Rostock, September 1988
E r war zu einem geheimen Kontaktgespräch mit seinem Führungsoffizier bestellt worden. Schon wieder. Die Treffen wurden immer öfter anberaumt und nervten. Trauten sie ihm nicht mehr?
Wenn er erneut den Weg in den Stadtteil Toitenwinkel auf sich nahm, wollte er aber auch etwas davon haben. Er nahm sich fest vor, dezent auf die Bestellung seines Trabants hinzuweisen. Die Wartezeit für Normalbürger betrug zehn Jahre. Das war vollkommen inakzeptabel, da ginge er ja fast in Rente, bevor sie das Ding endlich lieferten. Sollte der Genosse Leutnant mal was Anständiges für ihn rausschlagen. Schließlich brauchten sie ihn.
Er stellte das Motorrad direkt vor dem Eingang des Häuserblocks ab. In dieser Gegend lief er keine Gefahr, jemanden zu treffen, den er kannte. Mit langsamen Schritten schleppte er sich in den fünften Stock, klingelte an der Tür ohne Namensschild.
Leutnant Uhlig öffnete, und er drängte sich schnell an ihm vorbei in die kleine Wohnung. Die Fenster waren verhängt, und es standen gerade einmal drei Sessel und ein kleiner Tisch im Wohnzimmer. Es gab keine Schränke, keine Bilder an den Wänden, keinen Fernseher oder ein Telefon – hier wohnte niemand. Die Wohnung war offensichtlich nur für konspirative Treffen gedacht. Ihm war es egal.
Er grüßte den Leutnant mit einem knappen Kopfnicken und setzte sich in einen Sessel.
»Schön, dass Sie es einrichten konnten«, sagte Uhlig mit süffisantem Unterton und ließ sich in dem Sessel ihm gegenüber nieder.
Als ob er eine Wahl gehabt hätte. Seit Jahren fragte er sich, ob er jemals mehr über den Mann in dem braunen Anzug erfahren würde. Der Leutnant trug inzwischen eine Brille und hatte sich eine ziemliche Wampe angetrunken, das war es aber auch schon. Er wusste nichts über den Kerl, er hingegen alles über ihn. Das war doch ungerecht.
»Geben Sie uns ein Stimmungsbild«, knatterte der Leutnant und wippte nervös mit dem Fuß.
Er war oft schlechter Laune und ließ diese an ihm aus. Nur ganz selten gab sich das im Laufe des Gesprächs. Vielleicht, wenn er die richtigen Auskünfte gab? Er musste den richtigen Zeitpunkt abpassen, um das Gespräch auf seinen Trabi zu lenken.
»Es passiert gerade nicht besonders viel«, antwortete er und sah auf seine Hände, als ginge ihn das ganze Gespräch nichts an.
»Gehen Sie noch regelmäßig ins Lindeneck?«, insistierte Uhlig.
Er seufzte. »Nö. Nicht mehr so oft. Der Wirt … nein, nur noch selten.«
»Und was spricht man so?«
»Na ja, alle arbeiten, bis auf …« Er seufzte. Das langweilte ihn alles so sehr.
Uhlig unterbrach ihn. »Was wir gerne wüssten, ist, wie Sie mit dem Fluchtversuch Ihres Freundes Arne umgehen. Haben Sie von neuen Aktivitäten erfahren?«
Er sah hoch und wollte gerade den Kopf schütteln, als Uhlig die Hand hob und sich nach vorne lehnte. »Sie wissen, wie sehr wir Sie schätzen und dass wir Ihnen das Leben so angenehm wie möglich gestalten wollen, aber Sie müssen uns dabei helfen!«
»Wo Sie es gerade ansprechen. Ich warte immer noch auf mein Auto. Ist da was zu machen?«
Der Leutnant legte lächelnd den Kopf schief.
Was hieß das? Konnte er seinen Antrag nun beschleunigen oder nicht?
Bevor er nachfragen konnte, stand Uhlig auf. »Sie müssen aufpassen, sonst ist es schnell vorbei mit Ihren Privilegien. Fordern Sie nicht zu viel, Sie müssen erst mal liefern!« Er verengte die Augen zu Schlitzen. »Was haben Sie zu berichten?«
Er überlegte angestrengt. »Vielleicht, dass die Zwillinge immer mal aus dem Westen anrufen?«
»Carlo und Alexander Ricksen? Die rufen also ständig an? Wo rufen Sie an? Was sagen sie?«
»Nee, also ständig, nee. Nicht oft. Das ist …«
»Was denken Ihre Freunde über ihr Leben in der kapitalistischen BRD ?«
Mann, der Kerl wollte Sachen wissen! War doch völlig egal, was sie über die Zwillinge in Hamburg dachten. »Also manche sagen, dass Sie wohl ein bisschen übertreiben, wenn sie das so toll in Hamburg finden. Die beiden sind ja ziemlich trinkfest.« Das war eine freundliche Umschreibung, aber mehr wollte er nicht sagen.
»Und was erzählen sie über den Weg, den sie in die BRD genommen haben?« Der Leutnant wandte ihm nun den Rücken zu und sah aus dem Fenster, als ob ihn das alles gar nicht interessiere.
»Weg? Ach so, Sie meinen über den Stacheldraht in Polen? Tja, also das ist schon attraktiv für einige von uns. Ist vielleicht einfacher als über die Berliner Mauer.«
Er drehte sich um. »Können Sie Namen nennen? Wer interessiert sich besonders dafür?«
Was sollte er sagen? Alle. Und irgendwie auch niemand.
»Brauchen Sie eigentlich eine neue Wohnung? Sie leben sehr beengt, oder?«, fragte der Leutnant. »Sagen Sie uns nur Bescheid, wir können da sicher was machen.«
Das wäre großartig. Er überlegte kurz. »Ich denke, ein paar nehmen vielleicht eine Gefängnisstrafe bewusst in Kauf, um dann von der BRD freigekauft zu werden. Scheint ja ganz gut zu klappen.«
»Wollen Sie es auch probieren?«, bellte Uhlig, plötzlich wieder schlecht gelaunt.
Er schüttelte schnell den Kopf. »Ich meine ja nur, es über Polen zu versuchen, zur Not eine Gefängnisstrafe in Kauf zu nehmen, bis man vom Westen freigekauft wird – das findet vielleicht Nachahmer.«
»Wer?«
»Ich weiß nicht genau … vielleicht … also alle, irgendwie. Die sind alle interessiert, was klappt und was nicht.«
»Es wird nicht jeder freigekauft!«
Er nickte. Arne hatte bislang kein Glück gehabt. Warum hatte ihn eigentlich die BRD nicht freigekauft?
»Versuchen Sie, Ihre Leute in den Griff zu bekommen, auch mal ein Gespräch zu lenken und Nachahmer von ihrem Vorhaben abzubringen! Der Sozialismus hat viele Vorzüge! Versuchen Sie sich als Agitator! Wir verlassen uns auf Sie!« Der Leutnant machte eine bedeutungsschwangere Pause. »Weitere Aktionen werden wir nicht dulden, und Haftstrafen können auch mal länger ausfallen! Sie müssen uns jeden Abweichler melden. Sofort!«
Er zuckte zusammen. Das hatte er doch bisher auch getan. Scheiße, der Kerl drohte ihm schon wieder. Er war nur einmal nicht so auskunftsfreudig gewesen, wie der Leutnant sich das vorstellte. Damals hatte er ihm in den düstersten Farben ausgemalt, was passieren würde, wenn sie seine Schülerschlägerei noch einmal untersuchten. Dabei war das ewig her. Trotzdem, Haft wäre durchaus drin, glaubte er. Eine Horrorvorstellung!
»Denken Sie immer daran, Sie hängen mit drin! Die Tür kann auch hinter Ihnen zufallen! Und dann kommen Sie so schnell nicht mehr raus, dafür werde ich höchstpersönlich sorgen.«
Er nickte, stand auf, griff nach den zehn Mark, die für ihn auf dem Tisch lagen, und unterschrieb die Quittung. Aufwandsentschädigung.
Er war froh, als die Tür hinter ihm zuschlug.
Jetzt musste er überlegen, wie er die Kumpels von der Flucht abhalten konnte, oder eine wichtige Information weitergeben, sonst würde das mit seinem Auto nie was werden. Die Gedanken rotierten in seinem Kopf. Er könnte selbst versuchen, abzuhauen, um dem Druck der Stasi zu entkommen, aber dazu fehlte ihm der Mut. Er wusste doch auch nicht, was er tun sollte! Und wann und wie? Aber das Auto, das hätte er gerne sofort gehabt.