44 . Kapitel

Rostock, Mai 1988

T atsächlich tauchte Arne eine Woche später wieder in Rostock auf, statt dass er in Haft verblieb. Was war geschehen?

Kay traf ihn überraschenderweise an, als er Peggy Rhabarber aus dem Garten seiner Eltern vorbeibringen wollte. Arne erzählte, dass die Stasi ihn entlassen habe. Sie wollten an ihm ein Exempel statuieren, und er solle davon erzählen, dass ein Fluchtversuch über eine Botschaft aussichtslos sei. So nach dem Motto: Seht her, Flucht über das Ausland ist undenkbar, denn die ausländischen Botschaften arbeiten mit der DDR zusammen . Und sie drohten ihm mit jahrelangen Gefängnisstrafen, sollte er jemals wieder auf ihrem Radar auftauchen. Aber Arne wusste es besser: Die Bundesdeutsche Botschaft in Warschau hatte ihm zugesagt, auf die DDR -Behörden einzuwirken, dass sein Ausreiseantrag vorrangig bearbeitet würde und sie den Fall verfolgen wollten. Und die DDR -Regierung hasste es, wenn sie im Ausland schlecht dastanden. Alle Probleme mussten innerhalb der Mauern gelöst werden, nichts sollte nach außen dringen.

Kay wollte Arne gern glauben. Aber die Ungewissheit zerfraß ihn. Für ihn war es kaum vorstellbar, dass Arnes Fluchtversuch ungeahndet blieb. War es nicht wesentlich wahrscheinlicher, dass Arne nicht ins Gefängnis gekommen war, weil er ein Spitzel war? Weil er eine Aufgabe hatte: Er sollte Kay ans Messer liefern! Oder war Arne das größte Stehaufmännchen, das es gab? Alles verschwamm vor Kays Augen. Hielt sich selbst die Stasi nicht mehr an ihre üblichen Verhaltensmaßstäbe? Säße er jetzt im Gefängnis, wenn er Arne begleitet hätte? Oder wären sie zu zweit erfolgreicher gewesen, und die Botschaft hätte ihnen geholfen? War er klug oder feige?

Er durfte Arne nicht trauen, sosehr er es sich auch wünschte. Er durfte ihn auf keinen Fall in seine Überlegungen einweihen. Er brauchte einen Fluchtplan – und zwar einen, der sich ohne seine Freunde umsetzen ließ.

»Hör auf zu grübeln, Zartgefühliger!« Peggy umarmte ihn. »Wir trinken auf Arnes Rückkehr, und du lächelst mal!«

Haferbergers Verhöre ließ Kay mittlerweile seit eineinhalb Jahren über sich ergehen. Er hätte es nie gedacht, aber er entwickelte eine perverse Art der Routine. Hinsetzen. Abwarten. Platte mit den immer gleichen Antworten auflegen und versuchen, um jeden Preis ruhig zu bleiben. Sollte Haferberger sich doch an ihm abarbeiten, ihn beschimpfen und bedrohen.

Dann kam etwas Neues. Kay horchte auf, als Haferberger einen hasserfüllten Ton anschlug.

»Für mich sind Sie ein Staatsfeind. Wir lassen nicht locker, wir bekommen heraus, ob Sie in Swinemünde flüchten wollten, Sie dekadentes Subjekt.« Er holte tief Luft und brüllte Kay an: »Was bilden Sie sich ein, wer Sie sind? Sie sind dem Staat etwas schuldig! Wir haben Sie unterrichtet und ausgebildet.«

Kay kannte die Leier, nur der Ton war neu. Was war ihm entgangen? Hatte Haferberger ein neues Argument? Eine Konsequenz in der Hinterhand? »Lassen Sie mich doch arbeiten, wenn Sie mir schon die teure Ausbildung ermöglicht haben. Ich bin Seemann. Lassen Sie mich zur See fahren.«

»Damit Sie und Ihre Freunde uns an den Klassenfeind verraten?« Haferberger hatte die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Er kniff sogar die Augen zusammen. Sollte dieser Gesichtsausdruck Kay signalisieren, wie gefährlich er war?

»Wenn ich ein Staatsfeind bin, warum behalten Sie mich in diesem Land?« Kay setzte sich gerade hin. Es entlastete ihn, einmal den Ärger herauszulassen, auch wenn es der falsche Ort dafür war. »Was ist denn mit der viel gepriesenen Perspektive für die Jugend? Ich habe Berufsverbot, Sie hindern mich daran, meinen Beruf auszuüben.«

Haferberger antwortete auffallend gönnerhaft. »Wir schützen Sie vor den Angriffen des Imperialismus und den Menschenfängern. Sie haben ab sofort Reisesperre in alle Länder. Die Faust der Arbeiterpartei wird Sie in den Boden rammen, Sie negatives Element.«

»Sie haben mich verraten und mir die Zukunft versaut!«, presste Kay hervor.

»Ihre feindliche Haltung zu unserer Republik bringt Sie nicht weiter. Zur See fahren, ach Gottchen! Hören Sie auf, immer nur an sich selbst zu denken, Sie verkommener Egoist. Privates Glück steht immer hinter den sozialistischen Pflichten zurück!«

Kay kochte. Dieser süffisante Haferberger-Ton brachte ihn dazu, seine Faust zu ballen.

»Sozialistische Ziele? Welche denn?«

»Ihr Freund Oliver, der macht es richtig. Er erfüllt seine sozialistischen Ziele und tritt seinen Militärdienst an. Wie sieht das bei Ihnen aus?«

Kay war wie vor den Kopf geschlagen. Oliver ging zur Armee? Das musste ein schlechter Witz sein. Oliver war viel zu schwach für die Armee, aber leider auch für den Widerstand. Warum hatte er nichts von seiner Einberufung erzählt?

»Wer ist Honsa?«, wechselte Haferberger plötzlich das Thema.

Das verschlug Kay die Sprache.

»Seit wann kennen Sie Honsa? Wo haben Sie sich das erste Mal getroffen?«

Kay erholte sich nur langsam. Honsa? Haferberger fragte nach seinem Auto? Kay war kurz davor, in hysterisches Lachen auszubrechen. Haferberger hielt Honsa für einen Menschen. Woher wusste die Stasi von Honsa?

Berichtete der Denunziant sogar über sein Auto?

Kay überlegte blitzschnell. Dann sagte er die Wahrheit. Eine falsche Fährte zu legen, hätte mehr Vorbereitung bedurft. Er wusste ohnehin nicht mehr, wie lange er diese Verhöre noch aushielt. Er war mental erschöpft. Er war am Ende.

»Honsa ist mein Auto.« Punkt. Einfacher Satz. Kühle Stimme.

Hatte er wirklich gehofft, dass er Haferberger mit einer ehrlichen Antwort den Wind aus den Segeln nehmen würde?

Haferberger glaube ihm kein Wort. Die ganze nächste Stunde nicht.