Rostock, Juni 1989
K ay traf zwanzig Minuten zu früh vor dem Gebäude der Volkspolizei ein. Er hatte kurz überlegt, einen erneuten Fluchtversuch zu wagen. Aber ihm fehlten die Energie und die Kraft. So ging er seinem Henker entgegen, was total verrückt war, wenn er genauer darüber nachdachte.
Das Gebäude war durch eine Mauer geschützt und darin ein Metalltor eingelassen mit einem Wachposten davor. Kay hielt dem Polizisten wortlos seine Karte hin.
Sprechen konnte er nicht.
Seine letzten Worte hatte er verbraucht, als er seinen Eltern einen Abschiedsbrief auf dem Küchentisch hinterließ. Sie verbrachten, zusammen mit seiner Schwester, ihren Jahresurlaub am Balaton in Ungarn. Er wollte es jetzt nur noch hinter sich bringen. Warum das Unvermeidliche hinausschieben?
Er war bereit. Das Zittern der Nacht hatte nachgelassen.
Er war auch nicht überrascht, als alles wie immer ablief. Anmelden. Warten.
Endlich öffnete sich die Tür zu Zimmer 13 . Natürlich, die Nummer 13 . Die Stasi hatte ja doch Sinn für Humor. Er erhob sich und ging hinein.
Hinter dem braunen Schreibtisch saß ein uniformierter Volkspolizist. Er sah Haferberger ähnlich. Zwar trug der Mann die silbergraue Uniformbluse der Volkspolizei und keinen Anzug, aber die wachsweiße Haut und der zackige Tonfall erinnerten Kay an seinen üblichen Verhörspezialisten. Ob sie das trainierten? Die Schulterstücke mit dem silbernen Pickel drauf fesselten seinen Blick. Die silbernen Knöpfe waren auf Hochglanz poliert.
Kay setzte sich.
»Ich habe Ihnen heute zu eröffnen, dass wir …«, er blätterte in den Akten. Sein Tonfall war sachlich, und beinahe leierte er die Worte herunter. »… ich finde gerade das Datum nicht. Ich habe Ihnen heute zu eröffnen, dass wir Ihr Ersuchen auf Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland nochmals geprüft haben.« Er räusperte sich. »Wir haben entschieden, diesem Ersuchen stattzugeben.«
Kay reagierte nicht. Er verstand die Worte nicht. Die Worte schon, aber den Sinn nicht.
»Sie …?« Er bekam keine Luft mehr. An den Rändern seines Gesichtsfeldes wurde es bedrohlich schwarz. Er zwang sich, Luft zu holen.
»Das hier ist der Laufzettel.« Der Beamte schob ihm ein Papier zu, das neben der Akte gelegen hatte. »Den füllen Sie aus und legen ihn an den entsprechenden Stellen zur Unterschrift vor. Sie dürfen keinen einzigen Posten auslassen. Sie brauchen alle Unterschriften und Stempel!« Er nahm ein weiteres Blatt zur Hand.
»Laufzettel?«
»Ja, Laufzettel. Sie melden sich ab. Wir brauchen eine Erklärung Ihrer Bank, dass Sie keine Schulden haben. Ansonsten begleichen Sie die vorher, sonst wird das nichts mit der Ausreise. Lösen Sie Ihre Konten auf. Und unterschreiben Sie das hier noch.« Ein neuer Zettel fand den Weg über den Tisch.
»Was ist das?«
»Das ist die Bestätigung, dass Sie um Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR gebeten haben«, seine Stimme überschlug sich vor Widerwillen. »Dass Sie auf Ihr gesamtes Eigentum verzichten. Das gehört vom heutigen Tag an dem Staat. Unterschreiben Sie dort.«
Sein Zeigefinger wies auf den unteren Abschnitt.
»Ich weise Sie darauf hin, dass Sie dann ohne staatsbürgerliche Rechte sind. Sie haben keinen Versicherungsschutz mehr.«
Der Mann hatte stark behaarte Finger. Und er trug einen Ehering.
Das fiel Kay auf. Sonst nichts. Er entzifferte durch die Tränen nicht, was auf dem Papier stand. Es verschwamm alles vor seinen Augen. Er unterschrieb.
War das die Wahrheit?
Oder der letzte große Coup der Stasi, um ihn zu brechen?