Rostock, Februar 1989
K ay hatte es befürchtet. Oliver hatte nicht auf Peggy gehört, die ihm gut zugeredet hatte, den Militärdienst zu verweigern und als Bausoldat zu gehen. Oliver hatte gejammert, dass seine Eltern als Rentner in den Westen reisen wollten, daher müsse er auf sie Rücksicht nehmen. Dass auf ihn niemand Rücksicht nehmen würde und er für den Dienst an der Waffe wirklich nicht gemacht war, verdrängte er. Peggy appellierte an ihn, erst gut für sich zu sorgen, dann an die anderen zu denken, aber er fand nicht die Kraft, sich aufzulehnen.
Acht Monate nach dem Honsa-Verhör erreichte sie die Nachricht, dass Oliver sich bei der Truppe tüchtig danebenbenommen hatte. Er trank, um seine Angst im Griff zu behalten, und der Alkohol löste seine Zunge. Seine Zündschnur war kurz und der Ärger mit den Vorgesetzten vorprogrammiert.
Olivers alte Eltern saßen bei Peggy auf dem Sofa und berichteten voller Verzweiflung von Olivers Verurteilung. Kay, Juri, der Prof und Mina hockten auf dem Teppich und hörten gebannt zu.
Oliver hatte sich mehrfach unerlaubt von der Truppe entfernt, um Alkohol zu kaufen und dann alkoholisiert seinen Dienst anzutreten. Im Rausch hatte er seine Klappe nicht gehalten und DDR -feindliche Parolen skandiert. In einem Schnellverfahren hatte das Militärgericht ihn zu eineinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Er kam in das einzige Militärgefängnis der DDR , nach Schwedt an der östlichen Grenze zu Polen. Der Bau grenzte unmittelbar an das Petrolchemische Kombinat, das sich die Insassen als kostenlose Arbeitskräfte auslieh. Die Eltern befürchteten das Schlimmste. Wäre ihr Junge vor den Kriminellen geschützt? Und was bedeutete die Arbeit mit den Chemikalien?
Die indische Reisegruppe versprach, sich sofort auf den Weg zu machen, um Oliver zu besuchen. Dabei wusste niemand, ob man sie überhaupt zu ihm lassen würde.
Kay war müde. Er schleppte sich seit Jahren durch die verschiedenen Jobs, war der Seefahrt keinen Schritt näher gekommen, dem Verräter nicht auf der Spur und wusste, dass ihm nur die Flucht aus seiner Heimat blieb. Würde er mit einem Fluchtversuch selbst für sein Unglück sorgen? So wie Oliver, der nicht den Mumm gehabt hatte, sich der Einberufung zu widersetzen, und nun mit den Konsequenzen lebte. Er war nicht mutiger als Oliver, und er befürchtete, dass er sich sein Elend selbst schuf. Deshalb musste er Oliver zum Durchhalten bewegen und sich persönlich davon überzeugen, dass er nicht aufgab.
Mit dem Honsa dauerte es fünf Stunden, bis der Prof und Kay in Schwedt ankamen. Der Weg über die Landstraße zur Ostgrenze des Landes war beschwerlich, und beide waren gerädert, als endlich das Gefängnis in Sicht kam. Die Fahrt durch die Uckermark war bereits so trostlos gewesen, dass sie erstaunt waren, dass der graue Betonklotz mit seinen vergitterten Fenstern es schaffte, noch deprimierender auszusehen.
»Lass uns eine Pause einlegen, bevor wir reingehen, ich brauche ein bisschen Auslauf«, sagte Kay müde.
Der Prof nickte verständnisvoll, hielt aber dagegen: »Erst Oliver. Wer weiß, wie lange das dauert. Nicht, dass wir zu spät kommen oder so.«
Kay seufzte. Der Prof hatte recht.
Sie parkten den Wagen auf einem kleinen Sandplatz und stapften in eisiger Kälte mit ihren wenigen Geschenken für Oliver Richtung Tor.
Der Wachposten sah sie kaum an. »Es ist nur eine Person erlaubt! Tasche? Auspacken!«, befahl er rüde.
Ruhig bleiben, murmelte Kay. Sie waren nicht den weiten Weg gefahren, um unverrichteter Dinge wieder umzukehren. Sie wollten rein. Wenigstens einer von ihnen. Der Prof signalisierte, dass er ginge. Kay nickte.
»Das braucht er alles nicht. Einpacken!«
»Ein paar Mitbringsel sind doch in Ordnung, oder nicht?«, fragte der Prof so unterwürfig, wie es ihm nur möglich war.
»Für fünf Mark. Packen Sie alles wieder ein«, blaffte der Mann.
»Aber das sind doch alles Pfennigartikel und kosten keine fünf Mark«, murmelte der Prof.
»Wir bestimmen die Preise. Die Apfelsine kostet fünf Mark!«
Der Prof griff nach der Apfelsine und schlich mit hängendem Kopf hinter dem Wachmann her. Kay stand noch einen Moment konsterniert vor dem Tresen und sah den beiden hinterher. Warum diese unerträgliche Willkür? Ging es dem Wachposten jetzt besser? War er stolz auf sein Verhalten? Er griff nach der Tasche, trottete zurück zum Wagen und sah sich um. Nichts, was einen Spaziergang rechtfertigte. Aber um sich ins Auto zu setzen, war es viel zu kalt, und so blieb ihm nichts anderes, als die Außenmauer entlang zum Wachturm und zurück zu gehen, um sich wenigstens etwas die Beine zu vertreten und warm zu bleiben.
Der Prof tauchte nach einer knappen Stunde wieder am Eingang auf.
Den Kopf gesenkt, die Schritte schwer.
Am Wagen angekommen, öffnete er ohne ein Wort die Beifahrertür und ließ sich auf den Sitz fallen. Kay setzte sich hinters Steuer.
»Er spricht nicht. Er ist total verstört«, fasste der Prof das Elend zusammen.
Kay verstand auch die unausgesprochenen Worte. Er hatte es befürchtet.
Sie waren Zuschauer in einem willkürlich handelnden Staat ohne Menschlichkeit.