38 . Kapitel

Rostock, Oktober 1986

K ay hatte keine Zukunft mehr in diesem Land. Er hatte es versucht, aber er konnte nicht mehr. Was war das für ein Leben, wenn man unter seinen eigenen Freunden einen Verräter vermutete? Was war das für ein Leben, in dem er Angst vor der Stasi hatte, die ihn bespitzelte, die Freunde drangsalierte und sie ins Gefängnis steckte? Die Stasi inhaftierte seine Freunde, weil sie das Land verlassen wollten. Hatte der Staat nicht versprochen, seine Bürger zu schützen? Ihn ließen sie nicht einmal seinen Beruf ausüben. Und sie verfolgten ihn. Er hatte den Typen vom Ufer der Stoltera noch einmal in Warnemünde an der Pier gesehen. Vielleicht war er paranoid, aber wahrscheinlicher war, dass die Stasi ihn beobachtete. Wozu?

Kay hatte sich entschieden. Es hatte noch etwas gedauert, aber jetzt saß er am Schreibtisch und schrieb seinen Ausreisewunsch auf ein Blatt Papier. Offiziell gab es weder die Ausreise noch ein entsprechendes Antragsformular dafür. Aber seinen Willen, die DDR zu verlassen, sollte der Rat der Stadt schriftlich vorliegen haben. Die Stasi wusste ohnehin durch den Verräter, dass Kay die Schnauze voll davon hatte, in diesem Land zu bleiben. Ab heute würde er sein Leben ändern.

Vom Schreibtisch sah er in die gegenüberliegenden Häuser. Hier hatte Hannes früher gewohnt – bevor er nach Ost-Berlin gezogen war. Juri und der Prof studierten und hatten feste Freundinnen. Peggy war Mutter. Und er? Er hatte Depressionen und einen zerplatzten Lebenstraum. Er suchte neuen Sinn im Leben, und er glaubte nicht mehr daran, ihn in diesem Land zu finden.

Er sah auf das weiße Blatt Papier und schrieb: Hiermit beantrage ich, Kay Thede, geboren am 23 . 09 . 1963 in Wismar, von Beruf Vollmatrose, die Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik und die gleichzeitige Ausreise aus der DDR zwecks Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland.

Kay adressierte den Brief an den Rat der Stadt Rostock.

Ob das ausreichte? Musste man eine Begründung abgeben, und wann tat man das? Vermutlich nicht zu früh, sonst hätte er sein Pulver verschossen, oder? Er suchte ein selbstbestimmtes Leben, aber das schrieb er besser nicht. Vermutlich war im Westen auch nicht alles Zuckerschlecken, doch offensichtlich kamen die meisten Menschen in der BRD zurecht. Sicher, es gab Menschen ohne Arbeit, es gab Kriminalität. Aber es gab eben auch ein Demokratieverständnis und die Freiheit zu reisen. Er hatte nie von einer Massenflucht aus der BRD gehört. Die Menschen fuhren in den Urlaub und kehrten heim. Vielleicht würde das sogar in der DDR funktionieren, wenn der Staat seine Bürger nicht so bevormunden würde. Der Staat glaubte, er wüsste besser, was für die Menschen gut sei, als die Menschen selbst, und das funktionierte nun mal nicht mit eigenständig denkenden Bürgern.

Die Arbeit auf der Kranich war ganz in Ordnung, aber mehr nicht. Das Verlassen des Hafens führte ihm täglich vor Augen, dass die Fahrt für ihn bereits nach einer halben Stunde endete. Er wollte mehr vom Leben. Viel mehr! Er hatte mit Hannes, dem Prof und Peggy gesprochen. Keiner hatte ihn abhalten wollen, alle unterstützten ihn. Sie hatten keine Angst vor Repressalien. Vor allem den Prof und Juri könnte es treffen, waren sie doch Studenten an der Uni. Was, wenn die Stasi ihnen das Studium verwehrte, weil sie mit einem Staatsfeind verkehrten? Wenn der Staat an ihnen seinen Zorn ausließe, wäre Kay machtlos. Was, wenn sie seiner Schwester schadeten? Trotzdem hatten seine Familie und Freunde ihn ermutigt, diesen Weg einzuschlagen.

Er hatte sich gefragt, wie Hannes unbeschwert und ohne von der Stasi verfolgt zu werden, in Ost-Berlin lebte. Er hatte keine Arbeit, keine offizielle Wohnung, und die Eltern waren bereits in Rente. Er hatte nichts zu verlieren. Aber warum gab es keine Anfragen der Stasi an seine Freunde? Hatte er womöglich gar keinen Antrag gestellt, oder wurde so ein Antrag schlichtweg nicht bearbeitet?

Kay wischte die Zweifel beiseite. Er wusste, jemand stand quer im Stall. Er musste wissen, wer es war. Wenn er das herausbekäme, dann würde er handeln. So die Theorie. Ob er in der Praxis den Mut hätte, müsste sich erst noch erweisen. Zu einem Fluchtversuch reichte sein Mut jedenfalls nicht. Die Aussicht, womöglich dabei zu sterben, lähmte ihn. Obwohl er es kaum länger aushielt: in dieser Wohnung, diesem Land, in diesem Leben.

Am nächsten Tag fuhr Kay wie jeden Morgen zum Dienst. Die Barkasse Kranich lag an der Kaimauer im Alten Strom in Warnemünde. Die alten Kapitänshäuser, die die Flaniermeile am Alten Strom säumten, strahlten weiß in der Sonne und ließen nicht erahnen, welch besonderer Tag Kay heute bevorstand. Er wollte Vorgesetzten und Kollegen die Karten auf den Tisch legen und sie über seinen Ausreiseantrag informieren. Es hatte keinen Zweck, damit zu warten, bis ihn jemand anschwärzte. Er hatte sich ein paar Sätze überlegt und war entschlossen, jede Reaktion auszuhalten. Auch potenziellen Anfeindungen wollte er trotzen.

Tatsächlich überraschten ihn seine Kollegen. Sie nickten und gaben ihm mal mehr, mal weniger subtil zu verstehen, dass sie seine Entscheidung respektierten.

»Das Seefahrtsbuch einzuziehen, da haben sie dir jungem Kerl übel mitgespielt.«

Es freute ihn, dass die Kollegen ihn wenigsten in moralischer Hinsicht unterstützten. Als Nächstes rief er seinen Vorgesetzten in der Versorgungsflotte an. Dazu lief er die Kaimauer hinunter zum Bahnhof, zu der Telefonzelle. Neben der Barkasse Kranich gehörten vier weitere Schlepper zur Versorgungsflotte der Reederei: die Scholle , Rochen , Recknitz und Dorsch . Sein Vorgesetzter war der Chef der Flotte und saß im Stadthafenbüro in Rostock. Kay steckte die Groschen in den Münzschlitz, hob den Hörer von der Gabel und wählte die Nummer, die er sich auf einen Zettel geschrieben hatte. Freizeichen. Er holte tief Luft. Es war richtig, was er tat. Nervös wippte er von einem Fuß auf den anderen. Als Kay die tiefe Stimme seines Vorgesetzten durch den Hörer donnern hörte, atmete er tief durch und erinnerte sich an seine Sätze.

»Chef, ich wollte Ihnen mitteilen, dass ich einen Ausreiseantrag gestellt habe. Sie wissen, ich will unbedingt wieder zur See fahren.«

Der Vorgesetzte schwieg einen Moment. Und Kay fragte sich schon, ob sich eine weitere Erklärung lohne, als er doch noch antwortete.

»Kommen Sie sofort in mein Büro!«

Bevor Kay etwas erwidern konnte, legte er auf.

Kay seufzte. Er hatte nichts anderes erwartet. Ein Glück, dass er zuerst mit den Kollegen gesprochen hatte. Sie wunderten sich vermutlich nicht mal, wenn er nicht zurück an Bord käme. Alle wussten Bescheid. Er hatte sich mit dem mächtigen Staat angelegt, und das war eine blöde Idee.

Im Büro des Vorgesetzten erschien Kay alles irreal. Der sonst so zugewandte Mittvierziger sah ihn kaum an. »Sie arbeiten nicht länger auf der Kranich . Sie arbeiten nirgendwo!« Er trug im scharfen Tonfall vor, dass er die PM 19 aus dem Safe holen und einziehen würde, als sei Kay der Staatsfeind Nummer eins. »Sie sind gekündigt, Ihre Grenzerlaubnis behalten wir ein. Lassen Sie sich hier nicht mehr blicken, klar?«

Kay schluckte. Jetzt ahnte er, warum ihm die Genehmigung der Sicherheitsbehörden zum zeitweisen Befahren der nahen Küstengewässer, die PM 19 , nie ausgehändigt worden war. Die hätte er nicht freiwillig abgegeben. Jeder Schiffsführer benötigte diese Genehmigung, und ihm war gerade nicht nur das Schiff entzogen worden, sondern auch die Funktion des Schiffsführers.

Er hatte nicht nur das Seefahrtsbuch verloren, sondern ab sofort auch Berufsverbot.

Wäre es nicht so vorhersehbar gewesen, dass sie Kay als Feind behandelten, hätte er jetzt einen Wutanfall bekommen. Aber er lag bereits am Boden, und ein totes Pferd ließ sich bekanntlich nicht reiten.