51 . Kapitel

Reede vor Warnemünde, Juni 1989

S ie hielten Kurs. An der Mole vorbei, leicht backbord und Richtung Ostsee. Sie brauchten ungefähr zwanzig Minuten bis zum ersten Schiff. Zwanzig Minuten in die richtige Richtung. Zwanzig Minuten Richtung Freiheit.

»Gut reagiert, Juri«, lobte Kay. »Das war knapp.«

Juri war im Ruderhaus auf den Boden gesunken und saß mit dem Rücken gegen das Schott. Erst als Kay sich umdrehte, sah er, wie blass und verschwitzt Juri war.

»Mir ist total schlecht.« Er riss sich die Mütze vom Kopf und wischte sich über die Stirn.

»Na komm, es ist geschafft. Wir sind an ihnen vorbei«, versuchte Kay, ihn aufzumuntern. »Oder wirst du seekrank bei spiegelglatter See?«

Juri lachte gequält auf.

»Wie kommen wir voran?«, fragte der Prof.

»Schaut her, ich zeige es euch auf dem Radar.« Kay wies mit dem Finger auf die Punkte und Striche. »Hier liegen die Schiffe auf Reede. Seht ihr den Pulk? Man hat ihnen noch keinen Liegeplatz im Hafen zugewiesen, und sie warten auf die Freigabe. Das letzte Schiff, das hier, das ist die Blankenburg. Unser Ziel.«

Der Prof nickte.

Juri bewegte sich keinen Millimeter. »Gib mir mal die Wasserflasche«, murmelte er.

Der Prof reichte sie ihm, und Juri trank gierig in großen Schlucken.

Die Anspannung war spürbar, und alle drei schwiegen.

»Ich brauch frische Luft«, sagte Juri und stemmte sich hoch. Kay blickte kurz hinter ihm her, doch bevor er etwas sagen konnte, schloss sich der Prof ihm an.

Endlich näherten sie sich der Blankenburg . Jede Seemeile zählte. Wenn sie das Schiff passiert hatten, galt es. Dann wäre jedem Radarbeobachter klar, dass die Barkasse auf der Flucht war. Kay wollte das Boot mit dreiundzwanzig Knoten ins Rennen schicken. Sie hatten zweiunddreißig Seemeilen bis Gedser, für die sie ungefähr eineinhalb Stunden brauchen würden. Einen Teil hatten sie aber schon geschafft. In den dänischen Gewässern wartete die Freiheit – wenn sie denn bis dahin kämen.

Kays fieberhafte Konzentration verursachte ihm Kopfschmerzen. Unter den Schmerztabletten, die er vorsorglich eingenommen hatte, waren sie jedoch nur dumpf zu spüren. Bisher lief alles nach Plan. Sie hatten die Schiffe eins nach dem anderen passiert. Kay konnte nur vermuten, welches Boot auf dem Radar das Grenzboot war. Wenn er richtiglag, fuhr es in weiter Entfernung.

Er drosselte die Geschwindigkeit. Nicht auffallen und nichts überstürzen. Die Blankenburg lag schon schräg vor ihnen in Sichtweite.

Kay wollte gerade das Heck umfahren, als er es hörte, bevor er es fühlte.

Etwas stimmte nicht – die Maschine … das Geräusch …

Dann vibrierte es unter seinen Füßen.

Sie verloren an Fahrt.

Verdammt noch mal, was ist passiert?, schoss es ihm durch den Kopf.

Die Maschine stotterte … und mit einem letzten Beben stand sie still. Verreckt.

Kay streckte den Kopf aus dem Ruderhaus. »Was ist los?«, schrie er Richtung Heck.

Er erhielt keine Antwort.

Weder Juri noch der Prof waren zu sehen.

Wo waren die beiden?

Panik flatterte in seiner Brust.

Zerschellten sie an der fünften Klippe?