54 . Kapitel

An Bord der Kranich , Juni 1989

D er Prof hielt erschrocken inne. Schob sich mit einer unwillkürlichen Bewegung die Brille wieder höher auf die Nase und starrte Kay an.

Sie sahen sich an.

Beide stürzten vorwärts und beugten sich über die Reling.

Kay hörte Juri brüllen. Er strampelte im schwarzen Wasser direkt neben dem Boot. Da es windstill war, gab es kaum Strömung, und Juri driftete nicht davon. Er war in Panik. Seine Kleidung hatte sich mit Wasser vollgesogen, und er schrie um Hilfe. Klatschte mit der flachen Hand gegen die glatte Bordwand, an der er nichts war, woran er sich festhalten konnte.

Kay fragte sich, ob Juri in seinem Überlebenskampf begriff, was für ein Schwein und widerlicher Verräter er war. Juri war dafür verantwortlich, dass ihm das Seefahrtsbuch entzogen worden und sein Lebenstraum zerplatzt war. Und wofür? Wofür hatte er die Freundschaft mit Füßen getreten? Kay verstand es einfach nicht.

Juri versank im Meer. Sein Kopf tauchte wieder auf.

Panisch schlug er im Wasser um sich.

Es dauerte einen Moment, bis Kay verstand: Juri ertrank.

Er drehte sich um und griff nach dem Bootshaken, der seitlich an dem Ruderhaus befestigt war.

Eine Hand auf seinem Arm hielt ihn zurück. Der Prof sah ihm in die Augen, sagte kein Wort.

Argwöhnte er, Kay wollte Juri mit dem spitzen Bootshaken den Rest geben?

Wieder fixierten sie einander. Ihn ertrinken zu lassen, war verlockend. Juri könnte sie nicht mehr verraten, nicht ausliefern. Er wäre einfach verschwunden. Wenn er seinen Führungsoffizier eingeweiht hatte, wäre das natürlich verdächtig, aber Kay glaubte nicht daran. Vermutlich hatte Juri sich mal wieder alle Optionen offengelassen, und wenn er den Mut gehabt hätte, die Flucht durchzuziehen … hatte er aber nicht. Er hatte einen Rückzieher gemacht, und nun paddelte er um sein Leben.

Die Sekunden dehnten sich. Kay haderte. Sollten sie ihn ertrinken lassen? Juri hatte sie schändlich verraten und ihrer aller Leben zerstört. Er hatte es verdient.

»Es wäre die Lösung all unserer Probleme«, flüsterte er.

Der Prof nickte. »Ja, das stimmt.«

Weitere Sekunden vergingen.

»Ich werde ihn rausholen, nicht versenken«, flüsterte Kay. Er verstand sich selbst nicht.

Die Hand des Profs blieb, wo sie war.

Sie hörten Juri um sein Leben keuchen.

Immer noch sahen sie sich an. Der Prof runzelte die Stirn. Seufzte. Sie rangen mit sich. Sollten sie den Verräter ersaufen lassen?

Der Prof zog seine Hand weg.

Kay lehnte sich über die Reling, hielt dem geschwächten Juri den Bootshaken hin, an den er sich sofort klammerte.

»Wahrscheinlich die dümmste Entscheidung unseres Lebens«, sagte der Prof und half, Juri langsam Richtung Aufgang zu ziehen. Er löste die Kette, und sie hievten ihn an Bord.

Triefend nass und jammernd lag er zu ihren Füßen. Kay ekelte sich und bereute schon, Juri aus dem Wasser gezogen zu haben. Sie hätten ihn in der Ostsee ertrinken lassen sollen.

»Kay, ich bin doch dein Freund«, plärrte Juri.

Kay hielt sich nicht länger zurück. Der aufgestaute Ärger, die Ängste, die er seit Jahren ausstand, die Freunde im Knast, das alles, weil Juri sein Freund war? Er spuckte Juri vor die Füße.

»Gib mir den Bootshaken!«, rief der Prof. »Ich halte ihn in Schach.«

»Du bist ein Spitzel«, schrie er Juri entgegen, als er dem Prof den Bootshaken in die Hand drückte. »Wie konntest du uns das antun?«

»Na und …«, flüsterte Juri, »oder hat es dir gefallen, dass alle abhauen wollten? Wir sind doch die indische Reisegruppe. Wir trennen uns nicht. Niemand darf einfach gehen und uns im Stich lassen.«

Es traf Kay wie ein Faustschlag ins Gesicht. Er glaubte, in einem Sturm aus Gefühlen zu ertrinken. Er schnappte nach Luft. Juri, der Sonnyboy der Gruppe. Kays bester Freund und treuer Kumpel gab seinen Verrat zu und rechtfertigte ihn noch.

Er verbarg seine Abscheu nicht länger.

Da flammte plötzlich ein Suchscheinwerfer auf und strich über ihre Köpfe.

Der Prof versuchte instinktiv, sich zu ducken. Kay zog ihn auf halber Strecke wieder hoch. Wer nichts zu befürchten hatte, verhielt sich auch nicht auffällig. Niemand duckte sich an Bord. Das Licht aushalten und sich keine Blöße geben. Die Barkasse durfte hier sein. Sie hatten einen Auftrag. So mussten sie sich auch benehmen.

Das Funkgerät knisterte. »Kranich für GB 102

Kay holte zweimal tief Luft, versuchte, sich zu beruhigen, stemmte die Füße fest in den Boden, stellte sich breitbeinig hin und drückte den Rücken durch. Er griff nach dem Funkgerät. »Kranich hört«, antwortete er mit fester Stimme. Er war der Skipper, verdammt noch mal.

»Sind Sie in Schwierigkeiten?«

»Wir haben Blackout, Maschine unklar, es geht aber gleich weiter!«

Um das zu beweisen, startete Kay den Motor. Und tatsächlich, die Barkasse stotterte zuerst, doch der Motor lief wieder. Die Entlüftung hatte geklappt.

»GB 102 für Kranich . Maschine klar, fahren zurück zum Liegeplatz Alter Strom.«

»Verstanden!«

Das Grenzboot drehte leicht ab, aber ließ sich nicht abwimmeln.

Es war zwecklos. Er musste abbrechen und zurückfahren. Wenn das Grenzboot so dicht war, hatten sie keine Chance, ihm davonzufahren. Wegen Juri hatten sie das kleine Schlupfloch verpasst.

Kay wendete das Boot und nahm Fahrt auf Richtung Warnemünde. Richtung Gefängnis.

Kays Blick verschwamm. Es war nicht nur Juris Verrat. Es war auch sein Verlust. Er hatte alles verloren, was je zwischen ihnen gewesen war. Ihre Erlebnisse. Ihr Lachen. Ihre gegenseitige Anteilnahme und das Vertrauen. Alles Lüge. Alles verloren.

Sie waren an der letzten Klippe zerschellt.