47 . Kapitel

Rostock, April 1989

K ay hatte die Schnauze voll. Die Fahrt nach Schwedt hatte ihn wachgerüttelt und ihn wütend zurückgelassen. Wenn er nicht wie Oliver enden wollte, musste er sich etwas einfallen lassen. Er verweigerte die Annahme der Wahlunterlagen für die Kommunalwahlen im Mai 1989 . Er hatte einen Antrag gestellt, ein Plakat mit einer eigenen Losung auf den Mai-Demonstrationen mitzuführen. Skandalös.

Aber das waren nur leere Drohungen. Sie veränderten sein Leben nicht.

Er traf eine Entscheidung. Viele Optionen hatte er ja nicht mehr.

Er könnte ins Gefängnis gehen und auf einen Freikauf durch den Westen warten. Eine verdammt unsichere Möglichkeit, und Arnes erfolglose Versuche waren abschreckend genug. Er war für den Knast nicht geschaffen. Also blieb Kay nur der Weg, sich und sein Leben zu radikalisieren, alles auf eine Karte zu setzen und die Flucht anzutreten!

Der letzte Schritt … Nun, Sascha hatte es vorgemacht. Dieser Ausweg blieb ihm immer noch, sollte sein Fluchtversuch scheitern. Am Ende bestimmte er selbst über sein Leben. Oder über seinen Tod.

Und als ob die Stasi nicht nur seine Wohnung, sondern auch seine Gedanken ausspionierte, fand er im Briefkasten in der Wismarschen Straße, die er ja besetzt hatte und in der er offiziell gar nicht wohnte, die Musterungsaufforderung zur Einberufung in die Armee. Das war kein Zufall und kein Scherz. Es war die ultimative Einladungskarte ins Gefängnis.

Er saß mit dem Schreiben in der Hand auf seinem Küchenstuhl und starrte so lange darauf, bis die Buchstaben vor seinen Augen verschwammen.

Die Armee kam nicht infrage. Als Soldat der NVA käme er mit militärischen Geheimnissen in Kontakt, was der Stasi einen Grund liefern würde, ihm die Ausreise zu verweigern. Dieser Passus, dass Männer, die beim Militär dienten, als Geheimnisträger eingestuft wurden, war sogar in die Schlussakte von Helsinki mit aufgenommen worden. Unter dem Deckmäntelchen, dass Funker, Piloten oder andere Techniker über spezielle Militärgeheimnisse verfügten, war der DDR zugestanden worden, diese Menschen an der Ausreise zu hindern.

Verweigerte er aber den Wehrdienst, wartete eine Gefängnisstrafe auf ihn.

Die Stasi nahm ihm die Entscheidung ab.

Kein Getöse. Es ging still und leise in der Küche einer illegal bezogenen Wohnung zu Ende. Allein. Ohne die indische Reisegruppe. Deren Mitglieder fast alle im Gefängnis gewesen waren oder, wie Oliver, noch einsaßen.

Es gab nur noch die letzte Möglichkeit. Die Flucht. Alles auf eine Karte setzen. Und vielleicht scheitern und sterben. So wie viele andere Flüchtlinge vor ihm.

Zuerst brauchte er einen Plan.

Kay saß noch viele Stunden in seiner Küche. Schrieb einen halben Notizblock voller Ideen. Krude Einfälle ohne Sinn und Verstand. Er hatte keinen Fluchtplan. So sah es aus. Er zerknüllte das Papier und zündete es über dem Waschbecken mit einem Streichholz an. Das Feuer fraß sich durch die Bögen, und er spülte die Gedanken der letzten Stunden durch den Abfluss.

In wenigen Stunden schon musste er sich vor der Musterungskommission erklären. Dann tickte die Uhr, dann lief die Zeit, bis sie ihn holen kämen.

Am Nachmittag stand er vor dem Plattenbau in Brincksmansdorf, in dem seine Musterung stattfinden sollte. Die Temperaturen waren dieses Jahr im April noch winterlich, und es wehte ein böiger Wind, der Nieselregen vor sich herschob. Wie passend. Schweres Unwetter kündigte sich an. Drinnen wie draußen.

Dann saß er auf einem einsamen Holzstuhl vor vier Kommissionsmitgliedern. Zwei Männer in Uniform und zwei in ziviler Kleidung, vermutlich Stasi-Mitarbeiter. Es störte ihn nicht. Er kannte sich inzwischen mit den inquisitorischen Befragungen aus und wusste, dass ihn Hass, Ablehnung, Verärgerung und beißende Ironie erwarteten. Er verschränkte die Arme und harrte der Dinge. Sie fingen mit harmlosen Fragen nach seinen Interessen an. Als ob es in irgendeiner Weise relevant wäre, wofür er sich interessierte. Er machte es ihnen nicht leicht, sondern sprach von seiner großen und einzigen Leidenschaft, der Seefahrt.

»Sie sind tauglich für den Grundwehrdienst. Haben Sie bestimmte Wünsche an die Waffengattung? Es steht Ihnen frei, Ihren Wehrdienst von anderthalb auf drei Jahre zu verlängern. Das würden wir sehr begrüßen.«

Sie verstanden kein Wort. Er erklärte es ihnen noch einmal: »Wehrdienst kommt für mich nicht infrage, da ich aufgrund meines Berufsverbots offenbar ein Staatsfeind bin und nicht würdig, die DDR im Ausland zu vertreten. Also leiste ich auch keinen Wehrdienst.«

Stille. Die vier zuckten mit keiner Wimper, ließen sich nichts anmerken. Er sah in steinerne Mienen, und mit der Freundlichkeit war es schlagartig vorbei.

Ob er nicht von seinem Ausreiseantrag zurücktreten wolle? Er sei doch ein kluger Mann und wisse um die Konsequenzen.

Oh Gott, sie waren so peinlich!

Er bekräftigte seinen Ausreisewunsch, schließlich habe er Berufsverbot.

»Junger Mann, wovon reden Sie? In der DDR gibt es kein Berufsverbot. Eine Zukunft in diesem Land ist immer noch möglich und erstrebenswert für Sie!«, raunte der ganz außen sitzende Offizier. Er verlor als Erster die Geduld.

»Lassen Sie mich wieder zur See fahren?«, fragte Kay. Er zwang sie, das Verbot, das es angeblich nicht gab, auszusprechen.

Leider würdigten sie ihn keiner Antwort.

Kay schwieg ebenfalls, und die Minuten zogen sich hin.

»Wir wissen ja nicht, ob Sie die Seefahrt zur Flucht nutzen«, zischte der rechts sitzende Offizier und verlor damit den Kampf um die Stille. »Beweisen Sie dem Land durch Ihren Wehrdienst, dass Sie wieder auf der richtigen Spur sind. Ziehen Sie Ihren Ausreiseantrag zurück.«

»Für mich ist ein Wehrdienst, welcher Art auch immer, verlorene Zeit. Meine Zukunft liegt in der BRD und nicht in der DDR .« Kay schüttelte den Kopf. Klar, dass sie so nicht weiterkamen. Sie boten ihm sogar den Dienst als Bausoldat an. Absurd.

»Ich bin kein Pazifist, ich freue mich auf die Waffe! Was dann passiert, geht allerdings auf Ihre Kappe. Ich bin ein nervöser Typ, und ich bin verdammt wütend!«

Die vier reagierten mit ähnlich empörter Miene, doch nur der links sitzende Offizier bekam vor Aufregung einen Schluckauf. Sie steckten ihre Köpfe zusammen, fragten, ob das sein letztes Wort sei.

Kay runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht, wie Sie einem Schädling wie mir eine Uniform anziehen wollen. Sie haben mir in den Verhören immer wieder bestätigt, dass ich ein Staatsfeind bin und dass man mich am liebsten unschädlich machen würde. Was wollen Sie?«

»Im Falle Ihrer Verweigerung des Wehrdienstes stehen darauf drei Jahre Gefängnis.«

Kay schwieg.

Erstmals sprach einer der Zivilen ein Wort. »Sie sind entlassen, Sie hören von uns.«

Er verließ den Plattenbau mit einem mulmigen Gefühl. Sie würden ihn mit Gewalt holen kommen. Das stand außer Frage. Er fuhr nicht in seine Wohnung zurück, sondern zu seinen Eltern, um Kriegsrat zu halten. Welche Möglichkeiten blieben ihm noch?

Sein Vater schlug vor, dass Kay zunächst untertauchen solle. Vielleicht ins Gartenhäuschen? Kay nickte resigniert. Vorübergehend sicher möglich.

»Und Kay? Erzähl niemandem, wo du untergeschlüpft bist. Auch nicht deinen Freunden!«

Er sah seinen Vater an. Nun verlor er also auch noch seine letzten Freunde, weil er ihnen nicht vertrauen durfte, aber er konnte es sich nicht leisten zu warten, bis er wusste, wer der Verräter war. Die Stasi wusste von der Wismarschen Straße. Entweder hatten sie ihn konsequent beschattet, oder es gab einen Informanten. Er wartete nicht länger auf Perestroika und Glasnost . Nicht darauf, dass es mehr Rechte für die Menschen und mehr Demokratie gäbe, dass sich der Eiserne Vorhang zwischen Ost und West lichten würde. Er hatte keine Zeit mehr. Er verließ sich nicht darauf, dass Gorbatschows russische Wunder die DDR rechtzeitig vor seiner Inhaftierung erreichten. Honecker hatte auf einer Tagung des Zentralkomitees der SED bekräftigt, dass »die Mauer auch in fünfzig und hundert Jahren noch stehen« würde.

Kay musste entweder auf die staatliche Linie einschwenken oder das Land verlassen.

Besser heute als morgen.

So sah es aus.