Rhea

Rhea erwachte mit einem Gähnen, streckte sich und zog sich rasch an. Sie hatte einen wunderbaren Tag mit Selene verbracht und Törtchen gebacken. Wie üblich kam ihr die Wirklichkeit, aus der sie sich einloggte, wie ein Traum vor, sobald sie hier war. Wenn sie drüben war, erging es ihr nicht anders. Im Grunde sprang sie von einen Traum in den anderen. Gesund konnte das nicht sein.

Aber die Bezahlung ist herausragend, rief sie sich in Erinnerung und dachte an all die Dinge, die sie ihrer Tochter damit würde ermöglichen können. Als Kognitionsforscherin hatte sie Schwierigkeiten, mit den neuen Technologien up-to-date zu bleiben. Sie beherrschte nur grundlegende Kenntnisse in mehrdimensionaler Algorithmik, hatte damals schon die Distributed-Ledger-Welle verschlafen und wusste auch nichts über Combined Data Analysis. Sie war zwar eine Verbesserte mit Designer-DNA, Headmemory und allerlei kleineren und größeren Veränderungen, aber gleichzeitig die wohl schärfste Kritikerin dieser angeblichen Segnungen. Sie verachtete das Deepnet, nutzte keine VR-Umgebungen zur Zerstreuung und besaß keinen KI-Assistenten. Hätte Blue Space Industries sie nicht direkt für dieses Projekt angefragt, würde sie heute vielleicht mit einer Spitzhacke radioaktive Backsteine in Texas zerhacken.

»Phoebe, bist du wach?«, fragte sie über den Funk.

»Ja, ich bin schon im Kontrollraum«, antwortete ihre Schwester überraschend fröhlich über die Lautsprecher.

»Hey!«

»Was denn? Tu nicht so verklemmt.«

»Sagen wir einfach, dass wir uns gestritten haben wegen der Future Worlds, aber er hatte ein Einsehen, und wir haben uns vertragen.« Rhea konnte Phoebe sprichwörtlich grinsen hören.

»Wunderbar. Was steht auf dem Programm?« Natürlich wusste sie genau, wie ihr Schichtplan aussah, aber sie liebte ihre Rituale, und es gefiel ihr, so zu tun, als sei das hier ein ganz normaler Job mit einer Kollegin.

»Außeneinsatz. Probenentnahme und Check der Solarfarm.«

»Gut. Ich gehe direkt zur Luftschleuse.« Rhea überprüfte den Sitz ihrer Nanoseide und trat dann in den Zentralkorridor hinaus.

Am meisten mochte sie an ihrem Job in einer Simulation, dass sie sich nicht mit Profanitäten wie essen, trinken oder Klogängen aufhalten musste. So konnte sie Zwölfstundenschichten in acht Stunden absolvieren und trotzdem dem Reptilienteil ihres Gehirns Normalität vorgaukeln. Der Log-out-Prozess glich dem Einschlafen und der Log-in dem Aufwachen. Was ihren Biorhythmus anging, lebte sie ein ganz normales Leben.

Nach zwanzig Metern stand sie vor der Luftschleuse und drehte sich zur linken Wand. Mit einem Wischen ihrer Hand öffnete sich ein Panel, und dahinter kam ihr Schutzanzug zum Vorschein. Zwar besaß Proxima b eine Atmosphäre, aber sie entsprach nicht derjenigen der Erde. Lediglich der Druck war ähnlich, so dass sie bloß auf einen Helm mit eigener Sauerstoffversorgung angewiesen war. Rasch schlüpfte sie in den weißen Einteiler mit verstärkten Gelenken und versiegelte das Verbindungsstück am Kragen. Einblendungen in ihrem Visier gaben ihr grünes Licht für die Anzugsysteme.

»Alles auf Go«, sagte sie über Funk und hörte ihre eigene Stimme als Echo.

»Danke.« Rhea trat in die Luftschleuse, einen kleinen Schlauch aus Komposit, an dessen anderem Ende sich eine runde Luke mit manueller Steuerung befand. Sie ließ sich geduldig von zwei Gasfontänen abduschen, die sie in dichten Nebel hüllten, dann sprang das rote Licht über der Luke auf Grün, und sie drehte an dem Rad, um sie zu öffnen. Ihr Anzug war jetzt steril, damit sie die Biosphäre des Planeten nicht kontaminierte. Es gab mikrobiotisches Leben auf Proxima b, das anhand der Sondendaten allerdings nur bruchstückhaft zu rekonstruieren war, also musste sich die Simulation mit Spekulationen zurückhalten.

Außenbereich. Ladevorgang läuft, blendete die Simulation in ihrem Sichtfeld ein. Warum das VR-Programm sich diesen Scherz erlaubte, wusste Rhea nicht, aber es störte sie auch nicht im Geringsten. Immerhin wurde sie so wieder daran erinnert, dass dies nicht echt war. Die äußere Tür öffnete sich und gab den Weg nach draußen frei.

Proxima b besaß 1.17 Erdmassen und damit in etwa dieselbe Schwerkraft wie ihre Heimat. Es war ein wenig schwieriger zu laufen, aber ihre Hochleistungsmuskulatur hatte sich schnell an die veränderten Umstände gewöhnt. Der rote Zwerg, den der Exoplanet alle elf Erdtage einmal umkreiste, tauchte die felsige Landschaft vor der Kolonie in ein romantisches rotes Licht, das in etwa dem des irdischen Sonnenuntergangs ähnelte. Wie lieblicher Wein, der sich über den Horizont ergoss. Die karmesinfarbene Scheibe stand immer an derselben Stelle ganz knapp über den fernen Bergen, küsste sie mit seinem unteren Drittel und franste an den Rändern aus, wo die Atmosphäre die Sicht verzerrte.

Rheas Stiefel traten auf das krautige Gewächs, das sie Teufelsmoos getauft hatte, weil es kleine rote Blüten trug, die wie zornige Augen leuchteten. Es breitete sich, so weit sie blicken konnte,

Auch bei der fernsten Immobilie der menschlichen Zivilisation galt wohl das alte Prinzip »Lage, Lage, Lage«, dachte sie und sah auf ihre Brust hinab. Ihr weißer Schutzanzug sah im diffusen Karmesinlicht rosa aus, was ihr jedes Mal ein Lächeln aufs Gesicht zauberte. Es war Selenes Lieblingsfarbe.

»Alles in Ordnung?«, fragte Phoebe und spielte vermutlich auf ihre Inaktivität an.

»Ich genieße den Ausblick«, antwortete sie und seufzte, bevor sie sich zum Rover umdrehte. Er stand neben der Luftschleuse,

Der Rover war ein achträdriges Gefährt, das an einen geschlossenen Strandbuggy erinnerte, mit hohem Radstand und massiver Aufhängung. Acht Elektromotoren steuerten jeweils ein Rad autonom an und konnten die Maschine über jedes Terrain peitschen, das ihr unters Gummi kam. Mit Energie versorgt wurden sie über windschnittige Solardrohnen, die sich in der Höhe aufluden und den Strom per Mikrowellenstrahlung an den Rover schickten. Das war nicht besonders energieeffizient, funktionierte aber einwandfrei, solange nicht gerade ein Gigasturm heranrollte und sie zurück in ihre Landebuchten fliehen mussten.

Rhea kletterte hinein und schloss die Tür hinter sich, wartete auf das grüne Licht über der Frontscheibe und legte dann ihren Helm beiseite. Über den Steuerknüppel aktivierte sie die Systeme, koppelte die Sicherheitsklammern ab und fuhr in Richtung Ausgang ihres kleinen Tals, an dessen Boden sich die Kolonie festkrallte wie ein Parasit. Das graue Komposit mit seiner langweilig-funktionalen Form aus eckigen Modulen stand in scharfem Kontrast zu den Erdfarben ringsherum und dem rötlichen

Zu der Solarfarm gelangte sie durch die trichterförmige Schlucht, die bergab in Richtung Savanne führte, einer Ebene, in der es bereits sehr warm wurde, aber noch nicht so heiß, dass alles abgetötet wurde. Über eine Rampe, die sie mehrere Wochen lang vom Konstruktionsbot in den Fels hatte schlagen lassen, fuhr sie links auf einen Kamm, umrundete das Tal und blickte immer wieder auf die Kolonie hinab, die von hier oben erstaunlich klein aussah.

Hoch über dem Gipfel des Trafalgar-Massivs konnte sie mächtige schwarze Wolkenberge sehen, in denen grelle Blitze zuckten – ein geradezu episches Schauspiel, wenn man es aus der Ferne betrachtete. Unser Außenposten wirkt so winzig vor dieser Kulisse. Als gehörten wir hier nicht hin. »Mickrig«, murmelte sie.

»Was?«, fragte Phoebe.

»Oh, ich habe nur vor mich hin gemurmelt.«

»Sieht aus, als würde der Sturm von Osten seine Richtung ändern. Die Satelliten haben die erste Warnstufe ausgegeben.«

»Ist gut, ich beeile mich«, versicherte Rhea ihr und gab ein wenig mehr Schub. Die Solarfarm bestand aus achttausend flexiblen Solarplex-Kacheln, die dünner als ein Millimeter waren und mittels Nanofäden mit Widerhaken im Fels über dem Tal verankert waren. Nicht einmal die heftigsten Gigastürme vermochten sie zu schädigen – durchaus beruhigend, war doch die gesamte Kolonie auf dieselbe Art befestigt. Für das bloße Auge sah die Farm lediglich wie ein erstaunlich gleichmäßig ansteigender Hang aus. Nicht wie die Lebensader eines Menschheitstraums.

Sie parkte den Rover quer vor dem Wartungshäuschen, das sie in einen Felsabschnitt gebaut hatte, der wie ein Monolith aus dem Boden ragte. Nachdem sie den Helm wieder aufgesetzt hatte, verließ sie die Kabine, schnappte sich den Koffer vom

»Output nominal, kaum Spitzen oder Einbrüche. Verteilungssymmetrie optimal, Leitungseffizienz im Rahmen. Wir könnten die Supraleiter austauschen, sobald der Drucker die neuen Muster zugeschickt bekommt.«

»Dauert ja nur vier Jahre«, kam Phoebes trockene Antwort.

»Und ich soll die Chefzynikerin sein? Schon klar.«

»Glaubst du, dass dies wirklich der richtige Ort für eine Kolonie ist?«, wechselte ihre Schwester im Funk das Thema. Erste atmosphärische Interferenzen mischten sich als leises Rauschen in ihre Unterhaltung.

»Ja.«

»Warum?«

»Weil es der einzige momentan erreichbare Ort ist. Vielleicht finden wir bald eine neue Wundertechnologie oder knacken doch noch die effiziente Antimaterieherstellung, wer weiß das schon«, sagte Rhea. »Aber das ändert nichts an dem Problem, dass wir bereits ab zwanzig Prozent Lichtgeschwindigkeit mit der entstehenden Gammastrahlung im interstellaren Medium zu kämpfen haben. Selbst der Flug hierher mit Robotern und maximal geschützten, befruchteten Embryos hat zwanzig Jahre gedauert, was schon ziemlich gut ist, wenn du mich fragst.«

»Aber wir machen ständig Fortschritte. Schau dir die physikalische Grenze in der Mikronisierung an, die lange bei Halbleitern galt. Plötzlich waren dreidimensionale molekulare Schaltungen da. Vielleicht sind wir in zehn Jahren schon doppelt so schnell unterwegs.«

»Möglich. Jedenfalls ist Proxima b gar nicht so übel. Wir

»Nicht wegen der Atmosphäre, aber bestimmt wegen irgendwelcher Keime.«

»Dafür sind wir ja hier. Um mehr über die Mikroflora herauszufinden«, bemerkte Rhea knapp und wischte durch das letzte Analyse-Chart. Wie erwartet, funktionierte alles normal.

»Mich würde eher interessieren, wie sie uns in die Simulation eingebettet haben, ohne das Konstrukt zu gefährden«, schlug Phoebe erneut einen thematischen Haken. »Immerhin werden keine zwei erwachsenen Menschen da sein, wenn die Embryos großgezogen werden.«

»Es geht ja erst einmal nur darum, dass wir in diesem virtuellen Feldversuch die Machbarkeit belegen. Wenn wir Erfolg haben, wird weitergeforscht.«

»Moreau ist doch bereits so reich, dass er so etwas einfach durchziehen könnte.«

»Schon, aber Unternehmer denken immer ans Geld. Er will vermutlich erst wissen, ob sich eine Sache rentiert, bevor er die Kohle vorstreckt. Sieht übrigens alles normal aus, ich komme besser zurück. Das Rauschen im Funk wird schlimmer.«

»Alles klar. Gute Heimfahrt.«

Rhea stieg in den Rover und sperrte das Pfeifen des Windes aus, der hier mit fünfzig Kilometern die Stunde wehte. Durch die Frontscheibe konnte sie erkennen, wie die dunklen Wolkentürme mittlerweile den gesamten rechten Horizont ausfüllten und die Kaskadenblitze in immer kürzeren Abständen durch den Wasserdampf jagten. Es war ein unheimlicher Anblick, der sie vergessen ließ, dass auch dies nur ein Effekt war, der von einer hoch spezialisierten KI anhand unbegreiflicher Datenmengen in Echtzeit berechnet wurde.

Es ist also echt, weil es genau so wäre, aber nicht echt, weil es nicht in Wirklichkeit stattfindet. Außer hier drin, also findet es dachte sie und drückte den faustgroßen Startknopf für die Elektromotoren. Manchmal fühlte sie sich wie eine Figur in einer Kinderphantasie. Alles in der Kolonie, von den Werkzeugen über die Türsteuerungen bis hin zu sämtlichen Armaturen und Knöpfen, war so simpel gehalten, dass man kaum etwas falsch machen konnte. Sie schob es auf die Tradition menschlicher Raumfahrt, in der stets Einfachheit und Verlässlichkeit die obersten Prioritäten gewesen waren, damit im Ernstfall alles schnell ging. Das ergab Sinn, schließlich wären die ersten Chargen der Klone nach der Ankunft ihrer Besitzer möglicherweise verwirrt oder desorientiert und mussten im unwahrscheinlichen Falle eines Problems zügig reagieren können.

Rhea im Kinderparadies, weit draußen im Proxima-Centauri-System. Was für ein lächerlicher Gedanke. Sie lenkte den leise surrenden Rover über den blanken Fels, auf dem jede Spur innerhalb von Sekunden verweht wurde, und folgte der vom Head-up-Display vorgegebenen Fahrtroute, so dass sie bloß den Steuerknüppel entsprechend der Hilfslinien bewegen musste. Immerhin konnte sie in der Simulation nicht während ihrer Arbeitszeit einschlafen.

Zurück in der Kolonie wartete sie, bis der Anzug sterilisiert war, und steckte ihn dann zurück an seinen Platz, ehe sie sich zu Phoebe in den Kontrollraum setzte. Einem Raum, der als Fegefeuer für Klaustrophobiker durchgegangen wäre, mit seinen zwei Rücken an Rücken stehenden Schalensitzen, um die sich die Displays mit einer Armlänge Abstand drängten. Sie alle waren eingeschaltet und erzeugten ein Wirrwarr aus Farben, Animationen und Zahlenkolonnen.

»Na, 'nen schönen Ausflug gehabt?«, fragte Phoebe gelangweilt.

»Bisschen langweilig. Aber hey, Langeweile im Weltall steht für

»Wir sind aber nicht im Weltall«, murrte Phoebe.

»Du kannst ja mal ohne Schutzanzug spazieren gehen.« Rhea tat, als würde sie auf eine Armbanduhr sehen. »Ich hole dich in einer Stunde ab, und wir reden noch mal.«

»Es ist einfach nur so eintönig. Keine Ahnung, wie du das sechzehn Jahre ausgehalten hast.«

»Habe ich nicht, deshalb haben sie mir dich an die Seite gestellt.«

»Bereust du es schon?«

Rhea zog statt einer Antwort an einem imaginären Strick um ihren Hals und grinste.

Phoebe, die mittlerweile verkehrt herum auf ihrem Sitz saß, die Beine über Kreuz auf der Sitzfläche und den Ellenbogen auf der Konsole mit der integrierten Tastatur, lachte schallend.

»War ja klar, dass du nach mir verlangt hast. Sonst hältst du es ja mit niemandem aus.«

»Die Hölle, das sind die anderen«, entgegnete Rhea trocken.

»Der erste Mensch, der sich in einem anderen Sonnensystem mit dem Miesepeter Sartre schmückt. Respekt.« Phoebe hakte pantomimisch etwas auf einer Liste ab.

»Sartre war kein Misanthrop. Er hat nur verstanden, dass das Bewusstsein und die Welt zwei verschiedene Dinge sind und wir für unsere unliebsamen Erfahrungen gerne anderen die Schuld in die Schuhe schieben.« Rhea schluckte, als sie in Gedanken Charles lachend über die Wiese im Park auf sie zulaufen sah. »Oder wir tun einfach so, als existierten sie gar nicht, diese schrecklichen Sachen. Die Hölle, das bin ich, weil ich sie in anderen suche.«

»Tust du das denn?«

»Es tut mir leid, ich wollte dich nicht bedrängen. Es ist nur so, dass wir uns alle lange Zeit Sorgen gemacht haben, ob … ob du dich davon erholst, in deiner …«

»In meiner Weigerung, mich von einem KI-Assistenten mit dem perfekten Soundtrack durch die fünf Phasen der Trauer leiten zu lassen? In der Phase der Leugnung mit Elton Johns Don’t go breaking my Heart? Dann für die Wutphase So What von Pink? Danach ab in die Verhandlung mit Toni Braxtons Unbreak my Heart, bevor mich Adeles Someone like You in die komplette Depression stürzt, ehe es mit I don’t give a Fuck von Dua Lipa Zeit für die Akzeptanz ist?« Rhea sah auf Phoebes Hand hinab, die ihren Unterarm festhielt, und ihre Schwester ließ los.

»Du hörst zu viele von diesen Oldies.«

»Ich höre nicht genug auf die Maschinenstimmen in meinem Kopf, meinst du.«

»Es ist nicht alles schlecht daran, sich auf die neuen Technologien einzulassen, weißt du? Wir haben uns eine Zeitlang wirklich Sorgen um dich gemacht!«

»Welche Sorgen? Dass ich von einem Kontrolleur zum Rapport gebeten werde und mich danach in mein Schlafzimmer zurückziehe, ganz ohne Soma, und mich dann erhänge?«, schnaubte Rhea.

»Kontrolleur? Soma?« Phoebe runzelte verwirrt die Stirn. »Was?«

»Du solltest mehr lesen.« Rhea winkte ab und verließ den Kontrollraum.

»Rhea!«

»Ich muss noch die zweite Charge der Rohlinge checken.«