58 . Kapitel

Rostock-Parkentin, Oktober 2016

W ann war der Augenblick verstrichen, an dem Kay hätte erkennen müssen, dass Juri nicht der Freund war, für den er ihn gehalten hatte? Der Moment, an dem er Fragen hätte stellen müssen? Er hatte nichts gemerkt, weil er keinen Verdacht hatte. Erst in der Rückschau fiel ihm auf, dass er hin und wieder ein seltsames Gefühl gehabt hatte. Warum besaß Juri materielle Dinge stets als Erster? Selbst den Studienplatz und eine Wohnung. Statt Juri zu fragen, hatte er jede seiner Erklärungen geglaubt. Weil nicht sein konnte, was nicht sein durfte?

Und nun stand Juri Jahre später wieder vor ihm. Kam einfach an seinen Tisch geschlendert, stellte sein Bier ab und sah ihn an. Was dachte er sich nur dabei? Dass sie ihm alles verziehen? War das jemals möglich?

Hätte Kay ihn in der Nacht ihres Fluchtversuchs doch nur ertrinken lassen, dann wäre ihm diese Begegnung, dieser Schmerz erspart geblieben.

Er sah auf. Juri hatte sich verändert. Grau sah er aus, verlebt. Wenigstens schien es ihm nicht gut zu gehen. Über ihnen war der Himmel schwarz. Keine Sterne. Vielleicht war dem Himmel klar, was er zu tun hatte. Heute war Kay in Trauer, heute brauchte er des Himmels Schwärze, Wut und Zorn. Der Wind frischte auf, und es dauerte sicher nur noch wenige Minuten, bis es endlich regnete.

So war es in der Nacht auf der Barkasse Kranich gewesen. Manchmal blitzten noch heute die Erinnerungen an den Moment auf, als seine Ahnung zu einer hässlichen Gewissheit umschlug. Als er seine Freundschaft zu Juri neu definierte. Als etwas in ihm zerbrach, was bis heute nicht geheilt war. Die Dunkelheit, die sich damals lindernd über ihren schweigenden Nachhauseweg gelegt hatte. Die Dunkelheit, die noch heute bisweilen bedrohlich wirkte.

»Was willst du hier?«, fragte er und ließ keinen Zweifel daran, dass ihn die Antwort nicht wirklich interessierte.

Juri antwortete nicht sofort. »Sie war auch meine Freundin!«, sagte er schließlich.

Kay sah auf. »Aber du warst nicht ihr Freund. Verschwinde, sonst ersäuf ich dich doch noch.«

Juri zögerte. Setzte zum Sprechen an. Dann drehte er sich um und ging.

Warum war dieser Mann zum Verräter geworden? Dieser arme Wicht mit inzwischen lichten Haaren? Welchen Grund hatte es gegeben, ihre langjährige Freundschaft derart zu verraten? Sie waren doch Kumpel gewesen. Brüder. Jahrzehntelang. Sie hatten alle ihre Abenteuer zusammen erlebt. Aber Juri hatte alles brühwarm an die Stasi übermittelt. Er war für den Verlust von Kays Seefahrtsbuch verantwortlich. Warum? Weil ihm nicht passte, dass Kay und die anderen dem Staat den Rücken kehren wollten? Aus sozialistischer Überzeugung? Aus Geldgier? Aus Geltungssucht? Oder versuchte er, dem Druck seines Führungsoffiziers zu entkommen? Er war weder mit seiner Ehe noch mit seinem Studium zufrieden. Mit einer geglückten Flucht wäre er endlich alle los gewesen und hätte von vorn anfangen können. Vielleicht hatte er sogar bei der Flucht am Anfang gar nicht vor, Kay und den Prof zu verraten. Er hatte ja verschiedene Möglichkeiten ausgelassen. Vielleicht wollte er ernsthaft mit ihnen flüchten. Und dann hatte ihn der Mumm verlassen? Das wäre die gute Variante.

Die schlechte hieß wohl eher, dass sein Führungsoffizier darauf bestanden hatte, dass Juri mitmachte, damit sie die beiden in flagranti erwischten und verhaften konnten. Warum war es dazu nicht gekommen? Weil sie rechtzeitig umgedreht hatten? Nein, die Stasi hätte ihnen ohne Probleme nachgewiesen, dass es keinen Auftrag gab, zur Reede zu fahren. Offensichtlich hatte Juri also seinen Führungsoffizier nicht informiert. Wollte er doch mit ihm die Flucht versuchen und hatte nur Angst bekommen? Dass Juri sich schon immer wie ein Fähnchen im Wind gedreht hatte, wussten sie. Er ging jedem Konflikt aus dem Weg, aber dass er seine Freunde verraten hatte, überstieg ihre Fantasie.

Kay hatte alles verloren in dieser Nacht auf dem Schiff.

* * *

Sein Leben änderte sich radikal, als er im Westen ankam. Er bemühte sich, sich anzupassen, nicht aufzufallen. Er gewöhnte sich nur langsam an die schönen Autos und prachtvollen Häuser. An die Supermärkte voller Köstlichkeiten. Innerlich war er wie erstarrt. Er vermisste die Seefahrt, seine Freunde und die Familie. Er trauerte bekannten und vertrauten Orten hinterher. Nie würde er den Geschmack von Rumkugeln oder den Gestank der Abgase des Honsa vergessen, ohne sich in die DDR zurückzusehnen.

Er hasste das politische System dort. Doch der Osten war seine Heimat, und hier lagen seine Wurzeln. Es war nicht alles schlecht, was ihm widerfahren war. Der DDR -Kaffee schmeckte fürchterlich, sicher, aber es war auch Koffein drin! Es wäre zu einfach, alles zu hassen. So wie es zu einfach war, den Verräter nur zu hassen. Aber das würde er ihm nie erklären können.

Ihm gefiel der Blick zurück in die Kindheit und an den Strand von Warnemünde, die Ostsee. Er liebte die Erinnerung an die indische Reisegruppe und ihre gemeinsamen Aktivitäten und durchgestandenen Jahre. Von der ersten Klasse bis zur Ausreise.

Er erinnerte sich an einen Besuch im DDR -Museum und an die Kinder, die feixend vor dem Trabi standen und sich ausschütteten vor Lachen über dieses lausige Gefährt. Er hingegen hatte sich zehn Jahre lang danach gesehnt. Und die Karte, dass der Wagen endlich geliefert werden konnte, kam wenige Tage vor seiner Ausreise. Zu spät.

Manches hatte er vergessen. Vieles war nicht wiederzuerkennen. Das Leben war weitergegangen. Und doch schadete es nicht, auch einen Blick zurückzuwerfen. Alle Erinnerungen lebendig zu halten, um die Gegenwart und Zukunft zu gestalten.

Damals hatte er vor allem damit gehadert, dass er auch im Westen nicht zur See fahren durfte. Seine berufliche Ausbildung reichte nicht. Seine Patente, seine Fortbildungen … Alles zweifelten sie an. Er war gekränkt. Aber er ruhte sich nicht aus, er krempelte die Ärmel hoch und qualifizierte sich weiter, heuerte schließlich bei der Hamburg-Süd-Reederei an und schob einen maschinentechnischen Lehrgang hinterher. Die Ausbildung fand seit September 1989 auf See statt und wurde vom Arbeitsamt bezahlt. Endlich war Kay wieder in seinem Element.

Und noch etwas begleitete ihn für lange Zeit. Er träumte von der Nacht auf der Barkasse. Manchmal schafften sie es bis nach Gedser, manchmal nicht. Am schlimmsten waren die Nächte, in denen die Stasi ihn von Bord holte. Er brauchte keinen Psychologen, um sich darüber klar zu sein, dass er mit der Stasi – oder sollte er besser sagen: mit dem Stasi-Spitzel Juri – noch nicht fertig war.

Damals im Lindeneck hatte er geschworen, dass sie ewig Freunde bleiben würden. Er hatte es aus tiefstem Herzen so gemeint. Nie hätte er von sich gedacht, dass er diesen Schwur brechen könnte. Und doch konnte er Juri nicht vergeben. Obwohl er es versucht hatte.

Es waren zu viele Fragen offengeblieben, auf die er nie Antworten bekommen hatte. Und selbst die Rätsel, die sich lösen ließen, waren nicht durch Juri gelöst worden, sondern durch den Einblick in die Stasi-Akten.

Hatte er Juri denn gar nichts bedeutet? Hatte Kay all die Jahre eine Freundschaft und Wärme gespürt, die es gar nicht gab? Warum hatte Juri ihn verraten? Wofür? Für ein paar lausige DDR -Mark? Um sich ein neues Mofa oder ein Sofa zu kaufen? Bei ihrem einzigen Wiedersehen im Dezember 1989 hatte Juri alles verneint, keine Erklärungen abgegeben und nur mit den Schultern gezuckt. Das reichte Kay nicht, und selbst als er ihn fragte, wann Juri aufgehört habe, sein Freund zu sein, hatte dieser noch inbrünstig geantwortet: »Nie!«

Deshalb fragte er nicht mehr.

Denn die Antworten waren Lügen. Nichts als Lügen.

* * *

Es regnete endlich. Kay war müde und zerschlagen, aufgewühlt und erschöpft. Aber mit dem ersten Donnern eines sich ankündigenden Gewitters brach plötzlich etwas in ihm zusammen. Tief aus dem Bauch löste sich ein Schluchzen. Die Wucht erschreckte ihn, und er sah sich um, ob er tatsächlich diesen Laut von sich gegeben hatte. War es das, was hervorbrach, wenn Juris Verrat wieder schmerzte? Oder die brutale Verzweiflung darüber, sie verloren zu haben?

Die Traurigkeit drang durch alle Poren und endlich auch aus den Augen. Tränen rannen über seine Wangen, und er hob nicht einmal die Hand, um sie wegzuwischen.

Er stand schwankend auf, torkelte über den Rasen. Weg hier.

Plötzlich umklammerten ihn zwei Arme.

Warm und stark.

Der Prof, der ihn hielt.

Sie lagen sich in den Armen und ließen ihren Tränen freien Lauf.

Es tat gut, seine Trauer auszudrücken und den Trost der Verbundenheit zu spüren. Sein treuer Freund. Der Prof. Nach all den Jahren der Einzige, bei dem er sich vollkommen fallen lassen konnte.

»Ich vermisse sie«, schluchzte der Prof.

Freundschaft hieß, dem anderen beim Weinen zu helfen.