Rostock, März 1986
D as Jahr 1985 verging, ohne dass Kays Verdacht neue Nahrung erhielt. Die Stimmung in der geschrumpften Freundesrunde blieb gedrückt. Zu viel war passiert. Sascha war tot, die Zwillinge und Arne im Gefängnis. Arne würde noch bis Sommer nächsten Jahres in Naumburg einsitzen. Die Freunde hatten keinen Kontakt zu ihm, nur Peggy durfte ihn ab und an besuchen.
Kay arbeitete weiterhin auf der Barkasse Pelikan . Jeden Morgen fuhr er von der Insel Dänholm nach Strahlsund und brachte die Arbeiter zur Werft. Zum Feierabend holte er sie zurück. Er war ein Seemann, der nur ein paar Steinwürfe weit schipperte und dort, wo die Seefahrt begann, wieder umkehrte. Er kam sich vor wie ein Rennfahrer auf dem Sitzrasenmäher.
Ein Telefonanruf aus dem Büro des Bauhofs änderte sein tristes Dasein. Die Reederei bot ihm an, auf die Barkasse Kranich zu wechseln.
»Sie wohnen doch in Rostock. Wir brauchen in Warnemünde sofort einen Schiffsführer.«
Kay sagte flinker zu, als der Mann seinen Satz zu Ende gesprochen hatte.
Die Kranich belieferte die Schiffe auf der Ostsee, die auf Reede lagen. Sie brachte die Post, setzte die Besatzung über, wenn sie wechselte, und hatte den Auftrag, Transporte der Crew zu Arztbesuchen zu organisieren. Die Kranich war eine Edelbarkasse, die schnieke herausgeputzt auch für Repräsentationsfahrten des Generaldirektors der Reederei zum Einsatz kam. Kay war sich nicht sicher, ob es ein Hoffnungsschimmer war oder das Wohlwollen eines einzelnen Mitarbeiters in der Reederei. So oder so wechselte er liebend gern nach Warnemünde und sagte Stralsund Ade.
Er gab sich eine Woche Zeit, seine Arbeit auf der Pelikan zu übergeben und sich um eine PM 19 zu kümmern – eine Genehmigung, die Kay gestattete, sich mit der Kranich außerhalb der Dreimeilenzone auf der Ostsee zu bewegen. Nur so erreichte er die weit draußen auf Reede liegenden Schiffe. Es war diese Genehmigung, die sich in Kays Kopf festsetzte. Das war doch ein Fünkchen Vertrauensbeweis? Rückte sein Seefahrtsbuch in erreichbare Nähe?
Und tatsächlich ging es langsam bergauf. Seine Stimmung besserte sich, denn die Arbeit auf der Kranich bedeutete, hinaus auf die Ostsee zu fahren. Seine Augen tasteten das Meer ab, das mit seinem rauen Charme seine Erinnerungen an die Seefahrt wachrief.
Heute war der letzte freie Sonntag, bevor er morgen wieder seinen vierzehntägigen Schichttörn antreten würde. Es war einer dieser wolkenverhangenen Tage im März, an denen man kaum erahnte, wann die Sonne aufging und wieder unterging. Es blieb grau in grau. Trotzdem hielt ihn nichts zu Hause in der engen Wohnung seiner Eltern. Aus Juris Plänen, eine eigene Bleibe für ihn in der Rostocker-Hausbesetzerszene zu organisieren, war noch nichts geworden. Vielleicht käme er jetzt einen Schritt weiter, wo er wieder regelmäßig in Rostock war?
Er gab zu, bislang hatte ihm der Elan gefehlt. Er verbrachte seine wenige freie Zeit mit der indischen Reisegruppe und half Peggy bei der Renovierung ihrer Wohnung.
Auch Peggy veränderte sich durch das Kind und durch Arnes Inhaftierung. Immer öfter ließ sie Gespräche über Kays finsteren Verdacht zu. Entweder war es ihre Art, ihm zu helfen und ihn nicht infrage zu stellen, oder er hatte sie überzeugt, dass an seinen Überlegungen etwas dran war.
Verrat. Viele seiner Gedanken drehten sich um dieses Wort. Der Eisbär. Der Eisbär riecht nach Suppe . Kay war sich sicher, dass Sascha ihm gesagt hatte, dass es einen Verräter unter ihnen gab. Er fand auch keine andere Erklärung, warum man ihm das Seefahrtsbuch entzogen hatte. Jemand hatte ihn denunziert und Unwahrheiten über ihn verbreitet.
Was bedeutete es, ein Geheimnis zu verraten? Jemanden zu verraten?
Das Wort hatte eine ganz neue Bedeutung erhalten. Bislang hatte Kay es für ein gefälliges Wort gehalten. Ich verrate dir etwas … war das nicht eine Art Vertrauensbeweis? Das war doch ein Kompliment, wenn einem jemand etwas Geheimes verriet. Man selbst bedankte sich bei dem anderen, indem man sein Geheimnis bewahrte. Nie war ihm in den Sinn gekommen, dass jemand, dem er sich anvertraute, dies nutzen könnte, um ihm zu schaden. Was hatte derjenige auch davon? Worin lag sein Vorteil?
Auch auf diese Frage hatte er noch keine befriedigende Antwort gefunden. Alle Vorteile, die er sich erdachte, rechtfertigten nicht den Vertrauensbruch.
Trotz des ungastlichen Wetters brauchte er frische Luft, um nachzudenken. Er bestieg den Bus zum Ufer der Stoltera.
An der Steilküste, mit dem endlosen Blick auf das Meer, lüftete er seinen Kopf aus. Er wanderte langsam den Strand entlang. Links die zerklüftete Steilküste, rechts das Meer, von ein paar Schaumkronen geküsst. Es roch nach Tang, Muscheln und Algen, dem typischen Ostsee-Duft. Er bückte sich nach einem flachen Stein und ditschte ihn über die Wasseroberfläche. Eher sinnlos bei dem Wellengang, und der Stein versank auch sofort.
Sie waren eine Clique von Freunden, die seit der ersten Schulklasse durch dick und dünn gestrauchelt waren. Manchmal fragte Kay sich, warum sie in dieser Konstellation Freunde geworden waren. Der Prof, Juri und er – da gab es Chemie, ein unsichtbares Band, das sie zusammenschweißte. Aber wieso gehörten die chaotischen Zwillinge dazu? Der furchtsame Oliver? Hannes, die Nervensäge? So oder so, sie schlossen sich keiner Initiative an, sie vereinte kein umweltpolitisches oder anderes Thema. Sie hatten keinen gemeinsamen Auftrag und gehörten keiner Kirche an. Sie hatten keine höheren Ideale, sie holten nur das Beste aus ihrem Leben heraus und halfen sich gegenseitig, so unterschiedlich sie auch waren. Sie waren unangepasst und unbeugsam.
Kay war nicht blauäugig. Selbst in Familien saßen Spitzel. Aber er war bislang davon ausgegangen, dass die Stasi ein Druckmittel gegen diese Menschen in der Hand hatte. Der Ehemann, der fremdgegangen war und eher spitzelte, als seiner Ehefrau den Seitensprung zu beichten. Größere Verfehlungen, die dazu führten, dass die Stasi eine Drohkulisse aufbaute und so versuchte, den Einzelnen zu erpressen. Vielleicht gab es sogar Überzeugungstäter, die meinten, die sozialistische Gesellschaftsordnung der DDR sei allen anderen Gesellschaftsordnungen moralisch überlegen und müsse geschützt werden. Die Andersdenkenden waren Feinde, die es zu bekämpfen galt. All das wäre möglich. Doch nicht in der indischen Reisegruppe! Es gab nichts, was die Stasi als Druckmittel hätte verwenden können, da außer Kay sein Seefahrtsbuch niemand ernsthaft etwas zu verlieren hatte. Welches Kleidungsstück stahl man einem Nackten?
Sie waren jung, wild und dem Staat gegenüber zu kritisch eingestellt. Na und? Das waren viele. Warum sollte einer seiner Freunde ein Denunziant sein? Es gab keinen Grund. Vielleicht jemand im weiteren Umfeld? Der eine oder andere, der in der Mensa oder im Lindeneck ihre Nähe gesucht hatte, war eventuell verdächtig. Die Jungs hatten diese Typen abblitzen lassen oder so lange mit Belanglosigkeiten vollgequatscht, bis sie das Interesse verloren. Aber ein Judas im innersten Zirkel?
Und doch merkte Kay, wie er jeden seiner Freunde auf den Prüfstand stellte.
Er ging im Geiste die gemeinsamen Jahre durch und suchte nach Anzeichen, die sich als möglicher Angriffspunkt oder gar Hinweis auf einen Verrat deuten ließen. Er fand … nichts. Nichts, was ihn überzeugt hätte. Oder auch: Er fand zu allen Freunden irgendetwas, was man gegen sie auslegen könnte. Er fand sogar Hinweise gegen sich selbst. Sie waren nicht politisch jungfräulich, nicht unfehlbar im Denken und Handeln. Menschen waren eben Menschen. Mit all ihren Stärken und Schwächen.
Da war etwas in seinem Gedächtnis, was ihm entschwunden war. Etwas, das er schon früher einmal bemerkt und nicht weiter beachtet hatte. Er bekam es nicht zu fassen.
Er seufzte.
Sascha war der Erste ihrer Gruppe gewesen, der einen Fluchtversuch gewagt hatte. Wobei er genau genommen nur über die Mauer geguckt hatte. Er hatte ins verbotene Land gesehen und war dafür ins Gefängnis gesteckt worden. Er war definitiv kein Verräter. Im Gegenteil. War er verraten worden? Von einem aus der Gruppe? Aber sie hatten nichts von seiner Aktion gewusst.
Kay setzte sich auf einen der Natursteine, die zu einer lang gestreckten Buhne vom Strand ins Meer aufgeschichtet waren.
Arne und die Frauen waren erst nach Saschas Aktion zu ihnen gestoßen. Peggy und Mina waren Kolleginnen von Oliver. Sie arbeiteten in demselben Krankenhaus, und Oliver war ihnen täglich dort begegnet. Es hatte gedauert, bis er sich getraut hatte, sie einmal in den Studentenklub zum Tanzen einzuladen. Seine beste Idee überhaupt. Hatte die Stasi die Frauen auf die Gruppe angesetzt? Unwahrscheinlich, aber möglich. Arne hatten sie alle zusammen beim Tanzen kennengelernt. Hatte er es darauf angelegt? Hätte er Peggy geschwängert, wenn er ein Spitzel wäre? Na ja, das eine hatte vielleicht nichts mit dem anderen zu tun. Geheiratet hatte er sie jedenfalls nicht.
Allerdings hieß das nicht, dass sie alle unschuldig waren. Denn selbst wenn Saschas Verhaftung ein Zufallstreffer der Stasi war, war es möglich, dass einer von ihnen dafür gesorgt hatte, dass Kay sein Seefahrtsbuch verlor. Peggy oder Mina? Er schüttelte den Kopf. Er war mit Mina liiert gewesen. Heute liebte Mina den Prof und verriet ihn nicht. Und Peggy? Peggy war über jeden Zweifel erhaben! Sie hätte auch keine Vorteile durch einen Verrat.
Wie genau kannte er Arne? War Arne nicht von allen Verdächtigungen frei, weil er diese unvorstellbare Provokation am Checkpoint Charly unternommen und im Bau gelandet war? Aber vielleicht war das alles nur vorgetäuscht? War die Stasi so perfide, dass sie sich groß inszenierte Geschichten erdachte? Nur um ein paar Informationen über eine unwichtige Gruppe junger Menschen zu erhalten? Unwahrscheinlich, uneffektiv und unrealistisch.
Aber warum zum Teufel kümmerte sich Arne so wenig um Peggy und sein Kind? Und was hatte es mit seiner Familie auf sich? In Budapest hatte er noch erzählt, dass sie eine große Familie mit vielen Geschwistern ohne viel Geld seien. Getroffen hatte Kay die Geschwister nie. Auch bei Arne zu Hause war er nie gewesen. Das hatte Arne zu verhindern gewusst. Absichtlich. Er hatte sich gewunden. Hatte er sich geschämt oder hatte er etwas zu verbergen? Er hatte preisgegeben, dass sein Vater schwer malochte. Er wäre zwar klug, hätte aber in diesem System keine Chance. Ja, sinngemäß hatte er das erzählt. Forscher sei der Vater. Peggy hatte aber genau das Gegenteil berichtet. Die Familie habe ordentlich Geld, weil sein Vater im Rat der Stadt arbeite. Warum erhielt Peggy keinen Unterhalt für Murmel? Wenn Arnes Vater im Rat der Stadt arbeitete, war er in der Partei. Oder noch schlimmer: Er arbeitete für die Stasi?
Kay hob mehr Steine auf und warf sie ins Wasser. Arne war kein Denunziant. Er war mit allen Wassern gewaschen, ja. Aber egal, was Arne vor ihm geheim hielt, es war sein gutes Recht. Hatten sie nicht alle Geheimnisse? Aber er hatte einige Geheimnisse geteilt: Er hatte Kay sogar mitgenommen, als er Literatur aus dem Westen schmuggelte. Das war doch ein Vertrauensbeweis? Er spürte es, sie lagen auf einer Wellenlänge. Oder war das nur ein Köder? Ausgelegt, damit er anbiss und Arne vertraute?
Als der Wind auffrischte, erhob sich Kay und erklomm das Steilufer, um zu dem Imbiss zu wandern, der von oben einen weiten Blick über Strand und Ostsee erlaubte.
Die Zwillinge. Waren sie ungeschickt gewesen, oder hatte sie jemand verraten? Es war klar, dass sie nach dem Einberufungsbescheid türmen wollten. Jedenfalls waren sie im Knast gelandet. Sie lieferten definitiv keine weiteren Informationen. Hatten sie vor ihrem Fluchtversuch noch dafür gesorgt, dass sein Seefahrtsbuch … aber wie? Sie hatten einen NVA -Einberufungsbescheid vorgeschoben. Leisteten Denunzianten ihren Militärdienst ab? Genau genommen hatte er den Einberufungsbescheid nie gesehen. Gab es ihn wirklich? Die Zwillinge. Sie waren … sie hätten sich im Suff verquatscht und sich selbst enttarnt. Oder nicht?
Kay eilte den Strand entlang. Es kam ihm alles so lächerlich vor. Was tat er? Seine Freunde zu beschuldigen war gemein, unnütz und alles andere als freundschaftlich. Es war böse. Und er hasste das System, das ihn zu einem Mann geformt hatte, der seine Freunde argwöhnisch betrachtete, statt ihnen blind zu vertrauen.
Hannes war derjenige in der Gruppe, der Kay die meisten Fragezeichen aufgab. Er war anders als er selbst. Es gab ein Band, das sie hielt, aber da war auch eine Art Konkurrenz, die Kay nicht verstand. Neidete Hannes ihm die Seefahrt? Er hatte es nie offen zugegeben, aber Kay hatte die Anzeichen bemerkt. Ständig hatte er ihn aufgezogen mit seinen vermeintlichen Privilegien und gleichzeitig betont desinteressiert gewirkt. Stellte ein Denunziant einen Ausreiseantrag? Den Ausreiseantrag hatte er natürlich nie gesehen. Es könnte eine Lüge gewesen sein, um als unverdächtig zu gelten. Aber in Ostberlin saß Hannes zu weit weg, um die Gruppe zu bespitzeln. Hannes war schon weg gewesen, als die Stasi Kay von Bord schickte. Zufall? Oder hatte er sich aus der Schusslinie gebracht, damit kein Verdacht auf ihn fiele? Aber wie hätte Hannes von Berlin aus Interna verraten sollen? Die Informationswege waren kompliziert. Telefon gab es für sie nicht, und Briefe schrieben sie selten. Erst wenn sich jemand in den Zug setzte, flossen die Nachrichten. So war es bei Saschas Tod gewesen und auch bei Arnes Fluchtversuch am Checkpoint Charly.
Hannes kannte die Fluchtgedanken der Zwillinge. Andererseits war Hannes derjenige gewesen, der gewarnt hatte, allzu offen zu sprechen, und er hatte stets versucht, die Zwillinge zu schützen. Wollte Hannes gar nichts hören, um nichts an die Stasi verraten zu können?
Kay war an dem kleinen Kiosk angekommen. Er fror. Nicht wegen des scharfen Windes, sondern wegen seiner eisigen Gedanken. Zu seiner Erleichterung hatte der Kiosk geöffnet. Kay war nicht der einzige Gast. Ein paar der Stehtische waren besetzt. Er stellte sich an die Luke und bestellte eine Bockwurst und einen Becher Kaffee. Das würde ihn wärmen.
Er suchte sich einen freien Stehtisch mit Blick auf die See, löffelte eine Portion Senf auf die Wurst und erinnerte sich plötzlich an den sonnigen Nachmittag vor ein paar Jahren, als die indische Reisegruppe in Teterow beim Motocross-Rennen zugesehen hatte. Sie hatten alle eine Bockwurst in der Hand, kleckerten ordentlich mit Senf herum. Sie saßen auf einem Wiesenhang, Stühle waren Fehlanzeige. Wie immer gab es einen Querkopf, der sich nicht setzte, sondern stehend die Sicht versperrte. Die Ersten riefen schon, dass er sich setzen solle. Der glatzköpfige Mann, der einen Schuljungen an der Hand hielt, ignorierte alle lauter werdenden Rufe. Bis Juri der Kragen platzte. Er nahm den Rest seiner Bockwurst, tunkte sie noch einmal tief in den Senf und warf sie nach dem Glatzkopf. Es waren knapp vier Meter, und der Wurf war recht ordentlich. Das Geschoss traf den Kerl am Kopf und hinterließ einen gut sichtbaren Senffleck. Alles hielt den Atem an. Gäbe es gleich eine Keilerei? Der Mann ließ sich nichts anmerken. Gar nichts. Er stand unbewegt und starrte nach vorne. Bis … ja, bis der kleine Junge laut und deutlich sagte: »Du, Papa, da ist Senf in deinen Haaren.«
Es setzte ein Gelächter ein, das die Motoren übertönte. Senf in den Haaren des Glatzkopfs. Da verlor auch der Mann die Fassung, schnappte sich das Kind und zog es im Stechschritt vom Hang hinunter.
Juri, sein bester Kumpel. Sein Rückhalt. Sein Unterstützer. Er hatte zu Kay gehalten und ihn gestärkt, an ihn geglaubt. Ein Verräter? Niemals. Juri hatte den Freundschaftsschwur ausgegeben: Ewige Freundschaft – bis dass der Tod uns scheidet! Klar, Juri hatte eine große Klappe. Immer vorneweg. Immer für eine Schandtat zu haben. Auch materiell gut versorgt. Aber sein Vater hatte Kontakte, das war kein Geheimnis. Überhaupt machte Juri aus seinem Herzen keine Mördergrube. Das war ja einer seiner vielen sympathischen Züge. Man wusste, woran man mit ihm war. Erst letzte Woche hatte Kay bei ihm und Romy den Abend verbracht, und sie waren aus dem Lachen gar nicht wieder herausgekommen.
Juri war seit neun Monaten vom Militärdienst zurück, aber es gab immer noch Anekdoten, von denen er nicht berichtet hatte. Meist fing er an mit: »Hab ich dir eigentlich erzählt …« So auch an diesem Abend. Er erzählte, warum er kurz vor Ende seiner Dienstzeit noch einmal versetzt worden war. Das hatte Kay zwar mitbekommen, aber in seinem eigenen persönlichen Unglück nie nachgefragt, warum Juri wechseln musste.
»Sie haben mich während einer Nachtwache erwischt, als ich den Westsender NDR 2 hörte. Es lief gerade die Hitparade. Ich war kurz abgelenkt und hab nicht mitbekommen, wie der Wachführer hinter mir stand.« Er zuckte mit den Schultern. »Pech. Ich durfte die letzten Monate nicht mehr im Wachturm sitzen. Wegen Tears for Fears! Das war so ungerecht, es lief Shout! Was sollte ich denn machen, das musste ich mitsingen, oder?« Er ignorierte das Gelächter von Romy und Kay. »Ey, wenn ich die beiden Jungs jemals persönlich treffe, verklickere ich denen, was ihr Song mich gekostet hat!«
Kay hatte mitgehalten und erzählt, dass er fast von der Kranich geflogen wäre, wenn er nicht noch in letzter Sekunde das Ruder herumgerissen hätte. Der Einsatzleiter am Funk hatte einen hohen Beamten der Sowjetunion angekündigt und Kay gebeten, eine Rundfahrt vorzubereiten. Klar, kein Problem. Kay ließ seine dreckige Jeans und das alte Hemd an, da ein russischer Beamter sicher froh war, wenn seine Uniform mehr hermachte als die eines kleinen Skippers. Als ein Lieferwagen mit den kalten Platten voller prall belegter Schnittchen vorfuhr, fragte Kay sich schon, für wen sie so ein Brimborium veranstalteten, aber bitte. Dass jedoch schwarze Limousinen vorfuhren und unauffällig auffällige Typen aus den Wagen stiegen, machte ihn nervös.
Er griff zum Funkgerät und fragte nach: »Sicher ein russischer Gast?«
»Wieso Russe?«
»Du hast doch SU gesagt!«
»Nein, nicht SU , sondern US !«
Kay nahm sich keine Zeit zu antworten, sondern warf sich in eine saubere dunkelblaue Hose, weißes Hemd mit Rangabzeichen und Krawatte und grölte seinem Decksmann Heino zu: »Umziehen! Umziehen!«
Er hatte schweißnass, aber freundlich lächelnd den amerikanischen Gast an Bord willkommen geheißen.
Was hatten sie gegrölt. Es war ein lustiger Abend unter besten Freunden.
Kay knüllte die Pappschale seiner Bockwurst zusammen und drehte sich auf der Suche nach einem Mülleimer herum. Er sah direkt in die Augen eines Mannes, der an einem der Nachbartische stand. Ohne Essen. Ohne Trinken. Beobachtete ihn der Kerl? Er lächelte ihm nicht zu, sondern ging an ihm vorbei zum Mülleimer. Nur nicht paranoid werden. Er stellte sich zurück an seinen Stehtisch, legte die Hände um den Becher, um sich zu wärmen, trank noch einen Schluck Kaffee und versuchte, den Typen hinter sich zu ignorieren.
Wenn nicht Juri, dann vielleicht Oliver? Der ängstliche Oliver, der immer knapp bei Kasse war und solo durch das Leben tourte. Er hatte sich mit seinen Krankentransportfahrten keinen Gefallen getan. Es verging kaum ein Monat, in dem er nicht mit den Nerven am Ende war, weil er einen Patienten transportiert hatte, dessen Krankheit auf ihn übergesprungen war. Was hatten sie schon gelacht: Herzinfarkt, Schlaganfall, aber auch Krätze und Borreliose. Nichts davon trat ein, aber Oliver lebte eine Zeit lang in tiefster Sorge vor dem Ende seiner irdischen Anwesenheit. Während die Männer sich prächtig amüsierten, hatten die Frauen Verständnis und sorgten sich um ihn. Eine Freundin war trotzdem noch nicht dabei herumgekommen. Oliver wäre sicher derjenige der Gruppe, der am erpressbarsten war. Er böte keinen Widerstand. Aber womit erpresste man das Kerlchen? Mit einer ansteckenden Krankheit? Außerdem hatte er weder von Sascha noch von den Zwillingen gewusst. Jedenfalls hatte Kay nicht mitbekommen, dass Oliver in irgendetwas eingeweiht gewesen wäre. Oliver war zusammengebrochen, als der Wirt des Lindenecks von der Inhaftierung Saschas erzählte. Aus Schuldgefühlen? War ihm klar geworden, was für einen Schaden die Informationen, die er weitergetragen hatte, angerichtet hatten? Oder war er nur entsetzt über das Schicksal eines guten Freundes gewesen?
Kay brachte seinen leeren Kaffeebecher zur Klappe zurück. Der Typ stand immer noch an dem Stehtisch und starrte Löcher in die Luft. Kay sah ihn sich genau an. Wenigstens das Gesicht wollte er sich merken, um auf Nummer sicher zu gehen. Tauchte die Visage noch mal in seiner Nähe auf, wäre alles klar. Er schlenderte zur Bushaltestelle.
Blieb nur noch der Prof. Ebenso unvorstellbar. Allerdings hatte er Kay schon einmal verraten! Als er ihm die Freundin ausgespannt und keinen Ton gesagt hatte. Er wollte ein Freund sein? Scheiße, ja, er war trotzdem sein Freund. Immer gewesen. Und wenn er ganz ehrlich zu sich selbst war, wusste Kay heute, ein Jahr später, dass er in Mina verliebt gewesen war – Liebe war es nicht. Die hatten der Prof und Mina miteinander gefunden.
Und damals am Flughafen auf dem Weg nach Budapest? Devisenschmuggel und keine Verfolgung, keine Anzeige, keine Strafe. War das üblich? Oder verfügte er über besondere Verbindungen? Was bedeutete das? Alles und nichts. So kam er nicht weiter. Es hatte keinen Zweck. Vermutlich ließen sich sogar Momente in ihren gemeinsamen Jahren finden, in denen man Kay als Verräter verdächtigen könnte.
Er hatte auch keine Lust, sich seine eigene Biografie zugrunde zu grübeln. Jeder Satz und jede Handlung seiner Freunde ließ sich in jede beliebige Richtung drehen. Es sprach sowohl für sie als auch gegen sie. So schredderte er nur sein eigenes Herz. Und doch wusste er, dass er das Leck finden und stopfen musste, bevor er sich aus der Deckung wagte. In seinem Kopf manifestierte sich ein Plan.
Als der Bus kam, wunderte er sich nicht mehr, dass der Kerl vom Stehtisch die letzten Meter lief, um noch in den Bus zu springen.
Die Stasi überwachte ihn.