Adam

Der Tunnel fühlte sich endlos an. Endlos, weil sie nur sehr langsam vorankamen in dem schlammigen Wasser, und endlos, weil Adam von düsteren Gedanken geplagt wurde. Was war mit dem alten Karpfen geschehen? Sein Schrei hallte noch immer in seinen Ohren nach und vermischte sich mit dem Bild von seiner Mutter, die von dem grausigen Licht getötet worden war. Es gab Momente, in denen sich ein seltsamer Druck in seiner Brust aufstaute und gegen sein Herz drückte. Momente, in denen er einfach nur schreien wollte. Aber er tat es nicht. Stattdessen watete er mit geducktem Kopf hinter Utah her durch die Dunkelheit, die sie mit der Taschenlampe nur notdürftig vertrieb. Der Ring aus Licht an den Wänden wanderte immer weiter und vibrierte dabei synchron zum Zittern ihrer Hand. Algenstränge hingen von der Decke und kitzelten Adams Gesicht und seine verkohlten Haare, glitschig und stinkend, ohne dass es ihn kümmerte. Nichts kümmerte ihn mehr, er ging einfach weiter, ignorierte die Schmerzen in seinen Knien und Händen, seinem Kopf, auch die grausigen Bilder, die ihn verfolgten, und konzentrierte sich auf ihre Flucht.

Er dachte an das Foto, das der alte Karpfen ihm gegeben hatte und das jetzt in der Innentasche seiner Jacke steckte, die er mit der linken Hand fest an seine Brust presste.

Dad, dachte er. Ich finde dich, Dad!

Irgendwann öffnete sich der Tunnel zu einer weiteren Höhle, in deren Mitte eine einfache Metallleiter zu einem Loch in der

»Denkst du, dass wir hier hoch müssen?«, fragte Utah mechanisch.

Adam nickte, obwohl er es nicht wusste. Seine Freundin reichte ihm die Taschenlampe, sah furchtsam zu dem Loch in der Decke hinauf und atmete tief durch, bevor sie sich daranmachte, die Leiter zu erklimmen. Mit vorsichtigen Handgriffen arbeitete sie sich Sprosse um Sprosse vor, zuckte einige Male zurück, als ein Käfer oder eine Spinne über ihre Finger lief, ließ jedoch nicht los. Adam steckte sich die Taschenlampe in den Mund, ehe er ihr schließlich folgte. Rost und Patina kratzten schmerzhaft in seinen Handflächen.

»Hier ist eine Halterung oder so was«, flüsterte Utah von oben, und ein metallisches Rütteln erklang.

»Kannst du sie drehen oder eindrücken?«

»Warte.« Es quietschte lang gezogen, und ein Schwall frischer Luft wehte ihnen entgegen.

»Komm!«

Da die Taschenlampe in Adams Mund zur Seite zeigte und die schmutzige Felswand ausleuchtete, konnte er Utahs Umrisse nur erahnen. Als ihre Hand vor seinem Gesicht auftauchte, schreckte er zuerst zurück und legte dann den Kopf in den Nacken, damit sie ihn von der Taschenlampe befreien konnte.

Durch die Luke kletterte er zu Utah hinaus in die kalte Nacht. Es regnete nicht, doch er war bis zur Hüfte nass und begann, im leichten Wind zu bibbern.

»W-wo sind wir?«, fragte er, doch Utah schüttelte bloß den Kopf. Ihre Augen waren rot und ihre Wangen von den Spuren stummer Tränen gezeichnet, die den Schmutz in gleichmäßigen

»Gehen wir.«

»Okay«, sagte Utah und nahm seine linke Hand in die ihre. Er sah kurz auf ihre ineinanderverschlungenen Finger hinab. In seinem Herzen war nur Leere. Jeder seiner Schritte war mechanisch, jeder Sinneseindruck bloß eine Welle auf dem Ozean, unbedeutend und ephemer. Er spürte seine Füße, die Anstrengung und die Schmerzen in Armen und Beinen, auch den Druck hinter seinen Augen – und doch berührte es ihn kaum, so als gehörte das alles nicht zu ihm.

»Adam?«, fragte Utah irgendwann. Er hatte gar nicht bemerkt, dass sie mittlerweile zwischen den fahlen Skeletten toter Bäume hindurchliefen. Wie bizarre Stelen mit rauer Haut und knorrigen Aststummeln bildeten sie einen furchterregenden, unwirklichen Anblick.

»Ja?«

»Denkst du …« Sie machte eine Pause. »Denkst du, dass wir noch in die richtige Richtung gehen?«

Adam wusste, dass sie etwas anderes hatte sagen wollen, aber er fragte nicht danach. »Ich weiß es nicht. Aber ich sehe die Lichter der Flieger nicht mehr hinter uns. Ich hasse sie.«

»Wen?«

»Ich bin müde, Adam.«

»Ich auch.«

Sie gingen wortlos weiter, hielten sich an den Händen, und die Taschenlampe begann immer häufiger zu flackern. Erst als sie auf ein seltsames Gebilde stießen, blieben sie stehen. Es handelte sich um ein … Auto?

Das Fahrzeug war kaum als solches zu erkennen. Die Fenster waren gähnende Höhlen, aus denen braune Gräser wuchsen, die Motorhaube war von Flechten bedeckt und das Metall so verrostet, dass sich keine Farbe mehr erkennen ließ. Da er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte und Utah bereits zweimal gestolpert und beinahe gestürzt war, entschieden sie sich, hier zu rasten. Mit einigem Kraftaufwand zogen sie eine der Türen auf, nachdem sie Sträucher ausgerissen hatten, die sie blockierten. Im Inneren war es weder warm noch gemütlich, doch immerhin konnten sie sich auf das Gras legen, das einen jahrzehntelangen Kampf gegen den Fahrzeugboden offenbar für sich entschieden hatte und ihnen nun als Polster diente. Auch war es hier weniger matschig, und sie hatten Schutz vor dem Wind. Bibbernd klammerten sie sich aneinander und lauschten dem sanften Rauschen der Nacht. Obwohl Adams Körper sich anfühlte, als stünde er in Flammen, war ihm gleichzeitig kalt, und er konnte nicht einschlafen.

»Wie weit ist es nach New York?«, fragte Utah irgendwann.

»Ich weiß es nicht«, gab er zurück.

»Denkst du, dass es ihnen weh getan hat?«

»Ich weiß es nicht.« Adam wusste, dass sie ihre Eltern meinte, aber er wollte nicht daran denken.

»Was sollen wir denn essen?«

»Ich weiß es nicht.«

Als er erwachte, spürte er zuerst seine Füße, die zu Eisklötzen geworden waren. Auch seine Rippen schmerzten, wo er auf dem Boden des Autos gelegen hatte, und in seinem Mund steckte ein ganzes Bündel von Utahs Haaren.

»Utah?«

»Mhm?«

»Bist du in Ordnung?«

»Mir ist kalt«, flüsterte sie.

»Mir auch.« Vorsichtig löste er sich von ihr und kniff die Augen zusammen, bevor er sich auf die Ellenbogen abstützte, um aus den scheibenlosen Fenstern des verrosteten Autos zu blicken. Um sie herum breitete sich das Gerippe eines Waldes aus, dessen Baumstümpfe in etwa so groß waren wie ein Erwachsener und zwischen denen jede Menge verrotteter Äste lagen. Auf der anderen Seite lag eine Straße, deren Asphalt überall aufgerissen war. Aus den Löchern wuchsen Gras und Unkraut, und einige Stellen waren von umgestürzten Bäumen blockiert. Ihr Auto stand quer dazu versetzt auf einem Grünstreifen mit kniehohem Gras. Das Wichtigste aber war, dass er keine Spinnen und keine Flieger sehen konnte, was ihm einen Seufzer der Erleichterung entlockte.

»Wir müssen weitergehen, damit uns warm wird«, sagte er schließlich und kam auf die Knie. Utah verzog das Gesicht und tat es ihm gleich. Ein Blick auf ihre Hände ließ ihn zusammenzucken. Sie waren vollkommen aufgekratzt und verschmutzt. Dreck in Wunden war gefährlich, das wusste er, auch wenn ihm nicht ganz klar war, weshalb, aber die Erwachsenen hatten immer jede

Zusammen kletterten sie aus dem rostigen Autowrack und gingen zur nächsten Pfütze, um erneut die Himmelsrichtungen zu überprüfen. Da er das Stück Stoff vom alten Karpfen nicht mehr finden konnte, nahm er ein trockenes Blatt vom Boden auf, legte es in die Pfütze und dann die Nadel darauf. Sobald sie sich eingependelt hatte, zeigte er die Straße hinauf.

»Diese Straße führt nach Osten«, stellte er fest.

»Das ist gut, oder nicht?«

Er zuckte die Achseln. »Sieht zumindest trocken aus.«

Schweigend machten sie sich auf den Weg, gingen über den brüchigen Asphalt, und er stellte verwundert fest, dass er den Baumstamm nicht mehr sah, der eben noch quer über der Fahrbahn gelegen hatte. War er einfach verschwunden? Oder hatte er sich in der Richtung geirrt? Als er sich umdrehte, sah er einen weit hinter ihnen. Ob es derselbe war? Vermutlich waren es seine Müdigkeit und die Schmerzen in Armen und Beinen, die ihm einen Streich spielten.

Die Straße stellte sich als hilfreich heraus, da sie deutlich schneller vorankamen, auch wenn sie ab und zu größere, mit Schlamm gefüllte Schlaglöcher umrundeten oder über Vegetationsreste hinwegsteigen mussten. Die meiste Zeit schwiegen sie und hingen ihren eigenen Gedanken nach. Rechts und links blieb der Anblick immer gleich: Baumstümpfe, feuchte, halb verrottete Pflanzen, Äste und Laub, jede Menge dunkler und bunter Pilze, die teilweise als Flechten ganze Felder gebildet hatten. Die Wolken saßen tief und schwer über der trostlosen Szenerie. Aber es regnete nicht. Trotzdem fror er fürchterlich.

Als das Tageslicht langsam wieder abnahm, erreichten sie weitere Autowracks, die allerdings kaum noch als solche zu erkennen waren. Komplett von Grassoden und Unkraut überwuchert, war nicht einmal mehr der braune Rost zu sehen. Es waren

»Sieh mal«, sagte er laut und deutete in die Richtung. Utah blickte auf und kniff ihre Augen zusammen.

»Was ist das?«

»Vielleicht sollten wir lieber einen anderen Weg wählen.«

»Aber was, wenn es da Essen gibt? Ich habe wirklich Hunger«, entgegnete Utah und sah sehnsüchtig zu der Ruine. Statt zu antworten, nickte er einfach und setzte sich in Bewegung.

Je näher sie kamen, desto klarer wurde, dass dort niemand war, der ihnen gefährlich werden konnte, abgesehen von ein paar Ratten vielleicht, die quiekend flüchteten, als sie sich näherten. Es knirschte und knackte unter ihren Stiefeln, und mit jedem Geräusch quollen weitere Nager aus der Tür des kleinen Verschlages. Er war nicht einmal halb so groß wie ein Zugwaggon und besaß ein eingestürztes Flachdach. Davor befand sich ein weiteres auf sechs Metallträgern, unter dem ein asphaltierter offener Platz war, der von drei Säulen in zwei Hälften geteilt wurde. An diesen Säulen befanden sich Zapfhähne und Schläuche und einige Schilder, deren Beschriftungen Adam allerdings nicht lesen konnte.

Vorsichtig näherten sie sich der offen stehenden Tür, die halb aus den Angeln gerissen war. Adam stellte sich daneben und lauschte, ehe er Utah zunickte und zaghaft hineinging. Was er vorfand, war ein im Halbdunkel liegender Raum mit einer Theke und drei Regalreihen, von denen eine umgestürzt war. Auf dem Boden breiteten sich Moosflechten, altes Laub und Rattenkot

»Sehen wir nach, ob wir was zum Essen finden«, schlug Utah flüsternd vor, als würde sie jemand belauschen.

»Ist gut.« Adam nickte und ging nach rechts, während sie nach links abbog. Aufmerksam suchte er den Boden und die Regale ab. Er fand einen Haufen Dosen, von denen er eine aufhob und erschrak, als darunter eine ganze Familie Kellerasseln hervorkrabbelte und rasch in der Schicht aus Abfall, Moos und Laub verschwand.

»Tr-trr«, versuchte er, das Etikett zu lesen, nachdem er mit den Fingern darübergewischt hatte, um die Patina aus Schmutz zu entfernen. »Tru-trutt … nein, Trut-haa … Truthahn. Truthahn? Was ist das? Utah?«

»Ja?«, hörte er sie von der anderen Seite des Regals wispern.

»Ich habe was gefunden!«

Sie kam von der anderen Seite her zu ihm, in den Händen eine Plastiktüte. Unter der Schmutzschicht waren verwaschene Farben erkennbar, ein lachendes Tier mit großer Nase und plüschigen Ohren. Utah stakste vorsichtig über den unebenen Boden, wich einem Haufen Rattenkot aus und beugte sich neugierig über die Dose in seinen Händen.

»Was ist das?«

»Keine Ahnung. Truthahn«, erwiderte er, und als sie ihm einen fragenden Blick zuwarf, zuckte er mit den Schultern und sah auf seine Taschenlampe, die bereits seit Stunden nicht mehr leuchtete. Wahrscheinlich war sie kaputtgegangen. Prüfend schlug er mit dem unteren Teil, an dem sich eine kleine Verdickung befand, gegen die Dose, doch er erzeugte damit nur eine winzige Delle im geriffelten Blech. Utah nahm ihm die Büchse kurzerhand ab und schlug damit zweimal kräftig gegen die Kante eines der Regalbretter und hielt sie ihm dann hin. Ein großes Loch klaffte nun in

Prüfend hielt er seine Nase darüber und ließ die Dose angewidert fallen.

»Igitt!«

Utah hob sie wieder auf, steckte zwei Finger durch das Loch und bog die scharfen Kanten nach außen, um es zu vergrößern. Dann kratzte sie die weiße Schicht ab und warf das verschimmelte Gelee auf den Boden. Darunter kam eine Schicht aus dunklen, marmorierten Stückchen, die zu einer festen Masse zusammengepresst waren, zum Vorschein.

»Was ist das?«, fragte er angewidert.

»Ich weiß nicht.« Sie schnüffelte daran und entfernte noch ein paar flaumige weiße Brocken, dann zuckte sie mit den Achseln. »Riecht nicht mehr so schlimm wie vorher.«

»Iss das lieber nicht.« Adams Magen knurrte, trotzdem wurde ihm übel bei dem Gedanken, sich das Zeug in den Mund zu stecken. Oder kam die Übelkeit von seinem Hunger?

Utah ignorierte seinen Einwand, schob zwei Finger in die zähe Masse hinein und schaufelte damit ein glibberiges Stückchen heraus, das sie sich in den Mund steckte. Dabei kniff sie ihre Augen zusammen und verzog die Mundwinkel, hörte aber nicht auf zu kauen und schluckte schließlich laut.

»Eklig, aber es geht«, kommentierte sie und hielt ihm die Dose hin, doch er winkte ab und sah ihr dabei zu, wie sie auch den Rest in sich hineinschlang. Als sie fertig war, warf sie die leere Dose fort und griff nach der nächsten. Schließlich überwand er sich und nahm sich auch eine, schlug sie nach mehreren Versuchen auf und aß den Inhalt widerstrebend auf. Es schmeckte ganz und gar nicht süß wie der Zucker, sondern salzig mit einem stechenden Nachgeschmack, der ihm den Schweiß auf die Stirn trieb.

Als er gerade die dritte Dose öffnen wollte, weil sein

»Hörst du das?«

»Ja«, hauchte Utah, und sie gingen wie auf ein unausgesprochenes Kommando in die Hocke. Einen Atemzug später wurden ihre Augen so groß, dass das Weiß in ihnen deutlich hervortrat. »Ein Flieger!«

Er hatte es im selben Moment gedacht. Das hohe Surren kam ihm bekannt vor, und es kam näher. Unsicher, was er tun sollte, sprang er schließlich aus der Hocke auf und lief zur Rückwand des Raumes, duckte sich unter einem tief hängenden Dachelement hindurch und suchte nach einer zweiten Tür. Doch es gab keine, die nach hinten hinausführte, nichts – nur die schwarz angelaufenen, von einem dichten Pelz besetzten Wände.

»Hier kommen wir nicht raus!«, zischte er verzweifelt in Utahs Richtung. Sie war ihm gefolgt und sah sich immer wieder unruhig um.

Das Surren wurde lauter.

»Vielleicht ist er noch nicht so nah, und wir können rauslaufen und uns hinter einem Baum verstecken«, schlug sie vor und sprach dabei so leise, dass er sie kaum verstehen konnte.

»Okay.« Sie krochen zwischen zwei Regalreihen hindurch, wobei seine rechte Hand in einem Haufen Rattenscheiße landete und abrutschte, doch es kümmerte ihn nicht. Sein Herz pochte heftig und trieb ihn zur Eile an, so dass sie kurz darauf vor der Tür standen. Gerade wollten sie geduckt hinauslaufen, als er zurückschreckte und gegen Utah prallte.

Direkt vor ihm schwebte der Flieger. Seine vier handtellergroßen Rotorblätter surrten unangenehm hoch, und sein gewölbtes Auge unter dem roten Positionslicht war genau auf sie gerichtet. Adam konnte darin sein eigenes Spiegelbild erkennen. Für einen Augenblick schien die Zeit eingefroren zu sein, und weder er noch Utah oder die Drohne reagierten, bis die Maschine plötzlich

»Der wird uns verraten!«, jaulte Utah auf, und Adam nickte bloß und versuchte, seinen Atem zu beruhigen, der so schnell ging, dass er das Gefühl hatte, seine Brust müsse jeden Augenblick zerbersten.

»Wir müssen hier weg! Schnell!«