James

»Wo sind wir hier?«, fragte James und sah auf die seltsame Szenerie unter ihnen herab. Stuart und er standen auf dem Dach eines Hochhauses und blickten auf eine leuchtende Marina bei Nacht hinab. Auf der anderen Uferseite ragten verschieden große Hochhäuser empor, und vereinzelte Grüppchen flanierten an den bunt erhellten Bars vorbei, die sich dicht an dicht entlang der Wasserlinie drängten. Jeden der Menschen dort unten hätte er mit einer Stecknadel verdecken können, so hoch standen sie über allem, was sich dort abspielte. James drehte sich einmal um die eigene Achse und sah zu der langen Bar hinüber, an der einige gutbetuchte Gäste Cocktails schlürften und der dezenten Loungemusik lauschten.

»Wir sind in Singapur«, antwortete Stuart, dessen Haar von dem angenehmen Wind, der die schwüle Hitze etwas erträglicher machte, zerzaust wurde. »Genauer gesagt auf dem Dach des Marina Bay Sands Hotels. Das war vor vielen Jahrzehnten einmal die angesagteste Adresse der Stadt. Und danach eine Zeitlang ein beliebtes Ziel für Touristen, die auf der Suche nach etwas Besonderem waren.«

»Eine Zeitlang? Also gibt es das Hotel gar nicht mehr?«

»Oh, doch, doch. Ich denke schon. Singapur ist ziemlich reich und hat die Umwälzungen durch den Klimawandel und die technologische Disruption gut überstanden.« Stuart schüttelte den Kopf. »Auch wenn es sich hierbei um eine virtuelle Realität handelt, ist sie doch überaus akkurat.«

»Das ist ein sogenannter Anker«, erklärte der Supervisor. »Ich kann deinen nicht sehen, ebenso wenig wie du meinen. Sie wurden in frühen SimSense-VR verwendet, um einen Realitätsverlust der Anwender zu verhindern. Nachdem alle Sinneseindrücke annähernd realistisch dargestellt werden konnten, drehten nicht wenige Nutzer bei kompletter Immersion durch. Sie wurden wahnsinnig, litten unter Persönlichkeitsabstraktionen, Depersonalisation und der sogenannten VR-Depression. Die alternative Realität schien die menschliche Psyche auf eine harte Probe zu stellen, also entschied man sich dafür, die Zeit zu begrenzen, die Nutzer in den SimSense-Umgebungen verbrachten, und man setzte einen Anker, der die Anwender ständig an die Realität erinnerte. Der grüne Punkt sagt dir, dass etwas nicht stimmt und all das hier nicht echt ist.«

»Ist es das wirklich nicht? Echt, meine ich?«

Stuart schmunzelte und schien zufrieden. »Eine gute Frage. Alles, was du hier siehst, wird von einem Giga-Qubit-Prozessor berechnet, einem Quantencomputer der vorletzten Generation. Äußerst leistungsfähig, aber veraltet. Genau wie die Simulation. Zur Berechnung dieser Stadt wurden sämtliche Daten ihrer Bewohner über einen Zeitraum von achtundvierzig Stunden ausgewertet und extrapoliert. Die Folge ist, dass sich die Simulationsergebnisse und das, was tatsächlich in der Realität geschah, erstaunlich ähnlich sind.«

»Es ist also nahezu echt?«, fragte James.

»So echt, wie es der technische Standard der Zeit zuließ. Das Deepnet war noch nicht so dicht wie heute, und kurz nach Luises Verschwinden kam bereits die neue VR-Generation auf den

»Was ist Heuristik?«

»Das griechische Wort εὑρίσκω oder heurískō bedeutet im Prinzip, mit einem begrenzten Erfahrungs- oder Wissenspool zu einer Problemlösung zu gelangen – und zwar in kürzest möglicher Zeit. Die Entwicklung der VR krankte lange Zeit daran, dass die Interaktion des Individuums mit der Umgebung zu erratisch war, um sie vorherzusagen und entsprechend wiederum die Umgebung anpassen zu können. Bei einem Nutzer ist das aufgrund der enormen Rechenleistung noch durchführbar, aber sobald mehrere Nutzer in derselben VR-Simulation unterwegs sind, muss die Heuristik der sie erschaffenden KI hervorragend sein. Sie muss in Echtzeit auf neue Veränderungen reagieren und gleichzeitig sämtliche Gesetzmäßigkeiten bewahren. Jeder Antinomismus ist eine Gefahr für die strukturelle Integrität einer VR. Diese unzähligen parallelen Berechnungen führten in den Anfangsstadien noch zu Glitches, vereinzelten Aussetzern, die die Nutzer gestört haben. Später wurden die Systeme komplett überarbeitet und zwar mittels direktem Neuralfeedback.« Stuart war jetzt offenbar ganz in seinem Element und sprach immer schneller und begeisterter, so dass es James immer schwerer fiel, ihm zu folgen.

»Moment, das geht mir zu schnell. Was bedeutet das?«

»Ich habe eine prozedurale VR entwickelt, die sich aus dem Gehirn ihrer Nutzer selbst generiert. Statt eines zentralen KI-Kerns, der alles steuert, werden die Nutzer zu einer Art VR-Schwarm vernetzt, so dass es kein zentralistisches Kontrollorgan gibt, sondern komplette und konstante Freiheit. Die Anwender stellen ihre immer weiter steigende kognitive Rechenleistung zur Verfügung und sind durch direkte Hirninterfaces mit allen Sinnen und in jeder Hinsicht real in der kollektiv erschaffenen

»Das heißt, dass es heute perfekte VR-Simulationen gibt, die von der Realität nicht zu unterscheiden sind, und dass Ihre Tochter die Grundlage für jede dieser Simulationen bildet?«

»Ihre Persönlichkeit und damit ihre Werte und Eigenschaften, ja«, bestätigte Stuart. »Blue Space und ich, wir sind dank meiner Tochter reich geworden, ihre Persönlichkeit ist die Grundlage von Orten und Welten, in die heute Tausende emigrieren, weil sie ihnen lieber sind als die Realität. Es war illegal, das Bewusstsein oder die Erinnerungen eines Menschen als Datensatz einer KI in den Basiscode einzuflechten, aber für Tote galt dieses Verbot nicht, weil niemand je eine Persönlichkeitsrekonstruktion angefertigt hatte. Mit meinem Datensatz tat ich genau das und verpasste dem Basiskonstrukt meiner VR-Welten eine menschliche Note. Du kannst es dir wie einen Hybrid aus Code, KI und Mensch vorstellen, der den Funken dessen enthält, was uns als Spezies ausmacht. Erst damit konnten wir zu einhundert Prozent glaubhafte und kaum von der Realität zu unterscheidende Welten formen. Dank Luise. Sie ist überall dort draußen und nirgends zugleich.«

»Und was tun wir hier, wenn sie tot ist?« James hatte das ungute Gefühl, dass der Supervisor ihn bereits vor vielen Sätzen abgehängt hatte, als würde er einem Sprinter hinterherhecheln, der um ein Vielfaches schneller war.

»Sie ist verschwunden und gilt deshalb als tot. Nach einem Jahr hat man die Suche nach ihr eingestellt, egal mit wie viel Geld ich um mich geworfen habe. Allerdings hat die Polizei ihre Suche auf unsere Welt begrenzt. Heute glaube ich, dass das ein Fehler war. Ich weiß, dass ihr Geist, ihre Erinnerungen, irgendwo hier

»Und dort ist sie dann verschollen?«

»Ja«, hauchte Stuart, und seine Nasenlöcher blähten sich dabei vibrierend auf.

»Entschuldigen Sie, wenn das jetzt unsensibel klingt, aber wie kann es dann sein, dass sie hier drinnen«, James machte eine weitausholende Geste, »noch lebt? Sie haben doch gesagt, dass

»Das hat mit jener Entwicklung zu tun, die mich zu einem der Supervisoren von New York City gemacht und die mir einen Platz im Board von Blue Space Industries beschert hat.« Stuart schien sich mit einem Mal unwohl zu fühlen, denn er begann, seine Hände zu kneten. »Ich musste ja erst einmal eine Basislinie ihrer Persönlichkeit besitzen, und die basiert immer auf empirisch gewonnenen Daten. Bevor sie nach China gegangen ist, habe ich ihr Headmemory also mit einer Aufnahmefunktion ausgestattet.«

»Sie haben ihr Gehirn verwanzt?«, fragte James.

»Ich habe alles kopiert, was sie gesehen, gedacht und getan hat, bis sie in See gestochen ist. Die Verbindung war plötzlich weg. Erst viel später habe ich eine Persönlichkeitsrekonstruktion erschaffen und sie an den Anfang ihrer Reise hierhergesetzt. Ich wollte nachverfolgen, wohin sie geht und warum. Und ich wollte ihr über den Punkt hinaus folgen, an dem der letzte Upload ihrer Erinnerungen stattgefunden hat. Um herauszufinden, was mit ihr auf der Javasee geschehen ist. Ich konnte in der Realität nicht sehen, was geschehen war, aber ich wollte es wenigstens in einer Simulation rekonstruieren. Selbst wenn diese lediglich mit den Daten der letzten achtundvierzig Stunden vor ihrem Verschwinden Berechnungen anstellen kann, wäre ich auch mit einem Annäherungswert zufrieden gewesen, um die möglichen Ursachen ihres Verschwindens aufzudecken. Ich wollte als Zaungast miterleben, wo ihre Fahrt sie hingeführt hat und wer oder was für ihren möglichen Tod verantwortlich war. Die Simulation sollte das Rätsel lösen. Aber sie ist einfach verschwunden«, brummte Stuart frustriert.

»Verschwunden bedeutet, dass …«

»Ihre Persönlichkeitsrekonstruktion hat sich in der VR-Umgebung einfach aufgelöst, wie ein Stück Zucker in einer Tasse Tee. Sie ist noch da drin, das kann ich am Code sehen, aber sie ist nicht

Stuart fuhr sich mit einem Finger von der linken Stirnhälfte über das Auge die Wange hinab. »Diese Narbe, die du da hast. Sie ist echt.«

»Natürlich«, gab James irritiert zurück und zuckte innerlich zusammen.

»Alles an dir ist echt. Unverändert und menschlich, so wie meine Tochter es gerne gewesen wäre. Vielleicht spricht sie mit dir. Deshalb möchte ich dich bitten, in dem Konstrukt nach ihr zu suchen.«

»Habe ich eine Wahl?«

»Man hat immer eine Wahl. Aber wenn du mir hilfst, helfe ich dir. Ich weiß, was du willst, und ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um es wirklich werden zu lassen. Wie klingt das für dich?«

Ihre Blicke begegneten sich für einen Moment. James hatte sich längst entschieden.

»Ich stimme zu«, sagte er schließlich, und Stuart nickte, als habe er mit nichts anderem gerechnet.

»Sehr gut. Sehr gut.«

»Wie bitte?«

»Verstehen Sie mich nicht falsch, ich kenne das emotionale Bedürfnis, einen geliebten Menschen wiederzufinden.« James schluckte, bevor er weitersprechen konnte. Für einen Moment überkam ihn eine leichte Übelkeit. »Aber Leute wie Sie denken nicht bloß emotional, sondern logisch und komplex. Es muss mehr dahinterstecken.«

»Wir leben in einer Zeit, in der Menschen längst nicht mehr die Speerspitze der Evolution sind«, erklärte Stuart. »KIs, unsere eigene Schöpfung, haben uns überholt. Sie empfinden keinen Schmerz und keine Freude, sind aber so intelligent und komplex, dass sie unsere Welt heute auf eine Art und Weise verändern, die wir kaum noch verstehen. Die Singularität ist nahe, James, und wer schon einmal in ein Schwarzes Loch geblickt hat, weiß, dass es hinter diesem Punkt nichts mehr zu entdecken gibt. Das macht mir Angst, und darum habe ich meine Tochter als Basislinie der Virtualität geschaffen. Solange die KI in ihrer Grundaufgabe den Auftrag hat, diese Basislinie um jeden Preis zu schützen und ihre Integrität zu wahren, haben wir indirekt die Kontrolle, und mit wir meine ich Menschen wie dich und mich. Meine Tochter ist eine Art Bindeglied zwischen unseren beiden Polen. Der Sweet Spot, könnte man sagen. Wenn du wirklich wissen willst, warum es so wichtig ist, Luise zu finden, begleite meine Frau Gwynne morgen einen Tag lang in ihrem Alltag. Sieh den Tag als Lernfeld und zieh deine eigenen Schlüsse, wohin wir als Spezies steuern, wenn wir falsch abbiegen. Unsere Entwicklung ist an ihr Ende gekommen, wir leben in der Menschheitsdämmerung, James, und du bist auf der Suche nach dem Licht der letzten Tage.«