Rostock-Parkentin, Oktober 2016
D as Lagerfeuer loderte in hohen Flammen.
Kay erwiderte den Gruß des Verräters nicht. Er fühlte sich nicht mal in der Lage, auch nur seinen Namen zu denken. Er nannte ihn seit Jahrzehnten nur den Verräter. Der Denunziant, der sie alle ins Verderben gerissen hatte. Er starrte ihm trotzig ins Gesicht. Sollte er nur kommen, Kay war bereit. Doch der Verräter drehte ab und ging zu den Tischen, um sich ein Bier zu holen. Kay sah ihm nach. Der Feigling!
Die Frauen standen dicht gedrängt beisammen, rauchten und tranken Whiskey-Cola. Wie gingen sie mit dem Verlust um? Drifteten sie auseinander, da ihnen der Ankerpunkt fehlte?
Beim Anblick der Frauen, des Feuers, des alten Ofens und beim Duft nach gegrilltem Wildbret durchdrang ihn ihr Verlust noch schmerzlicher. Es waren nicht nur die Tränen der anderen, die den Unterschied zu ihren sonstigen Zusammenkünften markierte. Es war das Grüppchen Frauen, das hilflos dastand. Das Fehlen ihres Lachens. Die Seele, die nicht mehr über diesem Ort lag.
Auch damals hatten ihn die Verluste zermürbt. Sein Seefahrtsbuch war weg. Sascha war tot. Die Zwillinge in Haft. Arne hatte sinnbildlich mit dem Feuer gespielt und war ebenfalls im Gefängnis gelandet. Kay war damals zu jung gewesen, um dem Ansturm der Gefühle standzuhalten.
Und heute?
Trotz aller Erfahrungen hatte ihn nichts auf diesen neuerlichen Verlust vorbereitet. Fing man immer wieder von vorne an? Gewöhnte man sich nicht an Gefühle? Wahrscheinlich nicht. Gefühle lebte man, wenn sie aufkamen.
Sascha war plötzlich und unerwartet gestorben. Durch einen Schießkugelschreiber. Woher kannte er eine solche Waffe? Wer hatte sie ihm besorgt? Sein Vater hatte erzählt, der Kugelschreiber habe wie ein Bolzenschussgerät gewirkt. Sascha habe noch längere Zeit gelebt, denn in der ganzen Wohnung sei Blut gewesen. Unvorstellbar grausam. Was musste passiert sein, dass er sich das antat? Oder hatte es doch die Stasi arrangiert und in einen grauenhaften Mord umgesetzt?
Sie hatten es nie herausbekommen. Sie hatten nie Einblick in Saschas Stasi-Akten nehmen dürfen, und sein Vater wollte es nicht, denn er war von einem Suizid überzeugt. Er glaubte, dass die Haft Sascha gebrochen habe. Dann sei vielleicht Liebeskummer hinzugekommen … Ohne seinen Rückhalt, seine Familie, seine Freunde … hatte die Katastrophe ihren Lauf genommen.
Er hatte die Urne mit Saschas Asche nach Rostock geholt, beerdigt und war in Schwermut versunken.
Hatte der Verräter damals begriffen, was er ihnen allen angetan hatte? Hatte er ein schlechtes Gewissen? War es ihm egal? Spürte er irgendetwas?
Damals hatte Kay gedacht, er wäre am Tiefpunkt angekommen.
Wie naiv er gewesen war.
Wie unvorbereitet auf das, was kam.