41 . Kapitel

Rostock, Juli 1987

P eggy hatte die Freunde zusammengetrommelt, um zu feiern. Eigentlich hatte sie in den Park gehen wollen, aber ausgerechnet heute regnete es wie aus Kübeln, und sie hatte stattdessen schnell einen Kuchen gebacken und die Möbel beiseitegerückt, damit genug Platz für die Gäste war.

Arne war endlich aus dem Gefängnis entlassen worden und bereit, sich den Fragen seiner Kumpels zu stellen. Auch für Peggy war es ein Wiedersehen mit Höhen und Tiefen gewesen. Sie hatte sich unbändig gefreut, ihn wieder in die Arme zu schließen. Er war da, er war gesund und unversehrt. Jedenfalls äußerlich. Über seine seelischen Verletzungen war Peggy sich noch nicht im Klaren. Es war doch ausgeschlossen, dass er die Erlebnisse schadlos überstanden hatte, oder? Er sprach nur oberflächlich über die Zeit im Gefängnis, und sie bedrängte ihn nicht. Er liebte die Zeit mit Murmel und hatte tatsächlich noch keine Anstrengungen unternommen, die Wohnung zu verlassen. Es war, als müsse er die verpasste Familienzeit nachholen. Peggy genoss diese Momente in vollen Zügen, kochte, so lecker sie konnte, suchte seine Nähe und verliebte sich noch einmal ganz neu in ihn.

Und doch bohrte eine Frage in ihr, die er ihr partout nicht beantworten wollte. Warum hatte er am Checkpoint Charly seinen Personalausweis zerrissen? Sie hatte eine vage Ahnung von seinen Motiven, hätte es aber lieber aus seinem Mund gehört, doch Arne schwieg – und sie übte sich mal wieder in Geduld.

Als es klingelte, öffnete Arne die Tür. Der verbliebene Rest der indischen Reisegruppe, Juri mit seiner Frau Romy, Kay und der Prof mit Mina, war gekommen. Wie würden sie Arnes Anblick aufnehmen? Natürlich hatte er sich verändert. Äußerlich war das schmerzhaft sichtbar: Dünn war er geworden, und seine langen Locken waren einem raspelkurz rasierten Kopf gewichen – der obligatorischen Knastfrisur. Die Haare würden wieder wachsen, aber wie sah es in seinem Inneren aus? Peggy ließ er nicht an sich heran. Vielleicht gelang ja den Männern, was ihr verwehrt blieb.

»Na, Alter, da bist du ja wieder! Ausflug beendet?«

Juri klopfte Arne derb auf die Schulter.

Peggy beobachtete die Gruppe und sah sofort, dass Arnes Anblick sie schockierte. Natürlich hatten sie sich ihre Gedanken gemacht und Fantasien entwickelt, und sie versuchten, diese in Einklang zu bringen mit dem Arne, der nun vor ihnen stand.

Peggy hatte den Tisch gedeckt und verteilte Kuchen auf die Teller. Sie setzten sich.

»Mensch, Arne, bin ich froh, dass du wieder da bist. Du hättest für Jahrzehnte im Knast verschwinden können!«, sagte der Prof und fiel mit der Tür ins Haus. »Das war echt eine derbe Aktion!«

Arne grinste halbherzig und griff nach einem Teller. »Ich hatte darauf spekuliert, dass die BRD mich freikauft!«

Peggy zuckte zusammen. Auch Arne hielt sich nicht mit Geplänkel auf. Trotzdem war sie nicht sicher, ob das wirklich der Grund für seine haarsträubende Aktion gewesen war. Manchmal argwöhnte sie, dass Saschas Suizid Arne die Illusion über den Westen genommen hatte. War er auch lebensmüde gewesen, als er sich in die Arme der Grenzer stürzte?

»Die DDR verkauft bevorzugt ihre Bürger. Mit den Devisen halten sie das marode Land über Wasser. Ich hab keine Ahnung, warum es bei mir nicht geklappt hat. Totale Scheiße.« Mit einem Blick zu Peggy ergänzte er: »Ich hätte euch sofort nachgeholt.«

Sie lächelte. Nein, er war nicht lebensmüde, nur erschöpft.

Außer Arne rührte niemand seinen Teller an. Der Sandkuchen sah trotz der Rosinen verdammt trocken aus. Peggy brachte keinen Bissen herunter.

»Angeblich sind die Zwillinge freigekauft. Leider melden sie sich nicht«, murmelte der Prof.

»Woher weißt du das?«, fragte Arne.

»Die Eltern. Sie sagen, man hätte sie benachrichtigt, dass Ricksen und Alexander im Westen sind. Aber Genaueres wussten sie auch nicht. Sie argwöhnen, dass die beiden in schlechter Verfassung sind, weil sie sich nicht melden. Aber sie leben und sind in Sicherheit.« Der Prof stockte, schluckte trocken. »Wahrscheinlich suchen die Zwillinge Sascha. Sie wissen ja noch nicht, dass er tot ist.« Er schüttelte den Kopf und griff nach seiner Tasse Kaffee.

»Wisst ihr, was sie für die beiden gezahlt haben?«, fragte Arne.

Der Prof blickte nicht auf. »Nee. Das sind doch bloß Gerüchte.«

»Wie ist das am Checkpoint abgelaufen?«, unterbrach Juri. »Du hast doch nicht wirklich deinen Personalausweis zerrissen?«

Es war offensichtlich, dass Juri noch immer nicht glaubte, was Hannes damals berichtet hatte. Peggy mischte sich nicht ein, denn jetzt galt es herauszuhören, wie weit Arne sich seinen Freunden öffnete.

Arne zog nachdenklich die Stirn kraus. Nickte und fing langsam an zu erzählen.

»Nachdem ich den Volkspolizisten passiert hatte, kamen direkt zwei Grenzer mit Maschinenpistolen auf mich zu: »Halt, stehen bleiben. Staatsgrenze der DDR .« Als ob ich das nicht wüsste. Im Grunde waren sie total hilflos. Ich habe ihnen gesagt, dass ich ins Kino auf dem Kurfürstendamm nach Westberlin wolle. So als wäre es das Normalste der Welt. Ein Kinobesuch – keine Weltrevolution. Sie meinten, das ginge nicht. Sie rührten sich nicht von der Stelle, und ich musste deutlicher werden, damit diese jungen Kerle überhaupt reagierten. Ehrlich, die waren jünger als ich.« Er sah fragend in die Runde, als sei er nicht sicher, ob die anderen seinem Bericht glaubten und begriffen, wie absurd die Situation gewesen war.

Juri nickte und wandte seinen Blick keine Sekunde von Arne ab.

»Sie meinten, ich sei festgenommen. Mit einem Lada haben sie mich durch Berlin gekarrt. Ich bin in Pankow vorübergehend in einen Knast gekommen. Am nächsten Tag fuhren sie mich mit einem fensterlosen Barkas weiter. Als ich einstieg, sah ich das Rostocker Kennzeichen, da war klar, wo die Reise hinging. August-Bebel-Straße, U-Haft. Ihr kennt das ja. Von dort durfte ich einmal telefonieren.«

»Liebling, warum hast du deine Eltern angerufen und nicht mir Bescheid geben lassen?«, fragte Peggy und ärgerte sich in der Sekunde über diesen Einwand, der anklagend klang und total sinnlos war. Er war zu Hause, nur das zählte.

»Du hast kein Telefon, Schatz! Meine Eltern haben dich doch informiert, und außerdem sollten sie mir einen Anwalt besorgen. Hat aber auch nicht geklappt.«

»Deine Eltern haben Telefon?«, sagte Kay, der bis jetzt geschwiegen hatte. Er klang argwöhnisch.

Arne wischte die Frage mit einer vagen Geste beiseite.

»Du bist ohne Anwalt zum Prozess?«, fragte der Prof.

»Eigentlich war es egal. Die Gerichtsverhandlung war eines sogenannten Rechtsstaats unwürdig. Sie fand ohne Öffentlichkeit statt, dauerte gerade mal eine halbe Stunde, und selbst meine Familie war nicht dabei. Ich hatte irgendeinen schnöseligen Pflichtverteidiger, der kaum ein Wort gesagt hat. Ich bin fest davon überzeugt, dass der Richterin und ihren beiden Beisitzern das Urteil schon von der Stasi diktiert worden war, bevor ich auch nur den Saal betreten hatte. Würde mich nicht wundern, wenn die beiden Beisitzer von der Stasi gewesen wären.«

Er stopfte sich Gabel um Gabel des trocknen Kuchens in den Mund und spülte mit Kaffee hinterher. Peggy wusste, dass Arne nicht so locker berichtete, wie es den Anschein hatte. Arne hasste Kuchen.

»Das waren doch alles Statisten, die ein bisschen rumpalavert haben und mich zu Paragraf 213 verurteilten. Behinderung staatlicher Organe. Gott sei Dank nicht für Republikflucht oder Grenzdurchbruch. Mein geplanter Kinobesuch hat nur für zweiundzwanzig Monate Haft gereicht.« Er lachte trocken auf.

Der Prof schüttelte fassungslos den Kopf.

»Wenn sie dich für Staatsverleumdung und öffentliche Herabwürdigung drangekriegt hätten, dann hätten sie dich für zwölf Jahre eingebunkert«, sagte Juri.

Juri hatte recht. Das war so was von knapp gewesen. Peggy bekam eine Gänsehaut am ganzen Körper, hielt aber den Mund.

»Besser gepasst hätte es allemal«, stimmte Arne Juri unverblümt zu. »Schließlich lehne ich es ab, noch weiter Bürger der DDR zu sein. Interessiert nur niemanden.«

»Wie war es im Gefängnis?«, fragte Kay.

Peggy entging Arnes Zögern nicht. Er rang mit sich, ob und wenn ja, was und wie viel er über diese furchtbare Zeit erzählen wollte. Er erstickte fast an seinem Kuchen, und Kay trieb ihn noch tiefer in die Selbstoffenbarung. Das ging sicher nicht gut aus.

»Am meisten hat mich genervt, dass sie mich mit ordinären Kriminellen in eine Zelle gesteckt haben. Ich bin ein Politischer, kein Verbrecher. Das war reine Schikane, nur um mich zu demütigen. Gott sei Dank waren noch ein paar andere Politische da, und wir haben uns zusammengeschlossen, um die Krimis auf Abstand zu halten. Da halfen nur klare Ansagen.« Er hielt inne. »Es gab keine Fenster. Nur Glasbausteine. Wisst ihr, wie sie uns genannt haben?«

Sie schüttelten die Köpfe. Arne nahm sich ein weiteres Stück Sandkuchen.

»SG 4 /11 . SG für Strafgefangener und die Zellennummer. Und ich habe mit meinem Geburtsdatum geantwortet. Für die Schließer waren wir keine Menschen. Wir waren Gesocks, Abschaum.« Er steckte sich zwei Gabeln des trocknen Kuchens hintereinander in den Mund. »Im Hof durften wir an die frische Luft. Es war mehr ein schmaler Gang mit einem Gitter obendrauf. Die Gitter lagen bestimmt in vier oder fünf Metern Höhe. Glauben die etwa, jemand springt da aus dem Stand hoch und entkommt? Wir waren wie Tiere in Käfigen, und ich konnte den Himmel nie ohne diese Gitter sehen.«

»Ob es Sascha auch so ergangen ist?«, fragte Kay in die Stille des Raumes.

Niemand antwortete. Peggy ärgerte sich auch über diese Frage. Kay machte alles nur noch schlimmer. Konnte er nicht ein bisschen sensibler mit Arne umgehen?

»Warum haben deine Eltern dir nicht geholfen?«, fragte Kay, als könne er den Gedanken an Sascha selbst nicht ertragen. »Dein Vater ist doch in der Partei, oder?«

Peggy stieß Kay den Ellenbogen in die Seite. Warum war Kay so ruppig? Er sah doch, wie Arne sich quälte.

»Nein, der ist nicht in der Partei. Wie kommst du darauf?«, erwiderte Arne.

»Du hast gesagt, ihr habt Telefon und dein Vater arbeitet im Rat der Stadt, da ist er doch in der Partei?«

Peggy warf Kay einen strengen Blick zu. Jetzt reichte es aber. Arne öffnete sein Herz, und Kay ging ihn so an?

Auch Arne sah man an, dass er erstaunt war. Kay bekäme sicher keine Antwort. Arne ließ sich nicht aushorchen. Er war er genauso auf der Suche nach dem Sinn des Lebens und dem richtigen Platz wie alle anderen auch. Er war nur kreativer als alle anderen, sich aus nahezu jeder prekären Lage herauszumanövrieren. Er war mutig und bereit, über Grenzen zu gehen, in seiner feindlichen Haltung dem Staat gegenüber. Er war kein Mann der Kompromisse, und dafür liebte Peggy ihn.

»Mein Vater forscht in einem städtischen Projekt zur Erweiterung des Hafens«, antwortete Arne. »Das Büro ist im Moment im Rat der Stadt. Nicht mehr, nicht weniger.« Er zögerte. »Meinem Vater ist es vollkommen egal, was aus mir wird. Und mir ist es egal, was mit ihm ist. Außerdem hatte ich zu niemandem Kontakt. Meine Eltern wussten offiziell nicht mal, wo ich war.«

Peggy war verblüfft. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass Arne sich Kay tatsächlich erklärte.

»Sei nicht so streng. Er ist dein Vater«, mahnte sie und strich ihm beruhigend über den Arm.

»Ist doch wahr!« Er schüttelte ihre Hand ab und stellte den Teller hart auf dem Tisch ab. Seine Gabel klapperte laut in die Stille. Alle schwiegen betreten. Die Stimmung kippte. Peggy musste sich etwas einfallen lassen, bevor Arne seine schlechte Laune an den Freunden ausließ.

»Während du in Haft gesessen hast, hatten wir echt was zu lachen. Hast du von dem Kreml-Flieger gehört?«, fragte Peggy in aufgesetzt fröhlichem Tonfall. Hoffentlich stieg Arne darauf ein.

Arne schüttelte den Kopf, ohne hochzugucken.

»Das glaubst du nicht. Matthias Rust, ein Hobbypilot aus dem Westen, ist mit einer kleinen Cessna nach Moskau geflogen und hat ein paar Runden über dem Roten Platz gedreht, bevor er darauf gelandet ist. Ist das nicht irre? Der hat die Militärs so was von vorgeführt.«

Arne starrte sie ungläubig an. Peggy nickte lachend. Sie hatte die Stimmung gerettet.

»Auf dem Roten Platz?« Arne nickte. »Es ist alles möglich, man muss sich nur trauen.«

Peggy zuckte zusammen. Das war die falsche Geschichte gewesen.