48 . Kapitel

Rostock-Parkentin, Oktober 2016

E s kam Kay vor, als zöge nicht nur die Geschichte um den Verräter an seinem inneren Auge vorbei, sondern seine ganze Jugend. Das ganze Elend.

Er drückte den Rücken durch und folgte dem Verräter. Am Ofen nahm er sich einen Teller und füllte sich wahllos Braten und Salat auf. Kay schob sich neben Oliver auf die Bank. Der kaute andächtig. Es schien ihm zu schmecken.

»Warst du mal wieder im Lindeneck?«, fragte Kay ihn, um sich abzulenken.

Oliver sah auf. »Lindeneck? Ans Lindeneck habe ich schon ewig nicht mehr gedacht.« Er lächelte. »Das gibt es noch. Aber Saschas Vater lebt schon lange nicht mehr. Ohne ihn … nein, ich war nie wieder dort.«

Kay nickte. Oliver. Alt war er geworden. Grau.

»Du hast nie viel über deine Zeit im Militärgefängnis erzählt«, sagte Kay und wollte ehrlich wissen, ob Oliver darüber sprechen konnte.

»Schwedt?« Oliver legte die Gabel beiseite und nahm einen langen Schluck aus der Bierflasche. »Schwedt war furchtbar. Deswegen spreche ich nicht gerne darüber. Es ändert ja nichts.«

Kay nickte. »Wir haben über vieles nicht gesprochen.«

Sie schwiegen, jeder in seinen Gedanken versunken.

»Sie haben uns nachts in dem Chemiewerk nebenan arbeiten lassen«, sagte Oliver leise. »Eine Riesensauerei. Kein Mensch hat mir je sagen können, welche Dämpfe ich da eingeatmet habe und was das für einen Schaden angerichtet hat. Wir hatten keine Atemmasken, keinen Schutz. Nicht mal Handschuhe«, echauffierte er sich mit langsam lauter werdender Stimme. »Wahrscheinlich krepiere ich vorzeitig an Krebs.« Er schüttelte seine leere Bierflasche. »Willst du auch noch eins?«

»Du hast aber keinen Krebs, oder? Davon hast du nie was gesagt.«

Oliver stand auf. »Nee, noch nicht, aber das kommt schon noch. Wie bei ihr

Er wandte sich ab und ging Richtung Ofen, um Biernachschub zu holen. Und dem Gespräch auszuweichen.

Wie bei ihr .

Alle ihre Gedanken landeten stets bei ihr. Und heute Abend auch bei ihm.

Sie hatte Kay damals Mut zugesprochen und ihn immer wieder ermuntert, Alternativen zur Seefahrt zu suchen, seine Freunde nicht zu verdächtigen, seine Ruhe zu finden. Bei einem Freund hatte sie sich geirrt!

Kay hatte sich damals viel zu lange damit gequält, endlich die Entscheidung zu treffen, aus dem Land zu verschwinden. Der Preis war hoch. Er verlor seine Familie, seine Freunde, seine Heimat. Aber es gab keine Alternativen mehr. Auch wenn er ahnte, dass es unter ihnen einen Verräter gab.

Er hatte ebenfalls lange über die Frage nachgedacht, auf die Haferberger nicht geantwortet hatte. Was war mit Haferberger und den anderen Stasi-Schergen passiert, dass sie es als ihre Lebensaufgabe ansahen, andere Menschen zu schikanieren, drangsalieren, zu verletzen, kränken und auszuspionieren? Die Hartnäckigkeit war aberwitzig und das Ausmaß menschlicher Kälte grenzenlos.

Wie war Haferberger ein solcher Mensch geworden?

Wie war der Verräter zu dem Menschen geworden, dem Freundschaft nichts bedeutete?

Die Stasi sah es als ihre Aufgabe an, die Menschen dazu zu bringen, das zu denken und zu tun, was die Sozialistische Einheitspartei wollte. Sie hatte sich zum Ziel gesetzt, Staatsfeinde oder solche, die es einmal werden könnten, frühzeitig zu entdecken und auszuschalten.

Das verstand er. Er verstand nur nicht, warum ihnen eines nicht auffiel: Wenn die Mehrheit der Menschen einen anderen Weg einschlagen möchte, ist der eigene Weg entweder nicht der richtige, oder aber er kann nicht mit diesen andersdenkenden Menschen umgesetzt werden.

Die Stasi verfolgte vermeintliche Staatsfeinde, bedrohte sie, bestrafte sie mit Gewalt und Inhaftierung. Sie setzten ihre Allmachtsfantasien auf effektive und grausame Art in die Tat um. Er erinnerte sich noch an Haferbergers Satz: Die harte Faust der Arbeiterklasse wird Sie in einen Gully schmeißen! Damals hatte er fast über den Jargon gelacht. Aber heute wusste er, dass diese vor Hass triefenden Worte gar nicht so weit von der Realität weg gewesen waren. Er lag am Boden. Seine Verzweiflung wuchs, und daher blieb nur noch ein Weg: die Flucht aus seinem Land.

Damals wusste die indische Reisegruppe nichts über Fluchtzahlen oder Fluchtrouten aus der DDR – sie hatten nur Ahnungen und waren auf Gerüchte angewiesen. Sie gingen davon aus, dass es Hunderte Fluchtversuche pro Jahr gab, aber wie viele glückten oder scheiterten, blieb unklar. Allenfalls die Todesfälle an der Berliner Mauer waren Thema in der westdeutschen Presse und damit für die indische Reisegruppe nachzuverfolgen. Damals kannte niemand die Zahlen, die inzwischen systematisch zusammengetragen, dokumentiert und veröffentlicht worden waren.

Nie hätten sie sich träumen lassen, dass zwischen 1961 und 1989 fast 300 .000 Menschen die Flucht aus der DDR gelungen war.

Eine unvorstellbare hohe Zahl.

Mindestens tausend Menschen fanden dabei den Tod.

Eine beängstigend hohe Zahl.

Wie viele Fluchtversuche die Stasi vereitelte, war bis zu diesem Tag unbekannt.

Nie wäre die Stasi so erfolgreich gewesen, wenn es nicht die Spitzel gegeben hätte.

Und von denen hatte sich einer an den Tisch schräg gegenüber gesetzt.

Kay hielt die Luft an. Wie würden die anderen reagieren?

Ihre Gesichter waren verschlossen.

Sie standen auf, nahmen ihre Teller und Bierflaschen in die Hand und setzten sich einen Tisch weiter. Kein Wort war gesprochen worden, und das war auch nicht nötig.

Der Verräter blieb allein zurück.