42 . Kapitel

Rostock, August 1987

K ay hing das Gespräch mit dem aus der Haft entlassenen Arne lange nach. Er war froh, dass der Freund viel Zeit mit Peggy und Murmel verbrachte und keine neuen Aktivitäten plante. Er selbst bekräftigte seinen Ausreiseantrag alle zwei bis drei Monate und schrieb, dass sich seine Beweggründe nicht geändert hätten und er unbedingt ausreisen wolle. Einige Wochen später folgte dann die obligatorische Vorladung zur Anhörung. Die Verhöre führte stets der Offizier Haferberger, und er legte mit jedem Verhör einen Zacken zu, seine Drohungen schrie er rauer, der Inhalt seines Vortrags verschärfte sich, er drohte immer unverhohlener. Kay konzentrierte sich darauf, sich nicht einschüchtern zu lassen.

Einmal saß Haferberger nicht hinter seinem braunen Schreibtisch, sondern rückte seinen Stuhl dicht neben Kay. Er kam so nahe, dass Kay seinen Wurstatem roch. Er zwang sich, keinen Millimeter zu weichen. Es war nur ein weiterer Versuch, ihn einzuschüchtern. Haferberger roch nicht nur unappetitlich aus dem Mund, sondern auch nach kaltem Schweiß. Es war wohl doch nicht so gesund, seinen Mitmenschen das Leben zur Hölle zu machen. Kay starrte auf einen weißen Fleck, den er auf Haferbergers Anzughose ausgemacht hatte. Mister Stasi kleckerte mit Joghurt? Der Gedanke half ihm, standhaft zu bleiben. Haferberger war auch nur ein Mensch, der morgens frühstückte. Wie wollte dieser Mann ihm das Menschliche absprechen?

Haferberger versuchte es mit Nähe. Nicht nur auf dem Stuhl.

»Sie sind ein verwirrter Mann. Ich verstehe, dass Ihnen Ihr berufliches Scheitern den Boden unter den Füßen weggezogen hat. Aber Sie sind jung und können anderes Großes vollbringen. Neues lernen«, raunte er ihm kumpelhaft ins Ohr.

Als Kay von Haferbergers Hose hochsah, sah er ihn lächeln. Er seufzte. Zu antworten war zwecklos. »Darf ich Sie etwas fragen?«, flüsterte er stattdessen.

Haferberger verzog sein Gesicht zu einem breiten Lächeln, das ihn erstaunlicherweise nicht sympathischer aussehen ließ.

»Nur zu.«

Kay sah ihm in die Augen. »Was ist Ihnen passiert, dass es Ihnen Spaß macht, Menschen zu quälen und zu drangsalieren? Lassen Sie mich ausreisen, dann sind Sie mich los!«

Eine leichtsinnige Provokation. Aber sie befreite – an einem Ort, der mit jeder Pore nach Angst, Verzweiflung und Resignation roch.

Haferbergers Lächeln erstarb. Er verengte seine Augen zu Schlitzen, bevor er losschrie: »Das werden Sie bereuen! Die harte Faust der Arbeiterklasse wird Sie packen und in einen Gully schmeißen! Da gehören Sie hin.«

Eines Tages kam endlich Post von Wolf, einem entfernten West-Verwandten von Kays Mutter. Er hatte ihm mehrere Briefe geschrieben, in denen er Wolf bat, sie doch einmal zu besuchen. Kay wollte unbedingt von Angesicht zu Angesicht mit ihm sprechen, um auszuloten, ob er ihm bei einer Flucht helfen könnte. Er war jetzt bereit, es zu versuchen. Selbst Arnes Erzählungen über seinen Gefängnisaufenthalt hielten ihn nicht mehr zurück. Dabei war er sich sicher, dass Arne nicht alles berichtet hatte. Er musste diese grausame Zeit seines Lebens erst einmal selbst verarbeiten.

Wolf unterstützte Kay aus der Ferne in seinem Ausreiseantrag und empfahl ihm, renitent zu sein, den Staat zu provozieren, damit die Herren , wie er sich ausdrückte, verstünden, dass Kay nicht klein beigeben würde.

Kay fragte sich, ob Wolf überhaupt einen blassen Schimmer hatte, wovon er sprach. Oder war es für ihn nur eine amüsante Abwechslung, sich mit den armen Ossis zu beschäftigen? Hatte er überhaupt eine Vorstellung davon, was einem blühte, wenn der Staat zuschlug? Kay dachte an Arnes Provokation am Checkpoint Charly und erschauderte. Im Gefängnis zu landen, wäre der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brächte. Seitdem er Haferberger provoziert hatte, rechnete er täglich damit, dass sie ihn abholten. Sie brauchten keine Gründe, um ihn wegzusperren. Daher war Eile geboten, und er war erleichtert, als Wolf sich mit einer kurzen Postkarte ankündigte.

Aus irgendeinem Grund drängte Wolf darauf, die Insel Poel zu besuchen. Und als erste Provokation bestand er darauf, dass Kay Wolfs West-Auto fuhr: einen dunkelblauen Audi mit Automatikgetriebe, Erstzulassung vor knapp einem Jahr. Kay war schwer beeindruckt – und verdammt nervös. Er war noch nie Automatik gefahren und hatte keine Lust, sich zu blamieren. Darüber hinaus war es ihm als DDR -Bürger verboten, in West-Autos zu sitzen, denn das legte die Stasi als möglichen Fluchtversuch aus. Die Fahrt kam also einem Tanz auf dem Drahtseil gleich, aber Wolf ließ sich nicht umstimmen, und der Audi war ein schlagendes Argument, dessen Charme Kay erlag. Der satte tiefe Sound, mit dem der Wagen schnurrte, war das genaue Gegenteil des krampfenden Hustens seines Honsas.

Als sie nach einer guten Stunde auf die Insel fuhren, hatte Kay sich nicht nur an das Automatikgetriebe gewöhnt, sondern genoss die Fahrt in vollen Zügen. Sie hatten die Fenster heruntergekurbelt und ließen sich vom Wind bezirzen. Sie parkten am Leuchtturm in der Nähe zum Strand Am Schwarzen Busch. Wolf wandte sich in Richtung Westen, ohne Kays Bedenken auch nur anzuhören. Er wischte seinen Einwand, dass sie vermutlich auf Sperranlagen zuliefen, mit der Hand weg. Papperlapapp.

Da Kay sich auf der Insel auch nicht auskannte, zuckte er mit den Schultern und trottete neben Wolf den vollkommen leeren Strand entlang. Eine Weile marschierten sie schweigend nebeneinanderher, dann versuchte Kay das Gespräch auf eine mögliche Flucht zu lenken. Leider war Wolf von der Idee, dass er als Fluchthelfer fungieren sollte, nicht begeistert. Es müsse doch bessere Wege geben. Welche, vermochte er allerdings nicht zu sagen. Kay verstand schnell: Wolf war ein Schwätzer, und von ihm war keine Hilfe zu erwarten. Verdammt, er wollte ihn damit nicht durchkommen lassen. Aus dem sicheren Westen hatten seine Reden noch anders geklungen.

Es war ein sonniger Augusttag, und Wolf hatte wenigstens damit recht, dass der Strand für dieses Wetter der beste Ort der Welt war. Es duftete nach Fisch, und eine leichte Brise ließ die Wellen auf den Sand schwappen. Kay blickte sehnsüchtig über die unerreichbare Freiheit des endlosen Meeres. Fiel es Wolf nicht auf, dass sie die einzigen Spaziergänger waren? Keine Badegäste, keine juchzenden und spielenden Kinder am Strand? Nur Einsamkeit, und das mitten im August! Glaubte Wolf wirklich, die Schilder, die den Strandabschnitt als Sperrgebiet auswiesen, wären zur Zierde aufgestellt? Oder erwartete er, dass Honecker die Ostsee eingemauert hatte? Wohl kaum, wobei einige kleine Dörfer wie Pötenitz, Barendorf oder Rosenhagen tatsächlich durch eine Mauer vom Strand abgetrennt waren. Den Bewohnern war der Zugang zum Meer verwehrt.

Kay musste Wolf aufhalten, bevor die Grenzer sie aufhielten.

»Die tun dir nix, mach dir keinen Kopf«, tönte Wolf. Sein kantiges Kinn schob sich noch weiter nach vorn als ohnehin schon und gab ihm das Aussehen eines Gnoms auf dem Kriegspfad.

»Du hast gut reden. Rate mal, wer das am Ende ausbadet? Auf dich haben sie ja keinen Zugriff.« Kay seufzte. Er war selbst schuld. Wolf hatte ihn mit einer blöden Autofahrt geködert, und er war schwach geworden. Die kreischenden Möwen lachten ihn aus. »Kannst du mir wirklich nicht rüberhelfen?«, startete Kay einen letzten Versuch. Vielleicht stoppte das Wolf, und sie konnten umkehren, um Pläne zu schmieden.

»So einfach geht das nicht, rüber…«

Wenn es ans Eingemachte ging, kniff Wolf. »Ich brauche deine Hilfe«, insistierte Kay.

»Aber das muss man doch planen, oder? Da müssen wir uns erst was überlegen.«

»Es ist wirklich überlebenswichtig, ich brauche …« Plötzlich entdeckte Kay die ersten Sperranlagen. Kreuze aus Metall hinderten Autos daran, durch den Sand zu fahren, Zäune auf der Düne hielten Fußgänger davon ab, ihren Weg fortzusetzen. Das waren noch nicht die richtigen Grenzanlagen, aber glasklare Hinweise darauf, dass sie sich der Grenze näherten und dringend umkehren sollten. »Wolf, das war’s, wir drehen um«, unterbrach sich Kay selbst und wies auf die Düne.

Wolf lachte und ballte kampfeslustig die Fäuste. »Das ist total spannend, das sehe ich mir näher an, komm …«

Wie fing man einen ignoranten West-Verwandten ein? Kay versuchte, Wolf am Arm zurückzuziehen. »Wolf, das ist gefährlich! Ich kann mir kein Aufsehen erlauben. Erst recht nicht, wenn ich …«

»Lass doch!« Wolf wand sich aus Kays Griff. »Mal sehen, was passiert, ich glaube das sowieso nicht, was da über die Grenze geredet wird. Du übertreibst immer so maßlos!«

Für Wolf war es ein Riesenspaß. Er hatte entweder keine Ahnung, auf was er sich blindlings einließ, oder es interessierte ihn nicht. Und Kay hing mit drin. Na gut, wenn Wolf nur mit Schmerzen lernte, sollte er doch selbst herausfinden, wie es im Osten lief. Jedenfalls nicht so, wie Mister Großkotz es sich vorstellte. Kay biss sich auf die Lippen, um alle Erwiderungen herunterzuschlucken, und ging langsam weiter.

Plötzlich trat Wolf in eine Art Stolperdraht. Seine Hose hatte sich darin verfangen, und er fluchte, als er sich mit einigen Tritten daraus löste. Geschieht ihm recht, dachte Kay und sah sich um. Direkt durch den Sand führten feinste Drähte über den Strand. Ehe er verfolgt hatte, wohin die Drähte führten, ertönte ein enervierender Klingelton und zwei bewaffnete Grenzposten stürzten mit Hunden an der Leine über die Düne auf sie zu.

»Halt! Stehen bleiben! Grenze! Keinen Schritt weiter!« Der eine Grenzsoldat hielt die Maschinenpistole direkt auf sie gerichtet.

Kay erlaubte sich einen kurzen Blick zu Wolf. Der war zutiefst erschrocken und leichenblass geworden. Kay übertrieb, ja? Für ihn sahen die Hunde und die aggressiven Grenzer verdammt echt und bedrohlich aus.

»Sie bewegen sich an der Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik! Das ist Sperrgebiet! Folgen Sie uns zur Feststellung der Personalien!«

Wolf schien keine Erwiderung einzufallen, denn er wandte sich Hilfe suchend an Kay. Seine Augen waren weit aufgerissen. Ruhe bewahren, dachte Kay. »Tu, was sie sagen.«

Er bewegte sich hinter dem ersten Grenzer her, Wolf an seiner Seite, und der zweite Soldat stapfte mit auf sie gerichteter Maschinenpistole hinter ihnen.

Wolf schwächelte. »Nehmen Sie mal das Ding runter, nicht, dass das aus Versehen noch losgeht!« Seine Stimme zitterte verdächtig, und er deutete fahrig mit der Hand auf die Waffe des Soldaten.

»Gehen Sie weiter!«, schrie der Mann.

Im Gänsemarsch trotteten sie einen Weg entlang der Dünen, bis sie an den Waldrand kamen. Hier wandten sie sich nach links, und nach wenigen Metern erreichten sie eine Art behelfsmäßigen Unterstand. Es war kein richtiges Gebäude, mehr so eine Art Regenschutz aus Holz. Darunter ein Tisch und zwei Stühle. Tatsächlich stand auf dem Tisch ein Feldtelefon.

»Die Ausweise!«, bellte einer der Grenzer, während er sich an den wackeligen Tisch setzte.

Wolf zückte seinen westdeutschen Reisepass, und Kay war erstaunt zu sehen, wie der Grenzer sich entspannte. Es war fast, als hätte man seinen erleichterten Seufzer gehört. Offenbar dämmerte ihnen, dass sie keinen Grenzdurchbruch vereitelt , sondern sich zwei blöde Wessis verlaufen hatten. Jedenfalls bis Kay seinen Ausweis zeigte.

Er war DDR -Bürger. Hielt sein blaues Büchlein hin. Ein kurzer Blick des Grenzers, der die Augen zusammenkniff. Er griff nach einem Feldtelefon und kurbelte. Es dauerte trotz der primitiven Vorrichtung nur Sekunden, bis er eine Verbindung hatte.

»Wir haben zwei Personen im Sperrbereich angetroffen …«

Er gab die einzelnen Daten der Ausweispapiere durch.

Wolf tippelte zwar unruhig von einem Bein auf das andere, warf Kay aber schon wieder einen siegessicheren Blick zu. Kay seufzte.

Es dauerte eine Weile, bis der Mann Anweisungen erhielt. Er lauschte und warf ihnen ab und zu einen missmutigen Blick zu.

Schließlich legte er auf und reichte ihnen ihre Papiere.

»Sie verlassen unverzüglich das Sperrgebiet und gehen in östlicher Richtung zurück! Sie drehen sich nicht um! Kein einziger Blick!«

Kay griff nach den Ausweisen, bevor der Mann es sich anders überlegte. Er schubste Wolf förmlich zur Seite, damit dieser sich in Bewegung setzte und nicht noch auf die Idee käme, ein Gespräch zu beginnen. Kay hatte verdammtes Glück gehabt. Wohl vor allem, weil er mit einem Westbürger unterwegs war. Aber er hatte genug von Wessis, die meinten, sie wüssten besser, wie es im Osten zuginge, und es gäbe doch nur eine eingebildete und abstrakte Gefahr. Kay wusste, dass er bald wieder eine Postkarte aus der Abteilung für Inneres bekäme. Seine Daten würden ohne Umwege an die Stasi durchgereicht.

Wolf erholte sich in wenigen Minuten und bezeichnete es als tolle Erfahrung. Wie kleinlich und unhöflich die Ossis seien. Aber gefährlich wäre es ja nun wirklich nicht gewesen.

Er hatte nichts kapiert, und Kay war froh, als er endlich nach Hause fuhr. Die Möglichkeit einer Fluchthilfe hatte keiner der beiden noch einmal erwähnt. Kay bereute es, Wolf überhaupt danach gefragt zu haben.

Es dauerte gerade mal zwei Tage, bis die Karte im Briefkasten lag.

Haferberger drohte: »Was haben Sie mit dem Bürger aus der BRD vorgehabt? Wir glauben nicht an Zufälle! Wer ist der Mann? Reden Sie, und zwar sofort!«

»Sie kennen ihn nicht?«, fragte Kay. Sie hatten seine Personalien, sie hatten ihn sicher schon längst recherchiert. »Hat mein Schatten Ihnen denn keinen Bericht erstattet?«

»Ihr Schatten?«

»Na, Ihr Kollege, der mich im Blick behält.«

»Wie kommen Sie denn darauf? Sie interessieren uns nicht!« Haferberger rückte sich die Krawatte zurecht. »Wir untersuchen jede Provokation.«

»Welche Provokation?« Kay stockte. »Mein Bekannter spazierte den Strand entlang. Es ist schließlich Sommer. Ich bin ihm gefolgt. Mehr nicht.«

»Warum sind Sie Richtung Westen gegangen und nicht nach Osten?«

Haferberger lehnte sich in seinem Stuhl zurück und faltete die Hände vor seinem Bauch, als sei er mit seiner Argumentation sehr zufrieden.

Kay zuckte mit den Schultern. »Ich habe Probleme mit der Orientierung.«

Haferberger erblasste. Dann überzog eine gefährliche Röte sein Gesicht. Er lehnte sich ruckartig wieder vor und ließ seine Faust auf die Tischplatte sausen.

»Sie ruinieren sich gerade Ihr Verfahren! Das war’s.«

Der Satz hallte in Kays Kopf. Er lächelte. Am Ende musste er Wolf für seinen irren Ausflug nach Poel noch dankbar sein? Es gab ein Verfahren? Etwas, das Haferberger stets geleugnet hatte. Und der Ausflug nach Poel war als Provokation gewertet worden.

Damit war klar: Die Stasi hatte ihn fest im Blick – und sie war nervös.