Rostock, Juni 1987
D er Erleichterung, den Ausreiseantrag gestellt zu haben, folgte die Ernüchterung. Kay war arbeitslos, ohne Einkommen und vogelfrei. Er hatte sich seine Haare lang wachsen lassen und zahlte keine Beiträge mehr an den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund und die Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft. Er ignorierte deren Aufforderungsschreiben und lebte ohne Krankenversicherung, denn die war mit seinem Arbeitsvertrag erloschen. Er trug das Risiko zu erkranken allein, und er war bereit, alles zu tun, was in seiner Macht stand, um gesund zu bleiben und Geld zu verdienen. Da es offiziell in der DDR keine Arbeitslosen gab, erhielt Kay auch keine finanzielle Unterstützung vom Staat. Es war ihm egal, er wollte durchhalten, bis sich ein Weg auftat, das Land zu verlassen oder rausgeschmissen zu werden.
Er brauchte sein Erspartes auf, verkaufte seine Habseligkeiten auf Trödelmärkten und gab das wenige Geld, das ihm blieb, dafür aus, Mädchen einen Drink zu spendieren und sie in sein Bett zu holen – bis er sich langweilte und die nächste Frau Abwechslung versprach. Aber selbst dieses Vergnügen war nicht komplikationslos zu haben. Seine Mutter hatte sich beschwert, dass jede Woche ein anderes Paar Schuhe vor seiner Tür parkte. Dass er überhaupt Mädchen mit nach Hause bringen konnte, hatte erst ein Umzug der Eltern vor einigen Monaten ermöglicht. Seit sie in eine Zweieinhalbzimmerwohnung gezogen waren, hatte Kay erstmals sein eigenes kleines Reich bekommen, während die Schwester nun mit den Eltern in einem Zimmer schlief.
Als kleinen Nebenerwerb verscherbelte er mit Juri das Obst aus dem Kleingarten seiner Eltern an die Kaufhallen. Sie füllten eine Kinderbadewanne und Marmeladeneimer mit etlichen Kilo Erdbeeren oder Stachelbeeren und fuhren zur nächsten Kaufhalle. Kay brachte das Obst in seiner Arbeitsmontur, die aus einem alten Arbeitshemd der Reederei und einer Cordhose bestand, zur Anlieferungsstelle hinter dem Laden. Dort nahmen die Angestellten die Ware in Augenschein, er legte seinen Personalausweis vor und den Nachweis, woher das Obst kam. Die Kleingartensiedlung Frischer Wind, in der seine Eltern den Garten hatten, war bekannt für leckeres Obst. Ein Kinderspiel. Er erhielt eine Quittung, mit der sie ihm Geld an der Kasse aushändigten. Kay steckte das Geld pfeifend ein und suchte den wartenden Juri. Die Geldübergabe verlief voller Vorfreude, denn Juri wartete keine zehn Minuten, bis die Stachelbeeren in der Auslage standen und er sich als erster Kunde die Ware ansah. An dem Obststand, an dem sonst nur Kartoffeln, Rot- und Weißkohl, Zwiebeln oder Orangen aus Kuba ihr Dasein fristeten, bildete Kays Obst die aufsehenerregende Ausnahme.
»Wie viel Stachelbeeren haben Sie denn?«, fragte er die auspackende Verkäuferin.
»Na, so an die zehn Kilo, schätze ich.«
Juri strahlte die Frau in der weißen Kittelschürze an, griff sich frech eine Frucht heraus, um sie zu probieren, und sagte mit seinem charmantesten Augenaufschlag: »Ich nehme sie alle!«
»Herrje, was fängt man denn mit so vielen Stachelbeeren an?«, fragte die Verkäuferin beeindruckt.
»Na, Stachelbeerwein herstellen. Vorzüglich, sage ich Ihnen.« Er zwinkerte ihr zu und flirtete noch ein Weilchen, damit sie ihm die gesamte Ware herausgab.
Irrsinnigerweise war der Preis, den Juri in der Kaufhalle dafür zahlte, niedriger als das Geld, das Kay für den Verkauf des Obstes erhalten hatte. Die Kaufhalle kaufte hochpreisig, um überhaupt ein Obstangebot vorweisen zu können, und gab es dann günstig wieder ab. Verstehen konnten sie das nicht, aber sie teilten sich den Gewinn und fuhren mit den zurückgekauften Stachelbeeren zur nächsten Kaufhalle.
Manchmal mehrfach am Tag.
So führten sie das System und die Mangelwirtschaft ad absurdum und lachten insgeheim über den Staat und seine Regeln. Und Kay spürte einmal mehr, wie wichtig es war, in der Krise gute Freunde zu haben.
Auch die Parole des Landes, »Plane mit, arbeite mit, regiere mit!«, war blanker Hohn. Jede von Kays Initiativen, Geld zu verdienen, stempelte ihn zum Provokateur. Wenn er sich für Jobs vorstellte und erwähnte, dass er einen Ausreiseantrag gestellt hatte, beschimpften oder belehrten die potenziellen Arbeitgeber ihn, manche versuchten sogar, ihn einzuschüchtern. Nur selten ergab sich für kurze Zeit Gelegenheit, etwas zu verdienen. Als Pförtner in der Frauenklinik oder als Hotdog-Verkäufer für weniger als fünfzig Mark in der Woche. Trotzdem hatte er auf wundersame Weise lückenlose Einträge in seinem Sozialversicherungsausweis. Tja, der Staat sorgte eben gut für seine Bürger.
Er überlegte, illegal Taxi zu fahren. Ein Fähnchen an die Antenne und die Leute vom Straßenrand mitnehmen, die den Daumen raushielten, den Preis verhandeln und los. Es blieb aber eine vage Vorstellung, denn er hatte kein Auto.
Er sprach mit dem Prof, ob er Ideen hätte, wie er an einen bezahlbaren Wagen käme. Es gab zwar Gebrauchtmärkte für alte Autos, aber die waren teurer als ein Neuwagen. Seine Bestellung auf einen eigenen Wagen lief seit dem Ende der Lehre, und es dauerte sicher noch zehn Jahre, bis er einen zugeteilt bekäme. So viel Zeit hatte er nicht.
Auch diesmal enttäuschte ihn der Prof nicht. Er hörte sich um und fand heraus, dass ein Studienkollege aus der Universität zwei Skodas im Garten stehen hatte. Der Prof schlug vor, den Mann aufzusuchen und ihn zu überreden, einen Skoda zu verhökern.
»Er weiß noch nicht, dass er sein Auto verkaufen will?«
»Nö. Wir reden ihm das Auto aus.«
»Ich hab nichts, ich kann mir nichts leisten.«
»Hast du nicht gehört? Wir verklickern ihm das. Wir teilen uns den Wagen. Eine Woche fährst du, und eine Woche bekomme ich das Auto. Was meinst du?«
Kay lächelte. Das war eine originelle Idee, die sie am Wochenende in die Tat umsetzten. Sie kratzten so viel Geld wie möglich zusammen und klopften bei dem Mann in Graal-Müritz an die Gartenpforte. Sie redeten auf ihn ein, bettelten, wedelten mit dem Geld. Der Mann knickte erst ein, als seine Frau insistierte, er solle die Schrottkiste endlich abstoßen.
»Wie sieht es mit einer Probefahrt aus?«, fragte der Verkäufer.
»Ach, das geht auch ohne«, antwortete der Prof und errötete.
Kay war erleichtert. Sie hatten beide wenig Fahrpraxis, und er wollte sich den Kauf nicht am Ende doch noch dadurch vermiesen, dass das auffiel.
»Wie glauben Ihnen, dass das Auto in Ordnung ist«, pflichtete Kay ihm sofort bei.
»Nein, das geht nicht, Sie brauchen doch eine Probefahrt.«
Kay fasste sich ein Herz und stieg ins Auto. Der Prof blieb vorsichtshalber neben dem Verkäufer stehen.
Kay schuckelte einmal langsam die Dorfstraße hoch und runter. Das reichte. Strahlend krabbelte er wieder aus dem Wagen.
»Fährt sich super, wir nehmen ihn.«
Sie unterschrieben einen Kaufvertrag, und der Prof ließ das Auto auf seinen Namen zu. So war das Auto vor dem Zugriff durch die Stasi sicher. Als der Prof ihm den Wagen nach einer Woche vor die Tür stellte, grinste er. »Sonntags ist Übergabe. Vollgetankt.«
Kay nickte. Kein Problem. »Wir brauchen noch einen Namen für unser Gefährt!«, antwortete er.
Sie betrachteten den schäbigen grünen Skoda MB 1000 . Verbeult und alt. Das Lenkrad hatte der Prof schon mit einem Kunstlederband umwickelt, um das billige Plastik verschwinden zu lassen.
»Honsa«, schlug Kay vor. »Ein Tscheche.«
»Honsa«, echote der Prof. »Klingt nach einem Charakterauto.«
Sie klatschten sich ab, schrieben den Namen mit einem Stift über die Fahrertür und fuhren mit ihrem ersten eigenen Wagen zurück in die Südstadt. Sie begossen den Autokauf im Lindeneck, und Kay vertraute sich seinem besten Freund in allen Einzelheiten an. Es war eine große Erleichterung, über das sprechen zu dürfen, was ihn seit langer Zeit belastete und ihn bis in seinen Schlaf verfolgte. Der verlorene Traum von der Seefahrt, sein langsamer Abstieg vom Weltenbummler zum Hausmeister oder Hotdog-Verkäufer. Sein Ausreiseantrag als letzte Hoffnung auf Besserung und sein zunehmendes Misstrauen und die Entfremdung von der Welt.
Der Prof schwieg. Was hätte er auch sagen sollen?
Kay war froh, dass seine beiden besten Freunde an seiner Seite standen.