder über ihren Schenkel. »Er hat mir nichts gesagt, damit ich ihn nicht davon abhalte. Was ich im Übrigen auch nicht getan hätte. Es ist seine Entscheidung. Er kalkuliert vermutlich, sich von der BRD freikaufen zu lassen und mich und Murmel nachzuholen. Kein übler Plan, oder?« Sie warf ihre Haare nach hinten und stand auf.

Kay kaufte ihr diese aufgesetzte Fröhlichkeit keine Sekunde ab. Sie war tief verletzt und überspielte es. Sprungbereit stand sie da, jeden anzugreifen, der es wagte, ihr zu nahe zu kommen. Es verblüffte Kay, wie Peggy Arnes Handeln stets rechtfertigte. Glaubte sie wirklich, dass er keine Schwächen hatte? Sah sie nicht, wie unfähig er war, eine feste Bindung einzugehen?

Peggy schürzte die Lippen, als läse sie seine Gedanken. »Ich zwinge ihn nicht.«

Kay spürte, wie er blass wurde. Sie hatte natürlich recht. Sie verstand, was er nicht wahrhaben wollte. Sie liebte Arne so, wie er war. Auch wenn es nicht nach ihrem Willen ging. Ihm die Daumenschrauben anzusetzen, hätte seine Liebe oder seine Bindung zu ihr nicht vergrößert. Ihre bedingungslose Akzeptanz nötigte ihm Respekt ab. Er nickte.

»Scheiße, Peggy, das ist ein doofer Plan. Die hätten ihn fast erschossen«, platzte es aus dem Prof heraus, der von dem unausgesprochenen Zwiegespräch zwischen Peggy und Kay nichts mitbekommen hatte.

»Findet ihr nicht auch, dass unser Haufen arg gebeutelt ist?«, fragte Kay und sah in die Runde. »Da passiert ein bisschen viel auf einmal. Ich habe …« Er brach ab. Wäre jetzt der richtige Zeitpunkt, über das zu sprechen, was ihm durch den Kopf spukte? Er schaute Peggy an. Ihr Lächeln war wie weggewischt, und er sah die stillschweigende Warnung in ihren Augen. Sie hatte schon einmal nichts von seinen Hypothesen über einen Denunzianten innerhalb des Freundeskreises hören wollen, und das galt auch heute. Hatte er das Recht, ihr noch mehr zuzumuten? Aber durfte er schweigen?

»Ich habe Angst, dass wir vollends unter die Räder kommen.« Er holte tief Luft. Der nächste Satz änderte alles. »Was ist, wenn in unserem Kreis jemand Informationen weitergibt?« Er ließ die Schlussfolgerung bleischwer im Raum hängen.

Peggy setzte sich mit einem Seufzen.

Mina kicherte hysterisch. Alle sahen zu ihr hinüber. Die Reaktion passte weder zur Situation noch zu Mina. Und Kay kapierte, dass sie nicht kicherte, sondern schluchzte.

»Wie kommst du denn darauf?«, wiegelte der Prof ab, während er Mina in den Arm nahm.

Kay durfte jetzt nicht auf halber Strecke abbrechen. Hier saßen seine besten Freunde. Wenn er seine Gedanken nicht mit ihnen besprach, mit wem dann? »Ich habe schon die ganzen Tage über die Aussage von Sascha gegrübelt. Und mir ist etwas eingefallen. Ich weiß aber nicht, ob es relevant ist.«

»Jetzt red schon, du Spinner. Erst der große Aufriss, und dann hörst du auf?« Juri war genervt und hielt damit nicht hinter dem Berg. Seine Augen blitzten. Auch ihm ging das Gespräch an die Substanz. Kay wusste ja, dass es nicht der geeignete Zeitpunkt war, aber dafür gab es eben keinen passenden Moment. »Ich meine die Geschichte mit dem Eisbären. Ich glaube, ich weiß, worauf Sascha angespielt hat.«

»Ach ja, worauf denn?« Auch der Prof klang nicht begeistert.

»Erinnert ihr euch noch an die Geschichte mit dem Mädchen, die ich mal nach einem Klub-Abend abschleppen wollte?«

»Nee!« Juri rollte genervt mit den Augen.

Kay schielte zu Peggy hinüber, die wortlos ein Taschentuch zwischen den Händen zerknüllte und sich jetzt doch an Mina anlehnte. Ein wenig Trost und menschliche Wärme in diesen kühlen Zeiten.

»Es ist schon ein paar Jährchen her. Als der Prof so wild getanzt hat, dass er in den Tisch gekracht ist, an dem die …«

»Komm zur Sache«, unterbrach ihn Juri.

»Jedenfalls zog sie einen Pelzmantel an, als wir abschwirrten. Also kein echter Pelz, aber so ein Kunstding in Weiß. Sie sah aus wie eine russische Prinzessin. Oder …«

»… ein Eisbär«, sagte der Prof und war plötzlich aufmerksam.

»Ich wollte sie unbedingt küssen. Aber es war ehrlich abtörnend, dass ihr Parfum irgendwie nach Maggi roch.«

»Und?«, fragte der Prof.

»Mensch, ich hätte mich an die Tante gar nicht mehr erinnert, wenn sie nicht später aufgeflogen wäre.«

»Aufgeflogen? Hä?« Juri starrte ihn entgeistert an.

»Das war Gesine, die Freundin von dem Proll aus der Rocker-Clique. Na ja, jedenfalls habe ich erfahren, dass sich Gesine ein paar Wochen später verplappert hat. Die war seit der achten Klasse ein IM und hat ihre ganze Truppe ans Messer geliefert. Detlef ist ihretwegen sogar in den Bau gekommen. Habt ihr das vergessen?« Kay endete erschöpft. Allein die Erinnerung setzte ihm zu. Das Mädchen war schon seit Kindertagen eine Informantin. Wer sollte das verstehen?

Den anderen dämmerte es langsam. Selbst Mina hörte auf zu weinen und starrte ihn mit tränennassen Augen an.

»Ich erinnere mich«, murmelte der Prof. »Du meinst, auf diese alte Geschichte hat Sascha angespielt? Das wäre aber weit hergeholt …« Er brach ab.

»Sascha hat sich damals köstlich amüsiert, als ich gesagt habe, dass die Frau wie Suppe riecht. Ich habe die nie mehr wiedergesehen, aber als wir hörten, dass sie ein Spitzel war, haben wir noch mal über sie gesprochen.« Kay schüttelte den Kopf. Er wäre mit der Braut fast ins Verderben gestürzt.

»Bist du sicher, dass das ein Hinweis von Sascha war?«, hakte der Prof nach.

»Der Eisbär riecht nach Suppe. Das passt doch. Dass die Stasi die Telefonate mithört, wissen wir, deshalb hat er seine Botschaft verschlüsselt.« Kay schluckte. Seine eigenen Gedanken galoppierten ihm davon.

Peggy stand auf und zog alle Blicke auf sich. »Jetzt ist aber genug. Eisbär, Spitzel, einer von uns. Ihr spinnt doch. Woher sollte Sascha überhaupt wissen, dass wir bespitzelt werden, ihr Schlaumeier? Sascha war im Westen, schon vergessen?« Peggy stemmte die Hände in die Hüften. Darauf hatte Kay auch keine Antwort. Aber er fand seine Gedanken nicht so unlogisch, wie Peggy es darstellte. Vielleicht hatte Sascha in seinen Verhören etwas erfahren? Oder sogar im Westen. Wer wusste das schon?

»Und was hat das alles mit Arne zu tun?«, fragte sie. »Er ist nicht verraten worden. Er hat sich entschieden. Er ist mutig. Er kämpft für seine Ideale und Träume!« Peggy stand schon in der Tür zur Küche. »Was ist jetzt mit Kaffee?«

»Ich habe nicht vergessen, was mit meinem Seefahrtsbuch passiert ist«, sagte Kay mit Nachdruck. »Und mit Sascha und den Zwillingen. Da ist was gelaufen, ich weiß nur noch nicht, was und wie. Und das werde ich herausbekommen.« Seine Gedanken waren ausgesprochen und gehört worden. Niemand konnte sagen, er hätte nichts geahnt. Peggy lehnte sie ab, den Prof hatte er nachdenklich gestimmt, und Juri war wie vor den Kopf geschlagen. Aber keiner von ihnen wischte die Idee vom Tisch.

»Ich habe nichts Falsches getan. Ich habe keine Regeln gebrochen. Ich bin in Gedanken nicht konform gegangen. Wenn das jemand verraten hat … mich denunziert hat … kann es nur einer von uns gewesen sein!«

Jetzt hatte er es ausgesprochen. Ein Verräter. Unter ihnen. Der Gedanke wog Tonnen, und Kay trug das Gewicht nicht länger allein.

»Niemals!«, schrie Peggy. »Das darfst du nicht denken. Kay, niemand würde dich verraten und dich von der Seefahrt abhalten, das ist absurd!« Sie unterstrich ihren Ärger mit abgehackten Gesten. »Deine Freunde stehen zu dir. Daran darfst du nicht zweifeln.«

Aber er zweifelte. Und damit verlor er nicht nur die Seefahrt, sondern nun auch seine Freunde.