Vor der brasilianischen Küste, November 1989
D er Wind zerrte an seinem Hemd. Kay stand an der Reling und hielt den Kopf in die Sonne. Südamerika. Sie würden noch ungefähr zwei Stunden bis Salvador de Bahia brauchen.
Diesmal hatten sie Chemikalien und Maschinenteile geladen und nahmen Früchte und Fleisch mit auf den Rückweg. Eine neue Traumstadt in einem Traumland. Er lächelte vor sich hin, als ein Kollege zu ihm trat.
»Du bist doch ein Ossi? Hast du schon gehört? Die Grenze ist auf. Du darfst wieder rüber.«
Kay lachte. »Ja, klar, träum weiter.«
»Ehrlich. Der Käpt’n hat’s über Funk gehört. Wir besorgen uns in Salvador eine Zeitung. Wäre gut für dich, oder?«
Kay sah ihn an. Er verarschte ihn doch, oder? »Die Grenze zwischen BRD und DDR ist offen?«
Eifriges Nicken.
Er glaubte ihm kein Wort.
In Salvador waren die aktuellsten Zeitungen eine Woche alt. Egal. Es stimmte ohnehin nicht. Offene Grenzen? Die DDR verschwand nicht einfach im Orbit. So etwas war unmöglich! Ein Land gab sich nicht selbst auf und wurde ein anderes. Und doch hielt sich das Gerücht hartnäckig, und Kays Gedanken kreisten um diese absurde Möglichkeit. In den letzten Monaten war viel passiert, aber war das Undenkbare denkbar?
Anfang Dezember trafen sie endlich wieder in Hamburg ein. Es war erste Mal in seinem Leben, dass er sich auf das Ende einer Seereise freute. In Hamburg käme er endlich an aktuelle Informationen. Er wollte so schnell wie möglich an einen Zeitungsstand, ein Radio oder einen Fernseher kommen. Zur Not würde er irgendwelche Menschen auf der Straße ansprechen, denn der Floh, den der Kollege ihm ins Ohr gesetzt hatte, ließ sich nicht vertreiben.
Die Gewissheit traf ihn wie ein Schlag.
An der Pier standen seine Eltern! Klein sahen sie aus und verloren, aber sie winkten ihm und lächelten. Wie waren sie nach Hamburg gekommen? Sie waren noch keine Rentner und hätten nicht ausreisen dürfen, wenn nicht … wenn nicht an den Gerüchten über den Fall der Mauer etwas dran gewesen wäre.
Kurze Zeit später lagen sie sich weinend in den Armen. Kay beruhige sich lange nicht. Die Mauer war gefallen? Wie erfasste man die Tragweite dieser Nachricht? Seine Eltern schlugen vor, ihn sofort mit nach Rostock zu nehmen. Seine Schwester erwarte ihn sehnsüchtig. Aber das schaffte er nicht. Zu unvorstellbar, dass das Leben sich so verändert haben sollte. Er traute dem Frieden der DDR nicht und fühlte sich nicht in der Lage, aufzubrechen. Was, wenn sie ihn in der DDR verhafteten? Er war auf seltsame Weise verstört und befreit zugleich. Er brauchte Zeit, um zu verstehen, was passiert war, und um sicher zu sein, dass dieser neue Frieden Bestand hatte. Nur die Zeit konnte sein Vertrauen in die Öffnung des Ostens stärken.
Er freute sich unbändig über den Fall der Mauer und hatte gleichzeitig das Gefühl, dass mit der DDR seine Heimat und seine Kindheit starben. So wie ein Elternhaus, in das man nie wieder zurückkehrt, das einen aber doch zu dem geformt hat, was man war.
Seine Eltern redeten drei Tage auf ihn ein. Und vielleicht war es auch der Gedanke daran, den Prof und Mina, Peggy und Arne wiederzusehen, der ihn mit mulmigem Bauch in den alten Skoda seines Vaters trieb.
»Ich als Wessi bei euch im Ost-Auto. Das gibt Riesenärger, wartet es nur ab!«
»Nee, Junge, ist alles in Ordnung«, antwortete sein Vater.
Dass die Welt sich verändert hatte, bemerkte er, als sein Vater nicht Richtung Lübeck-Schlutup fuhr. »Wo fährst du hin? Hier kommt kein Grenzübergang.«
»Wir fahren Richtung Ratzeburg, es gibt einen neuen Übergang in Mustin. Sie haben den Zaun aufgeschnitten. Da fährt man jetzt durch.«
Seine Mutter lächelte wissend und nickte. »Es ist eine neue Welt.«
So neu, dass die DDR einen Zaun aufschnitt, ja wohl nicht.
Kay staunte umso mehr, als sein Vater in Mustin durch den auf breiter Front zerteilten Zaun fuhr. Vor einem provisorischen Container standen zwei Grenzsoldaten, die ihr Auto mit Handzeichen anhielten.
Wusste er es doch. Jetzt würde es Ärger geben. Er stöhnte auf. Hätte er sich nur nicht überreden lassen. Seine Eltern hatten sich geirrt, und er würde den Preis dafür zahlen.
Die Grenzsoldaten nahmen erst die Pässe der Eltern in die Hand und anschließend seinen Pass. Der Soldat warf einen Blick in den Wagen, sah ihn an. Warf einen langen Blick in seinen westdeutschen Pass und stempelte ihn dann kommentarlos ab.
Kay war fassungslos. Sie fuhren einfach nach Hause.
Seltsame Zeiten.
Glückshelle Zeiten.