Hamburg, Dezember 1989
K ay war froh, dass sein Schiff zur Weihnachtszeit nicht auslief. Er hatte freie Tage und konnte so das erste Weihnachtsfest der Clique in Freiheit genießen. Die komplette indische Reisegruppe war sofort nach dem Fall der Mauer nach Hamburg übergesiedelt. Innerhalb weniger Wochen hatte sich ihrer aller Leben verändert, ohne dass sie die Auswirkungen schon überblickten.
Der Prof und Mina waren Anfang Dezember in Hamburg eingetroffen. Sie setzten noch einen obendrauf und planten ihre Hochzeit. Kay freute sich für die beiden. Sie gehörten zusammen, das hatte er kapiert. Die Zwillinge, Arne, Peggy, Murmel und Hannes. Alle lebten in Hamburg und feierten ihr Wiedersehen. Nur Oliver hatte noch bis vor Kurzem im Gefängnis in Schwedt gesessen. Seine Haftzeit überdauerte den Mauerfall.
Tatsächlich hatte er die Umwälzungen kaum mitbekommen. Erst als es Unruhe unter den Häftlingen gab und die Wärter von einem Tag auf den anderen keine Uniformen mehr trugen, ahnte er, dass mehr an den Gerüchten dran war. Die Ratten verließen das sinkende Schiff, doch niemand ließ die Häftlinge frei. Erst kurz vor Weihnachten öffneten sich die Gefängnistüren für Oliver. Kein Wunder, dass er geschockt war, als ihm dämmerte, dass nicht nur die Wärter die Biege gemacht, sondern auch die indische Reisegruppe Rostock verlassen hatte.
Peggy holte Oliver nach Hamburg. Er wohnte bei ihr, Arne und Murmel.
Peggy hatte die Zimmer geschmückt, es gab einen Christbaum voller roter Kugeln, der das halbe Wohnzimmer füllte, es roch nach Zimtsternen und Weihnachtspunsch, und jeder hatte etwas zum Büfett beigetragen. Selbst Hannes hatte sich nicht lumpen lassen und eine Kiste guten Rotwein beigesteuert. Er stellte gerade seine Flaschen auf den langen Klapptisch, der, festlich geschmückt, als Büfett diente. Der Zugang zu Schlemmereien war eine ungewohnte Verbesserung ihrer Lebensqualität. Kay ließ seine Blicke über die Köstlichkeiten schweifen. Die Frauen hatten Salat mit Lachs gezaubert. Peggy hatte Hähnchen im Ofen gebacken. Es gab eine Käseplatte, Spargelröllchen, leckeres Brot und Weihnachtsplätzchen. Es hätte himmlisch werden können, wenn Kay nicht aus den Augenwinkeln gesehen hätte, dass Juri mit einer unbekannten Frau das Wohnzimmer betrat. Der Prof stieß ihn mit dem Ellenbogen in die Seite.
»Was will der denn hier?«, raunte der Prof.
Kay runzelte die Stirn. Das war eine gute Frage. Er hatte nichts mehr von Juri gehört. Nur dass er und Romy in Scheidung lebten, hatte er mitbekommen. Eigentlich hatte Peggy angesagt, dass die indische Reisegruppe im intimsten Kreis feierte. Tja, Juri gehörte wohl noch dazu, auch wenn es Kay im Magen brannte, den Verräter hier zu sehen.
»Das ist Schatzi«, rief Juri in den Raum, umfasste die Hüfte der Frau mit der einen Hand und händigte Peggy mit der anderen mehrere Chipstüten aus. »Heißt sie willkommen!«
Es entstand eine peinliche Stille. Alle starrten erstaunt und irritiert sowohl auf die Chipstüten als auch auf die fremde Frau, die in die Runde strahlte und offensichtlich nicht bemerkte, dass dies keine normale Begrüßung war.
Peggy fasste sich als Erste. »Hallo, Schatzi, willkommen in meinem Heim. Ich hoffe, du hast noch einen richtigen Namen?«
»Ich freu mich so, dass ich mitfeiern darf. Ich kenn euch total gut, so viel hat Juri über euch erzählt«, antwortete sie in breitem sächsischen Dialekt. »Ich bin de Nigoll!«
Sie lachte mit weit aufgerissenem Mund, und Kay fragte sich, was so witzig gewesen war.
»Schatzi, du bist nicht mehr lange Nicole.« Juri kniff sie in die Seite. »Peggy wird dir noch heute Abend einen neuen Namen verpassen.«
»Worum denn das?«
Juri zuckte mit den Schultern. »Unser Aufnahmeritual in die Gruppe. Und natürlich gehörst du dazu.«
Kay staunte. Nicole gehörte dazu? Seit wann entschied Juri das? Hatte er denn gar nichts begriffen, machte gleich wieder einen auf dicke Hose? Er bestimmte hier, verdammt noch mal, gar nichts mehr.
Nicole wandte sich Murmel zu, der plötzlich neben ihr stand und fragend zu ihr aufschaute. Kay ahnte, dass der fast Sechsjährige von ihrem sächsischen Dialekt irritiert, vielleicht auch fasziniert war. Er sah sie mit kindlichem Ernst an.
»Jo, und wer bist du?«
»Das ist Murmel«, stellte Juri den Jungen vor. »Hey, Kumpel, bist ganz schön groß geworden.« Er hielt ihm die Hand zum Abklatschen hin.
Murmel starrte weiter und ignorierte die Hand.
»Worum heißt der Junge denn Murmel? Das ist ja ein komischer Name.«
An Peggys Mimik las Kay problemlos ab, dass sie genervt war. Dass Juri eine fremde Frau zur Weihnachtsfeier mitbrachte, war eine Sache. Ihre Familie zu kritisieren, eine andere. Peggy ging auf die Barrikaden.
»Murmel ist aus mir rausgekullert, Schatzi.«
Damit wandte sie sich ab und griff sich ein Glas, welches sie Schatzi in die Hand drückte.
Spürten die anderen auch, dass sowohl Juri als auch die sächsische Naturgewalt hier fehl am Platz waren? Kay war sich nicht sicher. Ein Blick in die Runde bestätigte ihm nur, dass die Zwillinge sich an ihren alkoholischen Getränken festhielten, die Frauen begehrliche Blicke zum Büfett warfen und der Prof vor sich hin brütete. Dem Prof ging es also genauso wie ihm. Wie sollte er auf Juri reagieren? Er konnte ihm nicht einfach die Hand reichen, das ging nicht. Der Mauerfall hatte alles verändert. Alles.
Nur Arne betrachtete die Szenerie amüsiert und saß so entspannt auf dem Sofa, als warte er auf den Showdown zwischen den Frauen. Kay griff sich ein Glas und öffnete eine Flasche Roten. Er wollte keine Minute länger nüchtern bleiben.
Juri tönte weiter und stellte sein Schatzi jedem einzeln vor. Das war nun wirklich uncool. Entsprechend unmotiviert gaben die Jungs Nicole die Hand.
»Es ist so gut, die Truppe im Westen vereint zu sehen«, grölte Juri und klopfte Hannes so derb auf die Schulter, dass sein Bierglas überschwappte. »Ich bin nur froh, dass wir es alle geschafft haben.«
Sie waren doch nicht schwerhörig.
Juri drehte sich um seine eigene Achse und fand ein neues Opfer. Er klemmte Oliver lachend in den Schwitzkasten.
»Na, alte Socke, haben sie dich doch noch rausgelassen. Bleibst du in Hamburg?«
Oliver hatte Mühe, sich freizukämpfen. »Ey, was soll das?«, stöhnte er.
Juri ließ ihn los. »Mach das mal, wir sind doch alle hier.«
»Ich weiß noch nicht. Ich bin nicht sicher, ob …«
Juri unterbrach ihn. »Wir werden hier gebraucht, du brauchst nicht ängstlich sein, die Wessis kochen auch nur mit Wasser. Ich hab sofort einen Job gefunden. Wir setzen uns hier locker durch, wirst sehen. Wir haben Eigenschaften, die uns zu Siegern machen. Ich habe ein paar Beziehungen, ich kann ein gutes Wort für dich einlegen.«
»Ja, mit Beziehungen warst du schon immer gut, und wenn es die zur Stasi waren, nicht?«, warf der Prof unverhofft in ätzendem Ton dazwischen.
Alle blickten erstaunt auf. Der Prof so aggressiv? Er war Kay nur zuvorgekommen. Juri hatte kein Recht mehr, zur Gruppe zu gehören. Er hatte sie alle verraten, und ihr Schweigegelübde galt nicht mehr. Im Gegenteil, Juri sollte endlich die Karten auf den Tisch legen.
Juri zögerte. »Ist ja schon gut. Ich mein ja nur, ich besorge ihm gerne einen Job.«
»Ach, Oliver willst du helfen? Uns hast du nur geschadet!« Kay hielt nicht länger mit seiner Wut hinter dem Berg. Er stellte sich ganz dicht neben den Prof. »Na, erzähl es den anderen doch mal«, forderte Kay ihn auf. »Wie du zu uns stehst.«
Juri erblasste, und Peggy ging dazwischen. Sie schlug mit einem Löffel gegen ihr Glas und stand auf. Sie lachte in die Runde. Hypnotisierte jeden Einzelnen mit ihrem liebevollen Blick.
»Eine Rede!«, schrie Ricksen.
»Ihr Lieben. Es ist verdammt viel passiert in den letzten Wochen. Unglaubliches ist geschehen, und wir alle haben die Veränderungen, die die Grenzöffnung mit sich bringt, noch gar nicht begriffen. Das macht nichts. Wir brauchen sicher noch eine Weile, bis wir das alles kapieren.«
»Wie wahr!«, rief Ricksen, und alle hoben ihre Gläser, tranken einen Schluck. Juri und Nicole teilten sich den letzten freien Sessel.
»Wir haben viel durchgemacht. Einige von uns waren im Gefängnis und haben bittere Jahre hinter sich. Jeder hat seinen Preis gezahlt! Aber, ihr Lieben, ich bin so wahnsinnig stolz auf euch, denn ihr habt euch nicht verbogen, habt durchgehalten, und seht nur, wie weit wir gekommen sind. Vergesst nie, wo wir herkommen, und haltet zusammen, dort, wo wir jetzt hingehen!«
Wieder hoben sie die Gläser. Und Kay sah zum ersten Mal, dass die Zeit auch an Peggy nicht spurlos vorbeigegangen war. Aber, dachte er, die Fältchen hat sie sich hart erarbeitet, dachte er. Sie hatte Murmel nahezu ohne Arne durchgebracht, ihren Vater bis ins Grab gepflegt, nebenbei gearbeitet und versucht, in der sozialistischen Parteidiktatur mit einem Rebellen als Mann zu überleben. Kein leichtes Unterfangen.
»Unsere Freundschaft ist etwas Besonderes«, fuhr Peggy fort. »Wir halten jetzt mehr denn je zusammen, damit jeder von uns einen Neuanfang hinbekommt. Wir brauchen uns gegenseitig, damit jeder seine Erfüllung findet.«
»Klaro!«, rief Arne und grinste.
Er hatte Kay schon vor ein paar Tagen erzählt, dass er und Peggy wieder Nachwuchs erwarteten.
»In unserem Heim seid ihr immer willkommen! Denn mit guten Freunden ist man nie einsam!«
Peggy sprach aus, was sie alle im Herzen fühlten. Nur dass Kay Juri aus diesem Kreis ausnahm. Juri gehörte nicht dazu.
»Ewige Freundschaft, egal, was passiert«, schrie Juri und schubste sein Schatzi fast aus dem Sessel. »Wie wir uns im Lindeneck geschworen haben. Bis dass der Tod uns scheidet.«
Die Zwillinge hoben ihre Gläser, doch Kay ging dazwischen. »Mir reicht es. Du quatschst nicht mehr von ewiger Freundschaft. Du nicht!« Er funkelte Juri zornig an, der sich erschrocken in den Sessel zurückfallen ließ.
»Ho, ho, langsam, wovon redest du?«, fragte Hannes. »Was, verdammt noch mal, ist hier los?«
»Er hätte nicht kommen dürfen«, antwortete Kay. »Er hat nicht mal den Anstand, wegzubleiben.«
»Hey, entspann dich, es ist Weihnachten«, presste Juri hervor.
»Tu nicht so, als ob nichts gewesen wäre! Wann hast du aufgehört, unser Freund zu sein?«
»Nie, verdammt! Außerdem hatten wir eine Abmachung!«, krähte Juri.
Kay fiel jetzt auf, warum Juri so keifte. Er war stramm. Und nervös.
»Das bedeutet nicht, dass du Ansprüche stellen kannst. Du hättest einfach wegbleiben sollen. Schämst du dich nicht? Für dich gibt es hier keine Freundschaft mehr zu holen.«
»Unsere Abmachung gilt doch nicht im Westen, du Verräter«, schrie nun auch der Prof.
»Ich versteh kein Wort«, raunte Ricksen und sah Peggy Hilfe suchend an.
Die intervenierte. »Spinnt ihr? Warum giftet ihr euch so an?«
»Ich habe meinen Treueschwur gebrochen«, sagte Kay laut und deutlich. »Wir hatten uns ewige Freundschaft geschworen, und ich habe an euch gezweifelt.« Er drehte sich einmal in der Runde und suchte den Blickkontakt seiner Freunde. »Ich wusste, jemand hat dafür gesorgt, dass ich mein Seefahrtsbuch verliere. Sascha hat es mir bestätigt. Der Eisbär riecht nach Suppe, erinnert ihr euch?«
Offensichtlich hatten sie keinen Schimmer, wovon er sprach, aber sie verstanden, dass sie ihn nicht unterbrechen durften. Oder es hatte ihnen die Sprache verschlagen.
»Ich habe es viel zu lange nicht wahrhaben wollen. Aber wir hatten einen Spitzel unter uns. Einen, der alle unsere Worte, Gedanken und Fantasien brühwarm an die Stasi weitergetragen hat.« Kay zeigte auf Juri.
Stille.
»Bausch das nicht so auf«, Juri stieß Nicole unsanft aus dem Sessel. »Ich habe dir schon mal gesagt, ich habe nie jemandem geschadet. Und außerdem … ich stand auch unter Druck«, stotterte er.
»Du hast unsere Freundschaft in den Dreck getreten«, ergänzte der Prof. »Du klebst wie Hundekacke unter unseren Schuhen.«
»Ich habe nur ein paar harmlose Fragen über Arne beantwortet. Der gehörte doch sowieso nicht richtig zur indischen Reisegruppe. Das hatte mit deinem blöden Seefahrtsbuch nichts zu tun.«
»Was?« Arne sprang auf. Und Peggy stellte ihr Glas ab. Sie blieb gefährlich gelassen.
»Woher wolltest du denn wissen, was deine Führungsoffiziere mit den Informationen gemacht haben?«, fragte der Prof provozierend ruhig.
»Er hat … hat … nee!« Ricksen verhaspelte sich vor lauter Entsetzen.
»Du hast unsere intimsten Gedanken verraten! Jahrelang!«
»Hör auf, so hysterisch zu sein«, schrie Juri Kay an. »Die indische Reisegruppe ist mir wichtig. Das weißt du.«
Kay wies auf Arne. »Er hat im Knast gesessen, die Zwillinge auch!« Kay raunte mehr, als dass er klar sprach. »Mir hast du den Lebenstraum zerstört. Du hast niemandem geschadet? Sag endlich, warum du das getan hast!«
Ein Glas zerbrach, und Kay wirbelte herum. Nicole stand blass am Büfett und starrte Juri an. Ihr Glas war in ihrer Hand zersplittert.
Lähmende Stille breitete sich aus.
Dann stürzte sich Arne auf Juri.