39 . Kapitel

Rostock, Dezember 1986

T atsächlich passierte zunächst nicht viel. Kay langweilte sich zu Hause und hörte nichts von der Abteilung für Inneres. Er überlegte, wann er seinen Ausreiseantrag erneut schriftlich bekräftigen sollte, kam aber zu keinem Ergebnis.

Nach Wochen kam die gleichermaßen ersehnte wie gefürchtete Postkarte. Kay habe sich »zur Klärung eines Sachverhaltes« im Rat der Stadt einzufinden. Acht Wochen. So lange hatten sie ihm signalisiert, dass sie ihn nicht ernst nahmen. Er wusste, dass er niemals eine Eingangsbestätigung seines Schreibens bekäme, aber sie hatten ihm diese Vorladung geschickt und damit zugegeben, dass sie seinen Brief erhalten hatten. Kay lächelte. Ein erster Etappensieg. Nun hieß es, die Verhöre durchzustehen, denn wenn er einknickte, wäre alles umsonst gewesen.

Zwei Tage später schlich Kay im Herbstnebel zu dem Gebäude, in dem der Rat der Stadt untergebracht war, und suchte das richtige Zimmer. Er klopfte zum angegebenen Termin an eine triste braune Tür. Auf das »Herein« öffnete er sie und stand in einem deprimierenden Büro. Linoleumfußboden, schäbiger brauner Schrank mit braunem Vorhang und ein Schreibtisch. In der Ecke zwei Polsterstühle an einem winzigen Tisch. Selbst die Gardine vor dem Fenster war braun. Kay war sich sicher, dass eine schwere Depression nicht zu vermeiden war, wenn man tagein, tagaus in diesem Kabäuschen hockte und Menschen schikanierte. Fast tat ihm der Mann, der hinter dem Schreibtisch saß, leid. Andererseits löste sein Anblick in Kay heftige Anspannung aus.

»Haferberger. Setzen Sie sich.« Der Mann deutete auf den Stuhl vor dem Schreibtisch. Ein simpler Holzstuhl – ohne Polster. Eine kleine Lampe brannte.

Kay setzte sich dem Mann mit den exakt gescheitelten weißen Haaren, der schwarzen Hornbrille, dem schäbigen Anzug mit breiter Krawatte und dem obligatorischen Parteiabzeichen am Revers gegenüber. Er musterte den ungefähr sechzigjährigen Stasi-Offizier unverhohlen, denn er hatte sich geschworen, sich nicht einschüchtern zu lassen. Und dass er einem Stasi-Mitarbeiter gegenübersaß, da war er sich sicher.

»Ich habe hier ein merkwürdiges Schreiben von Ihnen. Das ist überschrieben mit Ausreiseantrag . Wie kommen Sie denn darauf, dass wir so einen Zettel bearbeiten?«

Kay holte tief Luft. »Ich stelle einen Antrag auf ständige Ausreise aus der DDR in die Bundesrepublik Deutschland.« Er hatte sich vorgenommen, möglichst kurz zu antworten, um keine Angriffsfläche zu bieten.

»Das ist abwegig. Das vergessen Sie mal gleich.«

Kay schüttelte den Kopf.

»Ihr Anliegen ist lächerlich. Es ist außerdem formlos.«

»Geben Sie mir den Antrag zur ständigen Ausreise, und ich fülle ihn aus.«

»So einen Antrag gibt es nicht.«

»Dann bearbeiten Sie meinen Wunsch formlos. Mein Antrag bleibt. Ich will die offizielle Erlaubnis zur Ausreise.«

Hinter der dicken Hornbrille zuckte Haferbergers Augenlid.

Das erste Kräftemessen verbuchte Kay zu seinen Gunsten, trotzdem schwieg er. Er wusste nicht mit Sicherheit, ob es einen offiziellen Antrag gab. Hannes hatte, wie er sagte, seine Anträge formlos gestellt und war darüber hinaus eine unsichere Quelle.

Hatte Haferberger wirklich gezuckt? Kay war sich nicht mehr sicher. Die Miene des Mannes war undurchdringlich, sein Augenlid ruhig.

Plötzlich tippte er etwas in die Schreibmaschine, die vor ihm stand. Seine beiden Zeigefinger suchten Buchstabe für Buchstabe die richtigen Tasten. Es dauerte ewig. Aber Kay hielt das Schweigen aus. Dafür war er gekommen. Er hatte im Bekanntenkreis gehört, dass einige schon im ersten Verhör wankelmütig geworden und eingeknickt waren. Das würde ihm auf keinen Fall passieren.

Es dauerte sicher zehn Minuten, ehe Haferberger die nächste Frage stellte. Kay hatte sich nicht getraut, auf seine Armbanduhr zu sehen.

»Weshalb haben Ihre Freunde versucht, unsere Republik zu verlassen?« Erstmals hatte seine Stimme einen nicht zu überhörenden scharfen Unterton.

Kay war verdutzt. Welche Freunde meinte er? Sascha? Die Zwillinge? Arne? Woher wusste er, dass Kay zu ihnen gehörte? Sie bespitzelten ihn tatsächlich! Kein Irrtum mehr möglich. Kay atmete tief ein. Die offizielle Bestätigung schmerzte mehr, als er gedacht hätte.

»Wen meinen Sie?«, fragte er und ärgerte sich, dass seine Stimme nicht mehr fest klang.

»Haben Sie die Herren Carlo und Alexander Richard zur Republikflucht angestiftet?«

Scheiße, er wusste Bescheid. Von wem? Woher wussten die, dass er mit den Zwillingen befreundet war? Verfolgten Sie ihn schon seit dem Fluchtversuch von Ricksen und seinem Zwillingsbruder? Seit eineinhalb Jahren? Er hatte nichts bemerkt.

»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen«, stammelte er.

»Haben Sie die Pläne gemeinsam ausgeheckt?«

Wenn er jetzt Nein sagte, stimmte das zwar, würde Haferberger aber bestätigen, dass er die Zwillinge kannte. Was sollte er antworten? Er spürte, wie ein Schweißfilm seine Haut überzog, obwohl er fror. Er schwieg.

»Dazu fällt Ihnen nichts ein? Was ist mit Ihrem Freund Hannes Krissler? Glaubt er, wir hätten keine Kenntnis, wo er sich in Berlin aufhält?«

Kay spürte, wie die Übelkeit in ihm hochstieg. Es war unmöglich. Das konnte dieser Kerl nicht wissen. Überwachte die Stasi sie wirklich derart intensiv, dass sie alles herausfanden? Wie war das möglich?

»Was glauben Sie eigentlich, mit wem Sie es zu tun haben?«, schrie er plötzlich. »Ausreise, dass ich nicht lache! So wie Ihr Freund es auf dem Weg nach Budapest versucht hat? Mit Geld im Rucksackgestänge, mein Gott, wie primitiv!« Haferberger lehnte sich in seinem Stuhl zurück und betrachtete Kay wie ein ekliges Insekt. »Wir geben uns so viel Mühe mit Ihnen. Diese Mühen nähme die Bundesrepublik nie auf sich.«

Was für ein Themenwechsel! Kay versuchte zu antworten, doch sein Mund war so ausgetrocknet, dass er einen Moment brauchte, bevor er Worte formulieren konnte. »Sie haben mein Seefahrtsbuch eingezogen. Ich habe Berufsverbot.« In Kay regte sich Ärger. Gott sei Dank. Ärger war viel besser als die überbordende Angst. Woher wusste die Stasi das alles?

»Warum wollen Sie zu unserem Feind überlaufen? Haben Ihre Eltern Sie nicht richtig erzogen? Hat Ihnen die Schule nichts beigebracht über diese reaktionären Imperialisten? Was glauben Sie, wer Ihre Schul- und Berufsausbildung bezahlt hat?«

»Die Berufsausbildung hat mir nichts genützt«, erwiderte Kay trotzig.

»Sie haben Ihrem Staat die Treue geschworen. Und es ist meine Pflicht, Vorgängen Einhalt zu gebieten, die dem Aufbau des Sozialismus schaden. Ich nehme Ihr merkwürdiges Schreiben auf keinen Fall ernst.« Er wischte das Blatt beinahe vom Tisch.

Kay schüttelte wieder den Kopf.

»Ihr Freund hat sich in dem ach so tollen Paradies getötet. Und da wollen Sie hin?«

Haferbergers spöttisches Grinsen verunsicherte Kay, und die scharfen, höhnischen Worte schnitten tief ins Herz. Sascha! Haferberger wusste alles. Wer zu Gruppe gehörte und wer was wann getan, gesagt und gedacht hatte. Es gab einen Spitzel in ihrem innersten Kreis! Kay war kurz davor, sich zu übergeben. Ob das schon einmal jemandem passiert war? Hatte schon mal jemand auf den gesprenkelten braunen Linoleumboden gekotzt? Das fiele farblich gar nicht auf. Er schluckte trocken. Erstmals hielt er Haferbergers Blicken nicht länger stand. Er knetete die Hände in seinem Schoß und wusste nicht, was schlimmer war. Der Entzug des Seefahrtsbuches oder das Wissen, dass einer seiner Freunde ein Denunziant war. Unbewusst entfuhr ihm ein Schluchzer. Und das gab ihm den nötigen Ruck. Er musste stark bleiben.

»Ich bekräftige meinen Ausreisewunsch.« Er streckte den Rücken durch. »Ich habe keine berufliche Perspektive, keine Aussicht darauf, wieder zur See zu fahren. Was soll ich in diesem Land?«

Haferberger ruckte sich im Stuhl zurecht, als habe er nur auf diesen Moment gewartet. Er kniff die Augen zusammen und feuerte die nächste Breitseite ab.

»Wie gefiele es Ihnen, wenn Ihre Eltern nicht mehr arbeiten dürften? Ihre Schwester niemals studieren? Dafür sorge ich. Das verspreche ich Ihnen.«

Er tippte wieder in die Schreibmaschine. Endlose Minuten. Kay bereitete sich auf den nächsten Angriff vor. Was hatte Haferberger noch in seinem Köcher? Lange würde er nicht mehr standhalten. Die Schluchzer bebten schon in seinem Körper.

»Gehen Sie«, sagte Haferberger plötzlich.

Diese Wendung kam so unverhofft, dass Kay unsicher war, ob er das richtig verstanden hatte. Er hielt die Luft an. Erst als Haferberger mit der Hand wedelte, traute er sich aufzustehen. Er ging ohne ein Wort. Das hatte er sich vorgenommen. Er würde keinen Abschiedsgruß äußern. Nichts, was auch nur einen Funken Anstand oder Respekt bezeugen könnte.

Und Kay war stolz, dass er es schaffte.

Er zog die Tür hinter sich zu und atmete. Ein und aus. Ein und aus. Zusammenbrechen durfte er später.