50 . Kapitel

Warnemünde, Juni 1989

E s ging los.

Die feuchte Luft des frühen Abends war angenehm kühl. Vom Meer her wehte kein Windhauch, es waren keine Wellen zu sehen. So hatte Kay sich die Nacht gewünscht. Er hatte tagelang die Wettervorhersagen studiert und sich für diesen Abend entschieden.

Trotz der erfreulichen Bedingungen waberte die Angst in ihm, ließ ihn zweifeln und seinen Plan infrage stellen. Wenn er abgelegt hätte, gäbe es kein Zurück mehr.

Es war ein verrücktes Unterfangen, und er war ein verrückter Kerl in Not. Er hielt die Situation besser aus, wenn er sich das ganz klar sagte. Keine Entschuldigung und keine Ausflüchte suchte. Er hatte sich entschieden, denn wenn auch nur noch ein winziges Stück Hoffnung bestand, dass er nicht strandete, wollte er dieses Stück Perspektive mit beiden Händen packen.

Er stand am Alten Strom in Warnemünde und beobachtete den Liegeplatz. Um ihn herum flanierten die letzten Touristen des Tages, und er fragte sich, ob vielleicht getarnte Stasi-Schergen unter ihnen waren. Er stellte sich innerlich auf alle möglichen und unmöglichen Überraschungen ein, damit sie ihn nicht aus dem Konzept brachten. Er war wachsam und hoch konzentriert.

An diesem Abend, in diesem Moment jedoch, war alles wie gewohnt. Er spazierte den Kai hinunter, als ginge er noch immer zur Kranich . Er strahlte aus, dass er ein Recht darauf hatte, hier entlangzutrödeln. Er war auf dem Weg zur Arbeit. Er trug einen Blaumann, seine Arbeitsschuhe, hatte Handschuhe und einen Rucksack dabei, so wie es sich gehörte. Er war ein Skipper auf dem Weg zu seinem Boot. Basta.

Er gab sich unhörbare Anweisungen. Sprach in Gedanken jeden einzelnen Schritt vor, damit er sich sicherer fühlte. Er wusste, was er tat. Er tat das jeden Tag.

Natürlich stimmte das nicht.

Schon lange nicht mehr. Aber das wusste ja niemand.

Sein Plan war simpel: Er war Seemann, also flüchtete er über das Meer. Was sonst?

Als er in Höhe der Kranich ankam, blieb er stehen. Weiß glänzend lag die Barkasse auf dem Wasser. Fest vertäut. Ruhe und Kraft ausstrahlend. Er kannte sie besser als sein eigenes Schlafzimmer. Und heute Abend würden sie zusammen in See stechen, sie würde ihn nicht im Stich lassen. Aber das Schicksal allein wusste, wie weit sie beide kämen.

Er wagte es. Egal, welche Gedanken in seinem Kopf tobten, um ihn davon abzuhalten. Die eine Stimme schrie laut, dass er aus diesem Land verschwinden müsse. Die andere zeterte, dass die Flucht geradewegs ins Verderben führe. Die ignorierte er.

Würde der Schlüssel noch dort liegen, wo er früher war, oder endete die Flucht bereits an der Kaimauer?

Kay stieg über das Geländer und sprang auf die kurze Steintreppe, die auf den Holzsteg führte. Auf halber Strecke hinab lag in einer Nische ein Stein. Er hob ihn an, griff nach dem Schlüssel, als sei es das Normalste der Welt. Er drehte sich nicht um, kontrollierte nicht, ob ihn jemand beobachtete. Nur nicht auffällig sein. Es waren eingespielte Bewegungen, die er nicht unterbrach.

Als er die Treppe ganz hinuntergestiegen war und den Steg entlangging, fühlte er sich sicherer. Es waren gewohnte Abläufe, die Kette an der Reling zu lösen, an Bord zu steigen, die Kette wieder vorzulegen, den Gangbord entlang bis zum Ruderhaus zu gehen, mit dem Schlüssel die Tür des Ruderhauses aufzuschließen und das Licht einzuschalten.

Er legte seinen Rucksack auf dem Steuerpult ab und atmete tief ein und aus, ignorierte dabei das Engegefühl in der Brust. Weiter.

Er stieg den Niedergang hinunter, der zu einem winzigen Aufenthaltsraum und zur Toilette führte. Dort in dem einzigen Schrank hing der Zündschlüssel an einem langen Band am Nagel. Wie immer. Das unförmige Stück Kork am Ende des Bandes sorgte dafür, dass der wertvolle Schlüssel nicht unterging, falls er jemals versehentlich über Bord fallen sollte.

Er steckte den Schlüssel ins Zündschloss und ging ohne Zögern aus dem Ruderhaus den Gangbord entlang zum Heck des Schiffes. Hier öffnete er die Luke zu einem weiteren Niedergang, der direkt in den Maschinenraum führte. Er zog den Kopf ein und kontrollierte kurz darauf den Öl- und Kühlwasserstand. Schaltete den Energieschalter ein und sah nach dem Sprit im Tank. Alles bestens.

Es fühlte sich so vertraut an, dass er fast vergaß, dass er nicht zur Nachtwache eingeteilt war und keinen Auftrag hatte, auf Reede zu fahren. Dass er ein Einbrecher war und kein Recht hatte, den Duft der Barkasse einzuatmen. Diesen vertrauten Geruch nach Diesel, Öl und Holz. Und dass nicht sein alter Kamerad und Matrose Heino mit ihm fuhr, sondern seine beiden treuesten Freunde.

Er war an Bord, er hatte den Schlüssel zum Motor, das Schiff war bereit.

Die erste Klippe war erfolgreich umschifft.

Beide Freunde hatten gezögert, als er sie in seine Pläne einweihte. Beide hatten zu bedenken gegeben, dass sie Verpflichtungen hätten, Frauen und Familie, die ihnen vertrauten. Sie hatten um Zeit gebeten. Beide waren gekommen, um zuzusagen. Beide hatten ihre Familien nicht eingeweiht und ihnen gegenüber geschwiegen, um sie nicht zu gefährden. Neben der Sehnsucht nach Freiheit war diese Entscheidung ein großer Freundschaftsbeweis.

Sie hatten in seiner Wohnung gesessen. Er hatte ihnen das Schiff erklärt und sogar Zeichnungen angefertigt. Er hatte sie Vokabeln lernen lassen und Handgriffe nachgestellt und eingeübt. Sie hatten in der Theorie besprochen, wie man eine Maschine startet, wie man Öl- und Kühlwasserstand kontrollierte. Er hatte ihnen die Hähne aufgezeichnet und die Schalttafeln erklärt. Er hatte berichtet, wo sich welcher Schalter befand und was in den Luken und Räumen zu finden war. Sie hatten alles auswendig gelernt, für den unwahrscheinlichen Fall, dass jemand an Bord käme und sie nicht dumm herumstehen durften, sondern den Anschein erwecken mussten, dass sie sich auf der Barkasse auskannten.

Sie hatten absolute Geheimhaltung geschworen.

Er hatte ihnen Arbeitsklamotten besorgt und vorbeigebracht, hatte ihnen erklärt, wie man sich darin bewegte. Ihre Haltung korrigiert und ihr Selbstvertrauen gestärkt.

Den Grenzern würde nicht auffallen, dass sie keine Seemänner waren.

Sie hatten genug geübt und trainiert.

Sie hatten sich sogar Antworten auf mögliche Fragen überlegt, falls jemand das Wort an sie richten sollte. Sie wussten, wo man die Pumpen, auch die Fäkalienpumpe, fand. Wo das Getriebe, die Leinen, der Anker waren. Wie man das Boot fest- und losmachte und wo die Backskiste mit den Schwimmwesten stand.

Waren sie bereit?

Kay blickte nach oben in den strahlenden Himmel. Sie hatten sich darauf geeinigt, nicht die Dunkelheit der Nacht abzuwarten, sondern am frühen Abend zu starten, um die Fahrt ganz alltäglich aussehen zu lassen. Sähe er den Himmel heute zum letzten Mal? Er prägte sich den Farbton der Dämmerung ein. Und den Duft des Meeres. Den durfte er nie vergessen.

Wer wusste schon, wo er morgen wäre?

Juri und der Prof kamen pünktlich den Bürgersteig hinuntergeschlendert. Jetzt galt es, die beiden an Bord zu nehmen und sich zur Mittelmole zu begeben. Kay würde den Grenzposten kurz mitteilen, dass sie noch einmal zu einem Schiff auf Reede gerufen worden waren, um ein Crewmitglied überzusetzen. Die Posten kannten ihn, sie schöpften hoffentlich keinen Verdacht. Oder fiel ihnen auf, dass sie Kay schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hatten? Würden sie fragen, warum er heute an Bord war? Wo Heino war? Interessierte es jemanden? Waren es überhaupt noch die gleichen Grenzer?

Sobald sie erst den Alten Strom verlassen hätten, wartete die Ostsee auf sie, und damit wäre ihre Chance gekommen.

Bis zum letzten Schiff, das auf Reede lag, wären sie in Sicherheit. Danach in Gottes Hand.

Wenn die Grenzer auf dem Radargerät realisierten, dass sie auf der Flucht waren, würde die Jagd auf sie beginnen! Und leider waren die Grenzboote schneller als die Barkasse. Aber Kay würde bis dahin einen ordentlichen Vorsprung herausgefahren haben. Das war sein Trumpf, und den würde er ausspielen. Vollgas geben und das Beste hoffen.

Mit dem Erscheinen von Juri und dem Prof war die zweite Klippe erfolgreich umschifft.

»Willkommen an Bord, Männer. Auf Station.«

Kein persönliches Wort. Kein freundschaftlicher Blick. Sie waren seine Mannschaft, nicht seine Freunde. Das signalisierte er ihnen von der ersten Sekunde an, denn nur wenn sie funktionierten, hatte er den Kopf frei für die nötigen Entscheidungen.

Sie bekämen keine zweite Chance.

Der Prof sah ihn für einen Moment forschend an. Dann nickte er zögerlich und ging wie vereinbart sofort nach hinten in den Maschinenraum. Juri kletterte ins Ruderhäuschen und angelte sich Heinos Mütze vom Haken. Er zog sie tief ins Gesicht. Auf eine gewisse Distanz war er von Heino nicht zu unterscheiden. Die gleiche Statur, die gleichen Klamotten, das Haar unter der Mütze versteckt. Perfekt.

Die Jungs machten ihre Sache so gut, als hätten sie das schon tausendmal gemacht. Juri war schon auf dem Weg zum Bug.

Kay startete die Maschine. Der Motor rasselte, und Kay spürte die Vibrationen unter Deck. Die Barkasse schnurrte.

»Hol den Landanschluss ein und schmeiß los!«, rief er Juri zu.

Juri drückte den Bug des Bootes vom Steg ab und sprang dann behände an Bord.

Kay legte den Fahrhebel voraus und nahm ganz langsam Fahrt auf.

Sanft glitt die Barkasse durch den Alten Strom. Zwei Fischerboote kamen herein, und die Männer grüßten freundlich. Kay fühlte sich fast wohl.

Er atmete tief durch und griff zum Funkgerät. »Rostock Port für Kranich

»Rostock Port hört.«

»Einmal auf Reede zur MS Blankenburg, Leute abholen.« Kay hatte mehrfach geprüft, welches Schiff am weitesten weg lag. Gab es etwas, das er nicht wusste? Nicht wissen konnte? War die Reise hier zu Ende?

»Rostock Port hat verstanden. Gute Fahrt!«

Sie hatten zügig die dritte Klippe umschifft.

Bis zur Mittelmole brauchen sie nur drei Minuten. Die schäbige Baracke, die dort stand, fiel keinem Touristen auf. Niemand ahnte, dass in dieser Behausung die Grenzposten warteten und sich jedes Fahrzeug dort anmelden musste.

Kay verlangsamte die Fahrt und stoppte in Höhe des Fensters.

»’n Abend«, rief er dem Wachposten zu, der aus der Holzbude getreten war. »Ich fahr noch mal raus zur Blankenburg , um ein krankes Crew-Mitglied zu holen.«

Es war ein Spiel mit hohem Einsatz und höchstem Risiko. Manchmal winkten sie einen heraus und durchsuchten das Schiff. Manchmal lächelten sie nur müde. Und heute Nacht? Kay war vorbereitet. Auf alles. Seine Mannschaft auch?

»Wir haben den Funk mitgehört.«

Neben ihm stand Juri mit tief ins Gesicht gezogener Mütze am Schott und verhielt sich einwandfrei. Der Prof war von der Maschine zurückgekehrt und stand auf dem Niedergang zum Aufenthaltsraum. Niemand sah ihn von außen.

»Wie lange wird’s denn dauern?«, sprach der Grenzer plötzlich Juri direkt an.

Kay erstarrte. Die Gelassenheit von eben wich in Millisekunden einer triefenden Angst, die ihm aus den Poren strömte. Er hielt den Atem an. Welche Antwort gab Juri?

»Können wir noch nicht sagen. Mal sehen, wie schnell wir den Mann von Bord kriegen«, antwortete Juri, als überlege er tatsächlich, wie er den Erkrankten bergen konnte.

»Alles klar!« Der Posten winkte sie durch.

Gefährliche Strömungen an der vierten Klippe.