Rostock, Juni 1989
Z ehn Tage später stand er am Hauptbahnhof Rostock und wartete auf den Zug nach Lübeck. Nicht irgendeinen Zug. Sondern diesen einen Zug, aus dem er nicht ausstieg. Der Zug, der ihn in das andere Deutschland bringen würde und nie wieder zurück. Die Stasi beobachtete ihn, hatte ihn aber nicht angesprochen, nicht verhaftet. Er reiste tatsächlich aus.
Kay sah seine Mutter an. Sie freute sich für ihn – aber sie wusste nicht, ob sie ihren Sohn jemals wiedersehen würde. War es richtig, ihr das anzutun? Sie zitterte, und ihr liefen Tränen über die Wangen. Er hatte sich vorgenommen, stark zu bleiben, der Stasi keine Genugtuung zu verschaffen, indem er Tränen zeigte. Sein Vater war ohnehin nicht besonders gefühlsbetont, er meinte optimistisch, dass sie sich sicher bald besuchen würden. Seine Schwester sagte nichts und dachte vermutlich nur an das Zimmer, das ihr nun allein gehört. Er verstand sie.
»Ich kann es gar nicht glauben«, sagte seine Mutter.
Kay war es genauso ergangen. Als er aus der Station der Volkspolizei hinausgewankt war. Ungläubig. Misstrauisch. Er hatte sich an der Hauswand festgehalten, als die Magenkrämpfe einsetzten und er anfing zu zittern.
Ein älterer Mann war stehen geblieben und hatte gefragt, ob alles in Ordnung sei.
Er erinnerte sich nicht mehr daran, ob er etwas geantwortet hatte. Aber er erinnerte sich an das Gefühl, das ihn überschwemmt hatte. War das nicht nett von diesem alten Mann? Er war nicht weitergegangen. Er hätte geholfen. Es gab gute Menschen in der DDR . Kay war dankbar.
Er war direkt zum Prof nach Hause geschlichen. Hatte ihm alles erzählt. Der Prof hatte ihm schweigend zugehört. War er zunächst erleichtert gewesen, Kay vor sich zu sehen, wechselte seine Miene im Minutentakt die Befindlichkeiten.
»Ausreise?«, echote er immer wieder.
Der Prof freute sich, und er war traurig zugleich. Er glaubte nicht, dass Juri wirklich dichtgehalten hatte. Kam das dicke Ende noch? Wollten sie Kay verspotten und im Zug verhaften? Oder noch schlimmer, was, wenn Kay tatsächlich ausreiste und den Prof zurückließ? Jetzt, nach allem, was sie zusammen durchgestanden hatten? Der Prof durfte Mina nichts erzählen. Nicht Arne oder Peggy. Eine schwere Bürde.
In Freudentaumel verfielen sie nicht. Nur in einen Ansturm von Gefühlen, mit denen sie nicht umzugehen wussten. Und ein Blick in die Augen des anderen, in dem sie ein bisschen von dem erkannten, was ihre Freundschaft ausmachte.
Der zweite schwere Gang führte ihn zu Peggy. Nicht um ihr zu berichten, was sich ereignet hatte, nicht um sich zu verabschieden. Sie durfte nichts wissen, das war der beste Schutz. Ein normaler Besuch für sie, ein Abschied für immer für ihn. Sie hatte sich gewundert, warum er während des ganzen Nachmittags kaum ein Wort herausgebracht hatte, denn zum Abschied legte sie ihm die Hand auf die Wange und flüsterte: »Zartgefühliger, was ist dir denn passiert?«
Er ging wortlos.
Kay legte den Arm um seine Mutter. Seine Eltern hatten ihn immer unterstützt. Sie wussten, wie unglücklich er mit dem Berufsverbot war. Sie hatten seine Nachricht im Urlaub in Ungarn erhalten. Er hatte ihnen ein Telegramm geschickt: Nachricht positiv. Ankunft Rostock erforderlich bis 21 . 6 . später Abend. Gruß Kay.
Sein Vater war mit dem alten Skoda zwanzig Stunden nonstop nach Rostock durchgefahren. Sie aßen ein letztes Abendbrot zusammen und schwiegen die meiste Zeit. Seine Eltern sah er vielleicht in ihrer Rente wieder. Aber seine Schwester? Sie bekäme ums Verrecken keine Reisegenehmigung in den Westen. Niemandem fielen letzte Worte ein, obwohl es doch so viel zu sagen gab.
Seine Mutter schob ihn ein wenig von sich. »Junge, wenn dein Vater 1961 nicht auf See gewesen wäre, hätten wir im Westen gelebt«, murmelte sie. »Wir kamen nur Tage zu spät. Du lebst das Leben, das wir nicht geschafft haben, und das ist gut. So schließt sich der Kreis. Onkel Wolf hilft dir. Du bist nicht allein, vergiss das nie.«
Sie sahen sich an, bis der Zug einfuhr.
Kay griff ein letztes Mal in seine Jackentasche, um sich zu vergewissern, dass sein Zugticket da war. Das Ticket und eine Identitätsbescheinigung waren die einzigen Dokumente, die er aus der DDR mitnahm.
Als er seinen Laufzettel abgab, forderte der Beamte seinen Personalausweis ein.
»Mit Aushändigung dieser Ausbürgerungsurkunde sind Sie staatenlos, nur dass Sie das wissen. Ihr Zug verlässt um sieben Uhr fünf den Hauptbahnhof. Zeigen Sie das Ausweispapier an der Grenze vor. Sie verlieren ab sofort alle staatsbürgerlichen Rechte. Sie sind nicht versichert, auch nicht krankenversichert … haben Sie noch Fragen?«
Kay schüttelte den Kopf.
»Verpassen Sie den Termin nicht, einen zweiten gibt es nicht.«
»Auf diesen Tag warte ich seit Jahren. Ich werde pünktlich sein!«
»Unterlassen Sie am Bahnsteig alle Provokationen und Herabwürdigungen unseres Staates. Wir können alles wieder rückgängig machen! Wir beobachten Sie genau. Denken Sie an Ihre Familie!«
Und sie standen tatsächlich am Bahnsteig. Er bemerkte eine Handvoll unauffällig auffälliger Männer, die nicht in die Züge stiegen, kein Gepäck hatten und sich für ihn und andere ausreisende junge Männer interessierten. Die Stasi hatte nichts verstanden. Er gab keine Abschiedsfeier. Es gab nichts zu feiern. Er verlor seine Familie und Freunde, um seine Freiheit zu gewinnen. Ein notwendiger, aber schmerzlicher Tausch. Er war dabei, seiner Vergangenheit den Rücken zu kehren. War das möglich? Drehte man sich einfach um und begann ein neues Leben? Wie sollte er sich seine Familie, seine Freunde, seine Erinnerungen aus dem Herzen reißen?
Und dann kam der Moment.
Er umarmte seine Mutter, seinen Vater, seine Schwester. Sie weinten. Kay griff nach seinem Koffer, Seesack und einem Bild. Seine wenigen Habseligkeiten. Er hatte alles auf einer Liste eingetragen und zur Genehmigung vorgelegt. Die Beamten hatten selbst die Anzahl der Socken und Unterhosen begrenzt.
Er stieg in den Zug. Er sah sich nicht um. Die Abteile waren mit Rentnern besetzt, und er fiel sofort durch sein Alter auf. Nur die Alten reisten nach Lübeck. Sie beäugten argwöhnisch sein Gepäck, und eine Dame rang sich zu der alles entscheidenden Frage durch. »Eine Dienstreise nach Lübeck?«
»Nein, ich reise nur hin. Nie wieder zurück«, antwortete Kay.
Schweigen breitete sich aus.
Kay atmete tief ein und aus und sah nicht mehr auf den Bahnsteig.
Nur nicht zurückblicken und es womöglich bereuen.
Am Grenzübergang Schlutup kam die Kontrolle. Ein Grenzsoldat baute sich neben Kay auf. Klar, er gehörte nicht hierher. Kein Wunder, dass schon der Blick tödlich ausfiel. Er griff ruppig nach Kays Ersatzidentifikationspapier und glich es mit einer Liste ab. Offensichtlich waren ihm solche Dokumente nicht unbekannt.
»Haben Sie noch Zahlungsmittel der Deutschen Demokratischen Republik?«, stieß der Grenzer hervor.
»Ja«, erwiderte er. »Ungefähr fünfzehn Mark.«
»Das dürfen Sie nicht ausführen!«
Kay wühlte in seiner Hosentasche und hielt dem Mann die Münzen hin.
Der schüttelte verärgert den Kopf. »Das nehme ich nicht an. Das ist Bestechung.«
Und nun? Wohin sollte Kay mit den Münzen? Er griff zum Müllfach unter dem ausklappbaren Tischchen, als der Grenzer ihn anschrie.
»Unterlassen Sie das! Sie erfüllen den Tatbestand der Herabwürdigung! Der Zug hat noch Aufenthalt. Kaufen Sie auf dem Bahnsteig noch Druck-Erzeugnisse der DDR .«
War das sein Ernst? Kay fragte besser nicht nach, sondern stand sofort auf, um den Zug zu verlassen und zum Kiosk zu rennen. Er wies auf verschiedene Zeitungen. »Die nehme ich.«
»Dreizehn Mark fünfundsechzig, bitte.«
Er legte der Verkäuferin die fünfzehn Mark auf den Teller. »Stimmt so.«
»Nein, das dürfen wir nicht annehmen«, sagte die Frau und zählte das Wechselgeld ab.
Scheiße. Kay griff die Zeitschriften und das Wechselgeld und eilte zu seinem Waggon zurück. Vor dem Einsteigen ließ er die Münzen unauffällig ins Gleisbett fallen.
Kurze Zeit später fuhr der Zug weiter Richtung Westen, und Kay saß schwitzend in seinem Sitz und klammerte sich an seinen Seesack. Noch einen Stopp hielt er nervlich nicht durch. Die Aufregung schlug in Erschöpfung um, und seine Gedanken wanderten zurück zu den letzten Tagen.
Juri hatte ihm viel bedeutet. Und in den ersten turbulenten Tagen nach der Enttarnung hatte er ihn sogar vermisst. Zwischen seiner Wut und seinem Hass waren auch Wehmut und Sehnsucht. Normalerweise hätte er die kritischen Ereignisse mit Juri besprochen. Doch dieser Freund war zu einem Verräter geworden. Sie würden sich nie wieder irgendetwas anvertrauen.
Er hatte sich nicht von Juri verabschiedet, als sein Ausreiseantrag genehmigt worden war und er auf dem Bahnsteig stand, um auf Nimmerwiedersehen in den Westen zu fahren. Er hatte seit der Nacht auf dem Boot nichts mehr von Juri gehört. Es hatte keine Aussprache gegeben. Wie hätte das Unfassbare auch in Worte gefasst werden sollen?
Es gab seltene Momente, in denen Kay sich wünschte, dass Juri seine Taten bereute und dafür gesorgt hatte, dass Kays Ausreiseantrag bewilligt wurde. Doch das war nicht möglich, da der Poststempel der Benachrichtigungskarte auf den Tag ihrer Bootsflucht fiel. Aber für einen Moment war dieser Gedanke tröstlich.
Eine Hand legte sich auf seinen Arm, und er schreckte aus seinen Tagträumen. Es war die ältere Dame von der Sitzgruppe gegenüber.
»Wir sind gleich in Lübeck! Sie haben es geschafft!«