Adam

Der fremde Mann ging zurück zu seinem Fluggerät und kletterte geschickt in die Kabine hinein. Adam war sicher, dass er jetzt wieder davonflog, nach Boston, wo auch immer das sein mochte. Doch er kehrte schon nach wenigen Minuten zurück und klemmte sich eine Maske über Mund und Nase, die ihn an die einfachen Schutzmasken erinnerte, die von den großen Fischen bei einigen Arbeitseinsätzen getragen wurden.

Wieder kniete der Fremde sich vor sie hin und musterte sie eine Weile.

»Darf ich euch scannen?«

»Scannen?«, fragte Adam verwirrt. Utah reagierte nicht einmal. »Was ist das?«

»Ich habe hier ein Gerät«, sagte sein Gegenüber mit dieser merkwürdig präzisen Aussprache und hielt ein Stück rechteckiges Glas hoch. Es war sehr schmal und hauchdünn und wurde farbig, als er mit dem Daumen darüberfuhr.

»Es kann unter anderem deine Augen scannen und mir sagen, ob du krank bist und Medizin benötigst. Weißt du, was Medizin ist?«

»Natürlich! Medizin macht dich gesund, wenn du krank bist.«

»Ja, genau. Diese Maschine hier kann deine Augen scannen und mir verraten, was dir fehlt, dann gehe ich zu meiner Druckereinheit und stelle es her, das dauert nur ein paar Minuten. Was sagst du?«

»Ich denke schon«, widersprach der Mann und hielt sein Handterminal einige Zentimeter vor Adams Gesicht. Es dauerte nur wenige Sekunden, dann zog sein Gegenüber das Handterminal zurück, und sein Blick wurde abwesend, als blicke er in weite Ferne. Verwundert sah Adam zu Utah, doch die schaute bloß teilnahmslos geradeaus und schien sich für all das nicht zu interessieren. Ob sie wohl sehr müde war? Sonst hatte sie doch immer so viel Angst, und er musste sie trösten. Jetzt aber wirkte sie geradezu gelassen und abwesend.

»Rachitisdrittengradesunterernährtundanzeicheneinerbeginnendentuberkulose«, sagte der Fremde, und seine Lippen bewegten sich so schnell, als stünden sie unter Strom.

»Was?«

»Hm? Oh, du bist … nicht gesund. Aber da lässt sich was machen.«

»Ich bin krank?«

»Du brauchst ein wenig Hilfe, mehr nicht.«

»Machen Sie den Zucker?«, wechselte Adam das Thema und sah zu den Türmen hinter dem Mann, in denen bereits Lichter angegangen waren, um die fortschreitende Dunkelheit zu verdrängen.

»Den Zucker?« Lockart drehte den Kopf, um Adams Blick zu folgen. »Nein. Ich bin Data Supervisor und komme regelmäßig her, um die Systeme zu checken und bei Bedarf anzupassen.«

»Ist Boston eine Stadt?«

»Ja, eine große Stadt.« Lockart schien noch etwas sagen zu wollen, als sein Handterminal zirpte und an der Oberseite rot zu blinken begann. Nach kurzem Zögern nickte er, und das Gesicht einer Frau tauchte auf dem Glas auf. Sie hatte lange blonde Haare und war unglaublich schön. »Hallo, Liebling!«

»Weilichaufdenöstlichenvertikalfarmenimeinsatzbinundhierkeineaktivenneuralübertragungenerlaubtsinddasweißtdudoch«, erwiderte Lockhart ruhig, doch Adam konnte sehen, dass er seine Augen leicht zukniff. Erwachsene glaubten so oft, dass sie verstecken konnten, was sie wirklich dachten, dabei fand er, dass sie sehr leicht zu durchschauen waren. Es war ein merkwürdiges Schauspiel, das die Großen abzogen.

»Ichhabeeineentenconsommévorbereitet.«

»Perhand?« Adam verstand zwar nichts, aber sein Gegenüber war jetzt offenbar erstaunt.

»Jadaguckstduwas? Wannkommstduzurück?«

»Ichweißnochnichtaberichbeeilemich.«

»Wasistdasdaimhintergrund?«, fragte die Frau.

»Dassinddiefarmtürmefürdasreservat.« Lockart sah zu Adam, als hätte er ein schlechtes Gewissen, was Adam sehr seltsam fand. Warum sollte er ein schlechtes Gewissen haben? Außer natürlich, er war doch ein Chinese.

»Undzuwemsiehstdudadieganzezeit?«

»Hiersindzweiüberflüssigekinder.«

»Kinder? Müsstendienichtimreservatsein?«, erklang die Stimme der Frau aus dem Gerät wie ein reißender Fluss.

»Jaichwunderemichauch. Diewachbotshabensieoffenbargetasertzusammenmiteinpaarrehen. Vermutlichgibteswiedereinensturmschadenirgendwoindenzäunen.«

»Dasmusstdumelden. Dasollsichjemandandersdrumkümmern. Esistnichtdeineaufgabe.«

»Siesindkrankliebling. Ichhabeüberlegtsiemitzunehmen«, sagte Lockhart.

»Mitnehmen? Bistduverrücktgeworden?« Die Frau klang jetzt sehr aufgebracht. Adam fragte sich, worum es ging. Warum hatten Erwachsene ständig Streit miteinander?

»Natürlichsindsiedas. Abersieübertragenauchkrankheitenundsindunberechenbar. Siebestehenquasinurausimpulsenundinstinktendienichtüberwachtundnichtkontrolliertsind. Wirhabeneinetochterlockhart! Willstdusiegefährdennurweildueinpaarüberflusskinderniedlichfindest? Schaudireinedokumentationimvranwenndusofasziniertvonihnenbist!«, entgegnete die Frau. »Beeildichessenistbaldfertig.«

»Istgut«, seufzte Lockhart und steckte das Handterminal zurück in die Tasche seines hautengen Anzugs. Er schien irgendwie bedrückt zu sein.

»Was ist denn los?«, fragte Adam vorsichtig, noch immer unsicher, ob der Mann nicht doch ein bösartiger Chinese war. Immerhin redete er sehr komisch, was Chinesen wohl so taten.

»Verstehst du, was du bist?«

»Ich bin Adam. Ich komme aus Zug 117

»Zug 117

»Ja, wir arbeiten für die Zukunft, damit unsere stolze Nation sich gegen die Chinesen wehren kann«, zitierte Adam stolz und fand sich in diesem Moment ungeheuer clever, da er dem Fremden genau ins Gesicht sah, als er Chinesen sagte, um herauszufinden, ob es eine auffällige Reaktion gab. Aber Lockhart runzelte einfach nur die Stirn.

»Ich verstehe«, sagte der Mann, doch es war eine offensichtliche Lüge. »Ich muss jetzt zurück nach Boston. Ihr dürft nicht hier sein, ist dir das klar?«

Adam schüttelte den Kopf.

»Ihr müsst von hier fortgehen.«

»Wir müssen nach New York!«, protestierte Adam.

»Nach New York?« Nun schien Lockhart vollends verwirrt.

»Ja, mein Vater arbeitet da. Und ich muss zu ihm gehen,

»Nach New York geht es da entlang.« Lockhart deutete an den Türmen vorbei in Richtung eines auffällig spitz zulaufenden Hügels. »Ich gebe euch etwas zu essen und zu trinken. Leider kann ich euch sonst nicht weiterhelfen.«

»Danke«, sagte Adam, weil er nicht wusste, was er sonst sagen sollte. Außerdem klang die Aussicht auf Wasser und Essen überaus verlockend. Sein Magen fühlte sich noch immer an wie ein zu oft ausgewrungener Lappen, und jede Zelle seines Körpers sehnte sich nach etwas Essbarem. Lockhart nickte nachdenklich und erhob sich geschmeidig.

»Ich gehe zurück zu meiner Drohne und hole euch etwas zu essen, in Ordnung? Und Medizin.«

Adam nickte bloß. Während der Fremde zu seinem Flieger ging, wandte er sich an Utah.

»Utah, wir bekommen etwas zu essen!«, sagte er und versuchte, sie mit seiner Begeisterung anzustecken. Wie in Zeitlupe drehte Utah ihm ihr Gesicht zu, das leer und blass wirkte. Als sie nichts erwiderte, fuhr er fort: »Das ist gut. Wir bekommen auch Wasser und Medizin!«

»Das ist gut«, sagte sie schleppend. Dann wandte sich wieder ab und starrte auf die Türme vor ihnen.

Lockhart kam bald darauf mit einer kleinen Box in der linken Hand zu ihnen zurück. Er ging in die Hocke, stellte die Box zwischen ihnen ab und öffnete sie. Als Erstes zog er einen fingerdicken Schlauch daraus hervor und zeigte ihn Adam.

»Das hier ist ein Wasserfilter, ich habe ihn euch schnell gedruckt. Du trinkst von der schmalen Seite hier und hältst die andere in irgendein Gewässer – egal welches. Das sorgt dafür, dass ihr nicht krank werdet. Außerdem«, er zückte einen durchsichtigen kleinen Beutel mit Tabletten, »nehmt ihr beide drei Tage lang je zwei davon am Tag. Das sollte helfen.«

»Was ist?«, fragte Lockhart, als Adam zurückzuckte, als wäre er geschlagen worden. »Das sind Stichproben für die Qualitätssicherung. Wenn ich ein paar zu wenig mitbringe, wird das schon keinen Ärger geben, und da ist alles drin, was euer Körper braucht. Und ihr mögt den Geschmack wirklich sehr!«

»Das sind Menschen!«, rief Adam entsetzt. »Die Pflanzen werden mit toten …«

»Das ist eure Nahrung«, beharrte der Mann und stand auf, als Adam zu weinen begann. Schließlich machte er einen Schritt zurück und zog sich die Maske vom Kopf. Er schien verwirrt und zum ersten Mal unsicher zu sein, dann drehte er sich um, kehrte zu seinem Flieger zurück, in den er hineinkletterte. Das Glas vorne senkte sich ab und verschloss die Kabine, es zischte, und dann drehten sich die Rotoren wieder schneller und schneller, bis das Gras aufgepeitscht wurde und sich die Maschine sanft vom Boden löste. Mit blinkenden Positionslichtern glitt sie in die Höhe, drehte sich und schoss dann mit atemberaubendem Tempo in die Nacht davon.

»Wir gehen nach New York«, sagte Adam und blickte den kleiner werdenden Lichtern hinterher. »Wir gehen nach New York.«

Utah reagierte wieder nicht, ließ sich jedoch von ihm auf die Beine ziehen. Widerwillig sah er auf die geschlossene Box, die Lockhart ihnen dagelassen hatte, und näherte sich ihr vorsichtig. Obwohl es ihm widerstrebte, packte er schließlich den Griff, nahm sie hoch. Er würde später entscheiden, was er damit tun sollte.

Du musst die Medizin nehmen, dachte er und wollte nicht weinen, schaffte es jedoch nicht. Die Tränen flossen von selbst, und sie schienen kein Ende zu haben. Du musst trinken, und du musst essen. Nein, du musst nicht essen. Du darfst nicht essen.

Hinter dem Hügel ging es lange abwärts über weites Gras, das durch die fortgeschrittene Dämmerung beinahe schwarz aussah. Bizarre Schatten in der Ferne gehörten wahrscheinlich zu Bäumen, die noch nicht von einem der vielen Superstürme gefällt worden waren. Solange seine geröteten und mittlerweile wie Feuer brennenden Augen ihn noch sehen ließen, hielt er mit Utah im Schlepptau auf sie zu.

Nach einer gefühlten Ewigkeit endete die Graslandschaft abrupt an einer tiefen Schlucht, einem finsteren Schlund, der das Land in zwei Hälften teilte. Er war nicht sehr breit, vielleicht zehn Meter oder weniger, aber die Wände waren schroff und führten senkrecht hinab in die Tiefe. Zumindest in der Nacht war der Boden nicht zu erkennen. Vorsichtig standen sie einen Schritt vom Rand entfernt und blickten ratlos auf die andere Seite.

»Es geht nicht weiter, Adam«, sagte Utah plötzlich, und er wusste nicht, was ihn mehr erschreckte: dass sie wieder sprach oder dass sie so ruhig und gelassen klang wie eine Erwachsene.

»Es muss weitergehen«, widersprach er trotzig und spähte rechts und links in die Dunkelheit. Schließlich deutete er nach rechts. »Gehen wir da lang. Vielleicht hört die Schlucht da auf, oder es gibt eine Brücke.«

»Wenn du meinst.«

»Du wirst es schon sehen«, sagte Adam zuversichtlich. Wenn es den lieben Gott, von dem seine Mom ihm immer erzählt hatte, wirklich gab und er Amerika beschützte und alles gemacht hatte, dann hatte er diesen Ort bestimmt mit einem Messer erschaffen.

Sie hatten gerade ein kleines Waldstück erreicht, in dem die

Und das machte ihm Angst. Es gab nur eine Möglichkeit, seinen Hunger zu stillen, und die lag in der Box, die seine linke Hand noch immer umklammert hielt. Ächzend rollte er sich auf die Seite und begann, mit den Händen den Boden abzutasten, bis er feuchtes Erdreich fand. So schnell er konnte, buddelte er ein kleines Loch, bis es sich mit Wasser gefüllt hatte, schluckte schwer und öffnete dann die Kiste. Der Anblick von etwas Glänzendem, das er für den Zucker hielt, versetzte ihm einen Stich, weshalb er rasch nach dem Filter griff, den er in die selbstgeschaffene Pfütze steckte, und an dem Mundstück saugte. Gierig trank er, war überrascht, wie neutral es schmeckte, dann bekam er ein schlechtes Gewissen.

»Utah?«

»Ja?«, flüsterte sie nach einer gefühlten Ewigkeit mit leerer Stimme.

»Hier, trink.« Er ertastete ihre Hand, führte sie zu dem Strohhalm und wartete geduldig, während auch sie schlürfend trank.

»Danke.«

»Wir müssen etwas essen.« Die Worte kamen ihm nur schwer über die Lippen.

»Ich weiß«, sagte sie tonlos.

Widerwillig griff er in die Box und weinte, als er eine der Zuckeroblaten auspackte. Sein Körper zwang ihn, nicht zu zögern, sondern so schnell wie möglich hineinzubeißen. Und das tat er.

 

Als er aufwachte, wusste er nicht mehr, wo er sich befand. Erst als er gegen das Tageslicht angeblinzelt und verwirrt die Bäume um sich herum gemustert hatte, erinnerte er sich. Schuld und Scham überkamen ihn, und er musste sich abrupt erbrechen. Utah saß neben ihm und sah ihm dabei ungerührt zu. Er schämte sich.

»Guten Morgen«, sagte er und wischte sich etwas verlegen mit dem Handrücken den Mund ab.

»Wir haben den Zucker gegessen«, stellte Utah nüchtern fest.

»Ich weiß.« Adam ließ die Schultern hängen und schüttelte den Kopf. »Wir mussten es tun, weil wir meinen Dad finden müssen.«

»Ich weiß. Du musst deinen Dad finden. Ich habe keinen Dad mehr. Ich habe niemanden.« Seine Freundin klang weder traurig noch aufgebracht, eher so als stelle sie etwas Selbstverständliches fest.

»Du hast mich«, widersprach er.

»Klar.«

Adam rappelte sich auf. Ihm tat alles weh, aber er hatte wieder zu etwas Kraft gefunden.

»Es gibt bestimmt einen Weg über diese Schlucht«, sagte er und schloss schnell den Deckel der Box. »Lass uns nachsehen.«

Und nachdem sie vorsichtig durch das Unterholz gekraxelt

»Wir schaffen das«, sagte er mehr zu sich selbst als zu Utah, doch sie nickte zu seiner Überraschung. »Du konntest schon immer gut klettern.«

Er straffte sich, atmete tief durch und stieg auf den Stamm, der ihm am nächsten war. Er hatte nur noch wenige Äste, aber genug Stummel, um sich daran festzuhalten. Da das Holz unter ihm breiter war als er, konnte er den Blick fest auf die Rinde richten und setzte so eine Hand vor die andere und zog mit Knien und Füßen nach. So machte er immer weiter, bis er fast auf der anderen Seite war. Was er sich als furchterregend ausgemalt hatte, war beinahe vorbei. Er drehte sich um, um Utah ein paar aufmunternde Worte zuzurufen, aber sie saß einfach in der Mitte, schaute ihn an und kletterte nicht weiter.

»Was ist?«, fragte er und winkte sie zu sich. »Komm schon, Utah. Es ist nicht schlimm. Schau einfach nicht nach unten.«

»Warum?« Sie beugte sich leicht nach rechts, und ein Schreck durchfuhr ihn wie ein Stromschlag. Seine Freundin aber schien nicht besonders verängstigt. »Was macht es für einen Unterschied?«

»Was redest du da? Komm jetzt. Es ist nicht mehr weit!«

»Es ist immer weit, Adam.« Utah klang jetzt wie eine Erwachsene, und das machte ihm Angst. »Es ist immer noch weiter. Und wofür?«

Er wusste, dass sie keine Antwort erwartete, und so sagte er

Utah nickte ohne jegliche Gefühlsregung und verlagerte dann ihr Gewicht nach rechts, so dass sie vom Baum rutschte und lautlos in die Tiefe stürzte.