53 . Kapitel

An Bord der Kranich , Juni 1989

J uri fing wieder an zu jammern. »Wir dürfen nicht flüchten, sie erschießen uns!«

»Du hast die Dieselleitung manipuliert!«, knurrte Kay zwischen zusammengebissenen Zähnen. Er gab seiner Wut nicht nach. Nicht jetzt. Er musste die Maschine reparieren. Noch waren sie nicht am Ende der Reede angekommen. Noch waren sie in Sicherheit und konnten ihre Position gut rechtfertigen.

Juri schwieg.

»Du Judas!«, presste der Prof hervor. Auch er versuchte, seine Wut zu zügeln. Er nickte langsam. »Sag, was du da unten alles manipuliert hast, oder ich prügele die Antwort aus dir raus!«

Kay traute seinen Ohren nicht. Der sanftmütige Prof klang nicht nur todernst, sondern auch so wahrhaftig, dass Kay sicher war, er würde handgreiflich, wenn Juri nicht redete. Mist, das konnte er jetzt nicht gebrauchen.

»Das Grenzboot, da kommt es!«, rief Juri und zeigte mit dem Finger auf das Radarbild. Die Erleichterung war ihm anzumerken. »Wir sagen, wir haben einen Maschinenschaden. Dann passiert uns nichts, und wir lassen uns helfen.«

»Dann passiert uns nichts? Du feiger Wicht …«, brüllte der Prof.

»Halt ihn vom Funkgerät fern«, fiel ihm Kay mit scharfer Stimme ins Wort. »Es dauert noch, bis das Grenzboot da ist.« Er zitterte am ganzen Leib, aber er durfte jetzt nicht die Nerven verlieren. »Ich repariere die Maschine. Sie kennen die Barkasse, noch sind wir innerhalb der Reede und damit einigermaßen sicher.«

Er sah Juri an und konnte sich nicht losreißen. In Juris Blick lag Feindseligkeit. Warum hatte er das nicht früher erkannt?

»Ich habe euch nie geschadet. Nie!«, jammerte Juri. Mit einem Wimpernschlag lag nur noch Verletzung in seinem Blick, und der Hass war verschwunden.

Hatte Kay sich getäuscht? So oder so klangen die Worte hohl, wie auswendig gelernt. Er wollte nichts hören. »Lass ihn um Himmels willen nicht ans Funkgerät«, rief er dem Prof zu.

Kays Aufgabe war es, die Maschine zu reparieren und das Grenzboot zu beruhigen. Sie durften nicht an Bord kommen, sonst würden sie Juri sofort ansehen, dass hier etwas nicht stimmte.

Er rannte zum Heck. Atmete dreimal tief durch.

Die Schraubverbindung war lose, und vermutlich war Luft in den Kreislauf gekommen, deshalb war die Maschine stotternd krepiert. Wenn er das System entlüftete, hätten sie eine Chance. Das Grenzboot war noch weit weg. Er würde es schaffen. Bestimmt.

Im Maschinenraum drehte er noch einmal die Schraubverbindung fest. Gut, es tropfte nicht mehr. Aber die Luft musste raus aus dem System. Er griff nach oben an die Einspritzpumpe und tastete mit den Fingern nach der Entlüftungsschraube. Seine Hände zitterten derartig, dass er die kleine Schraube zuerst nicht gelöst bekam. Sie drehte sich ganz langsam, und er hörte die Luft entweichen. Schneller. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis Diesel an seinen Fingern hinab tropfte. Er drehte die Schraube wieder zu und wischte sich die Hände an einem Lappen ab. Er keuchte vor Anspannung. Das war’s.

Hoffentlich.

Der Prof hatte Juri aus dem Ruderhaus und auf die dem Grenzboot abgewandte Seite in den Gang gebracht. Kay lehnte sich ins Führerhäuschen, und ein Blick auf das Radargerät zeigte, dass das Grenzboot Kurs auf die Kranich hielt, aber noch brauchte, bis es in Hör- und Sichtweite käme.

»Weißt du, was er labert?«, fragte der Prof mit Ekel in der Stimme. »Er habe der Stasi nur Lügen verkauft. Kluge Lügen, dass sie nichts bemerkt hätten. Er feiert sich noch!«

Dem Prof war die Brille auf die Nasenspitze gerutscht und drohte herunterzufallen. In seinen Augen blitzte blanke Wut.

»Er glaubt tatsächlich, er hätte die Kontrolle darüber, was die Stasi mit den Informationen macht. Er findet, er hätte uns nicht geschadet. Er ist ein Verräter, und er quatscht so einen Scheiß!«

Kay fühlte die Kälte, die sein Herz umklammert hielt. Juri, sein bester Freund, log sich um Kopf und Kragen. Kays Magen krampfte sich vor Enttäuschung und Verzweiflung zusammen. Dabei hatte er sich doch darauf vorbereiten können, denn er wusste ja, dass es einen Spitzel gab. Aber doch nicht Juri! Darauf konnte man sich nicht vorbereiten. Verdacht hin oder her. Die letzte Bestätigung brannte sich trotzdem in seine Eingeweide, und die Erkenntnis, dass er sich in seinem besten Freund getäuscht hatte, war um ein Vielfaches schmerzhafter als jemals vermutet. Juri hatte den Verdacht bestätigt und war dabei nicht einmal rot geworden. Er bereute nichts!

»Es war nichts, ehrlich«, sagte er wieder. »Ihr übertreibt maßlos!« Seine Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengepresst.

Die Lüge schob sich wie ein Tiefseegraben zwischen sie.

»Ist meine versaute Seefahrt, der Entzug meines Seefahrtsbuches etwa Übertreibung?«, brüllte Kay. »Du wirst dich nicht rausreden, du …«

Weiter kam er nicht. Der Prof hatte sich von der Bordwand gelöst und auf Juri gestürzt. Er schlug ihm so hart mit der Faust ins Gesicht, dass Kay es knacken hörte. Auch der Prof wollte nichts mehr hören. Er drosch wie besessen auf Juri ein. Der riss die Arme hoch, um seinen Kopf zu schützen. Vergeblich.

Kay erstickte den Schrei, den er auf den Lippen hatte, mit der Faust.

Der Prof prügelte unkoordiniert auf Juri ein. Eine Faust an den Kopf, in den Magen, an den Arm. Immer weiter.

Kay ging dazwischen und steckte einen rechten Haken in die Rippen ein. Er ignorierte den Schmerz. Trotzdem gelang es ihm nicht, die beiden zu trennen. Vielleicht wollte er es auch nicht. Er trat einen Schritt zurück.

Juri hatte seine Deckung aufgegeben, und Kay hörte, wie ein erneuter Treffer des Profs Juris Nase brach. Blut schoss heraus. Als Juri sich instinktiv an die Nase fasste, ließ der Blick auf die blutbesudelte Hand alle innehalten. Juri ließ den Arm kraftlos sinken und taumelte wimmernd den Gangbord entlang. Der Prof folgte ihm.

Kay war eiskalt.

Plötzlich gelang dem Prof ein harter Schwinger, und Juri wich stolpernd zurück.

Er schlug hart gegen die Reling und stürzte darüber.