Rostock, Mai 1989
K ay war bereit für einen Fluchtversuch. Die Frage war nur: Wie? Auf welchem Weg und wann?
Sein Kopf blieb leer.
Da war nur Angst, und Angst war ein armseliger Ratgeber.
Das Risiko der Flucht war unvorstellbar hoch. Wenn sie ihn erwischten, wäre sein Leben vorbei. Er würde im Stasi-Knast verrotten, und das Leben seiner Familie zerstörte er ebenfalls. Seine Eltern dürften nicht mehr arbeiten, seine Schwester bekäme keine anständige Ausbildung. Von der emotionalen Belastung, einen Sohn im Gefängnis sitzen zu haben, mal ganz abgesehen.
Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Schluss jetzt. So kam er nicht weiter. Die Angst durfte nicht sein Leben bestimmen. Das war die Strategie der Stasi, mit der sie seit Jahren ein ganzes Volk beherrschte. Angst. Kay wollte sich der Angst stellen, auch wenn er sich fürchtete. Er hatte die Entscheidung getroffen, nun hieß es, sie umzusetzen.
Er setzte sich an den Küchentisch und griff zu Papier und Stift. Er überlegte, welche Fähigkeiten er besaß, die ihm die Flucht erleichtern würden. Die Liste war erbärmlich kurz. Aber als ob diese wenigen Stichpunkte seinen Blick geweitet hätten, lag plötzlich eine Erkenntnis vor ihm. Warum war er da nicht eher draufgekommen? Die Idee barg Risiken, und die auszuschalten, würde vermutlich eine Weile dauern. Zeit, die er nicht hatte. Und trotzdem … es war eine Möglichkeit.
Er griff nach einem neuen Blatt Papier und schrieb sich erste Stichworte von Utensilien auf, die er beschaffen musste. Für zwei oder für drei Personen? Um seinen Plan umzusetzen, brauchte er zwei, besser vier helfende Hände. Allein war der Fluchtplan nicht durchführbar. Waren seine Freunde noch Freunde, oder waren es heimliche Feinde? Es waren nur noch die Besten – und für die legte er die Hand ins Feuer: Juri, der Prof, Oliver und Arne. Aber es lauerte ein Verräter unter ihnen. Wer war es? Es konnte keiner aus dem engsten Kreis sein. Das war nicht vorstellbar. Juri, der Prof, Oliver und die Frauen hatten keinen Ausreiseantrag gestellt. Oliver saß im Militärgefängnis ein. Wenn Oliver der Verräter wäre, hätte Kay mit seinem Fluchtplan nichts zu befürchten, denn Oliver hatte keine Möglichkeit, Kay zu bespitzeln. Peggy und Mina umging er, indem er sich schwor, nicht auch nur mit einem Wort den Musterungsbescheid oder seine Fluchtgedanken zu erwähnen. Was sie nicht wussten, konnten sie nicht weitertragen. Damit verriet er ihre Freundschaft, aber es musste sein. Blieben noch Juri, Arne und der Prof. Er vertraute ihnen. Sie waren über jeden Zweifel erhaben, und er brauchte sie für seinen Plan.
»Gute Freunde erkennt man, wenn das Leben schwer ist«, murmelte er vor sich hin.
Arne hatte schon mehrfach versucht zu flüchten. Er hatte im Knast gesessen. Er war der Letzte, den Kay sich als Denunzianten vorstellte. Er würde sich niemals dem Verrat hingeben, denn er hasste die DDR -Regierung. Aber Arne hatte Peggy und Murmel, und seine Familie brauchte ihn. Kay durfte ihn nicht auffordern, noch einen Fluchtversuch zu wagen. Das würde Peggy ihm nie verzeihen. Erst recht nicht, wenn sie scheiterten.
Blieben noch der Prof und Juri.
Der zuverlässige und loyale Prof, der Fels in der Brandung. Wäre er zur Flucht bereit, wenn er Mina kein Wort sagen, geschweige denn sie mitnehmen durfte?
Und Juri? Kay hätte gemerkt, wenn etwas mit ihm nicht stimmte. Wenn er allen etwas vorspielte – ganz sicher. Er hätte Juri schon längst durchschaut. Die beiden waren seine besten und langjährigsten Freunde. Ihnen vertraute er bedingungslos.
Er stand auf und brühte sich einen Kaffee. Seemannsart. Kaffeepulver in den Becher und kochendes Wasser darauf. Nicht umrühren, sondern warten, bis sich das Pulver auf dem Grund absetzte. Heiß und stark.
Leider hatte er keine Seekarte, auf der er hätte nachschauen können, wie viel Zeit sie für die Fluchtroute einplanen mussten. Aber er hatte alles im Kopf. Das Wetter, das wäre ein Faktor, Wind ein mächtiger Gegner. Maximal drei bis vier Windstärken durften es sein. Besser wäre natürlich ein windstiller Tag. Regen hingegen wäre kein Problem. Später Nachmittag, früher Abend und dann los. Nur nicht zu spät, um kein Aufsehen zu erregen.
Gab es Alternativen? Nein. Wenn sie gestartet waren, galt es: alles oder nichts.
Sollte er seiner Familie einen Abschiedsbrief schreiben?
Welche Papiere musste er mitnehmen? Gut, dass sein Vater dieses alte Schweißgerät für Plastikbeutel besaß. Darin ließen sich die wichtigsten Dokumente einschweißen. Führerschein, Personalausweis, Facharbeiterzeugnis. Was noch?
Hatte er eben »sie« gedacht? Wie lange sie für die Route brauchen würden, wenn sie gestartet wären? Kay hatte sich unbewusst entschieden. Er überlegte noch ein letztes Mal. Ja, er vertraute den Freunden. Er würde mit ihnen sprechen und sie mitnehmen – wenn sie denn wollten. Wenn nicht, mussten sie versprechen zu schweigen. Sein Leben hinge davon ab.
Komisch, er hatte wenige Gedanken daran verschwendet, sich zu überlegen, dass die beiden die DDR vielleicht nicht verlassen wollten. Sie hatten immer davon gesprochen, aber weder der Prof noch Juri oder er selbst hatten je einen Fluchtversuch gewagt. War ihr Freiheitsdrang nicht stark genug, oder machten erst die Repressalien den Unterschied? Die imaginäre und individuelle Schwelle, die überschritten werden musste, bevor man Kopf und Kragen riskierte? Alles brauchte seine Zeit, Druck und Ausweglosigkeit. Juri und der Prof standen an ganz anderen Punkten in ihrem Leben. Der Prof hatte Mina, seine Arbeit an der Uni. Würde er ohne Mina und mit der Aussicht gehen, dass er eventuell ins Gefängnis käme? Reichte seine Fantasie, Mina nach Westdeutschland nachzuholen, wenn sie es schaffen sollten?
Bei Juri sah es etwas anders aus. Seine Ehe mit Romy kriselte schon länger. Juri war vor einiger Zeit zurück zu seinen Eltern gezogen. Eine unhaltbare Situation. Vielleicht wäre er froh über einen Neuanfang? Das waren alles Spekulationen, denn auch Juri musste sich mit den Folgen auseinandersetzen, sollten sie mit ihrem Versuch scheitern, in die BRD zu fliehen.
Kay wäre für alle Konsequenzen verantwortlich.
Freiheit oder Gefängnis.
Leben oder Tod.