55 . Kapitel

Rostock, Juni 1989

Z wei lange Tage später klingelte es endlich an der Haustür.

Punkt acht Uhr früh.

Kay erwartete seine Gefangennahme stündlich. Er schlief kaum, aß nichts, schleppte sich durch die Stunden des Tages. Wann würde Juri mit seinem Führungsoffizier sprechen und für ihre Verhaftung sorgen?

Er schlurfte ungewaschen, unrasiert und nur in Unterhose und T-Shirt zur Tür. Er hatte keine Kraft mehr. Das Leben hatte ihn besiegt.

Ein Blick durch den Türspion ließ ihn erstarren.

Es war der Prof.

Er riss die Tür auf. »Hast du was gehört?«

Der Prof schüttelte den Kopf und ging ohne ein Wort in die Küche. Er sah ebenfalls mitgenommen aus. Er setzte sich an den Tisch und legte die Tageszeitung und eine Brötchentüte auf den Tisch.

»Ich kann nicht mehr. Ich bin ein Wrack. Ich muss wissen, ob mein Leben weitergeht. Ich warte nicht länger, bis sie uns holen!«

»Kaffee?«

Eine Weile herrschte Schweigen. Kay setzte Wasser im Kessel auf, füllte zwei Becher mit Kaffeepulver und stellte sie auf den Tisch. Er merkte, dass allein schon die Gegenwart des Profs ihn beruhigte.

Er dachte daran, wie sie vorgestern Nacht in Warnemünde angelegt hatten.

Kay hatte auf der Rückfahrt panisch darüber nachgedacht, wie sie Juri zum Schweigen bringen könnten. Ihm war nichts eingefallen, und er war froh, als der Prof die Initiative übernahm. Er hatte Juri einen Deal vorgeschlagen. Alle Beteiligten sollten schweigen. Juri hatte stumm in der Ecke gesessen und nicht reagiert. Der Prof hatte ihn angeschrien und verlangt, dass er seinem Führungsoffizier gegenüber schwieg, und im Gegenzug wollten er und Kay ihn nicht als Verräter in der Clique und in ganz Rostock enttarnen.

Juri hatte einen Moment überlegt und dann widerwillig eingeschlagen.

Doch damit war es nicht vorbei. Sie hatten ihre Angst unterschätzt. Sie konnten Juri keine Minute vertrauen. Die Angst fraß sie auf.

»Juri verrät uns nicht«, sagte Kay trotzdem, wenn auch wenig überzeugend.

Der Prof hob fragend eine Augenbraue.

»Nicht weil wir ihm noch etwas wert sind, sondern weil er zu feige ist. Deshalb. Er würde sich der Stasi erklären müssen, warum er sich an Bord nicht bemerkbar gemacht hat. Warum hatte er es so weit kommen lassen? Er müsste sein Scheitern offenbaren. Das schafft er nicht.«

Sie hatten Juri mitten in der Nacht einfach stehen gelassen. Sie hatten die Barkasse an der Pier vertäut und sich wortlos umgedreht. Sie hatten einen Schritt vor den anderen gesetzt. Wie auf Autopilot gestellt. So erreichten sie den Honsa und fuhren die vierzehn Kilometer nach Hause. Im Schleichgang, als wären sie im Auto sicher und hätten Angst vor der Ankunft zu Hause. Wartete die Stasi schon auf sie? So schnell wären selbst diese Leute nicht, aber die Vorstellung ließ sich nicht vertreiben.

Der Prof hatte Kay in der Wismarschen Straße abgesetzt. Sie hatten sich wortlos in den Arm genommen und gehalten. Zu sagen gab es nichts mehr. Es war ein Abschied. Vielleicht ein Abschied für immer.

Jetzt saß der Prof ihm gegenüber. Das war doch schon was, oder? Ein geschenkter Morgen.

»Ich fühle mich so ohnmächtig, kann nichts tun, keine Entscheidung mehr treffen. Es hat ewig gedauert, bis ich mich aufgerafft habe, heute zu dir zu kommen.«

»Frühstück?« Kay zeigte auf die Brötchentüte. Eine rhetorische Frage, um Zeit zu gewinnen. Er hatte ebenfalls keine Idee, wie sie diesem hilflosen Ausgeliefertsein entkamen. Er kramte zwei Frühstücksbretter und zwei Messer hervor.

Der Prof nickte und zeigte mit dem Finger auf ihn. »Du hast dein T-Shirt falsch rum an.«

Kay besah sich das Shirt. Auf links gedreht. Egal.

Im Kühlschrank fand er Margarine und einen Rest Marmelade. Selbst ein Zipfel Käse war noch da. Er schob die Zeitung beiseite, um seine Beute auf dem Tisch abzulegen.

»Steht was über uns oder die Kranich drin?«

»Steckte in deinem Briefkasten.« Der Prof griff nach der Zeitung und schlug sie auf. Dabei fielen ein paar Briefe zu Boden. Er bückte sich, um sie aufzuheben, stoppte mitten in der Bewegung und hielt eine Postkarte hoch.

Beide wussten sofort, worum es sich handelte. Diese speziellen Karten sahen immer gleich aus.

Die Stasi bestellte ihn ein.

Also doch. Juri hatte Rapport gegeben und sie abermals verraten.

Nun waren sie also gesuchte Straftäter. Die Stasi war darauf gedrillt, Grenzverletzer aufzuhalten. Warum standen sie nicht vor der Tür und nahmen sie fest? Worauf warteten sie? Wieso die obligatorische Karte?

Kay nahm sie mit zitternden Händen. Er drehte die Karte um. Zur Klärung eines Sachverhalts. Wie immer. Aber die Karte war nicht die gleiche wie immer. Diesmal sollte er an einen anderen Ort kommen: zur Volkspolizei in der Klement-Gottwaldt-Straße.

Kein neues Verhör. Eine Verhaftung wegen Fluchtversuchs. Und er sollte auch noch selbst zum Schafott gehen. Schon am nächsten Tag. 11 Uhr. Zimmer 13 .

Sie sahen sich an: Es war vorbei, die Stasi wusste Bescheid. Juri hatte geredet.

Kay atmete mit geschlossenen Augen tief ein und wieder aus, zählte dabei langsam von zehn bis null herunter.

»Ich spreche mit Mina«, sagte der Prof und stand auf. »Ich habe vermutlich auch eine Karte in der Post. Lass uns Mina den Honsa schenken! So kommt die Stasi wenigstens nicht an das Geld.«

Kay nickte nur. Der Kloß im Hals verhinderte jedes Wort.