James betrachtete das Foto, das in dem Gang geschossen worden war. Es zeigt ihn vor einer Glaswand, hinter der es dunkel war. Er blickte sehr entschlossen drein, und die Narbe in seinem Gesicht sprang ihn geradezu an. Seine Hände zitterten so stark, dass ihm das Bild beinahe entglitt. Die Übelkeit, die ihn seit seiner Ankunft in der niedrigen Schwerkraft plagte, drängte sich nun mit aller Gewalt in das Zentrum seiner Aufmerksamkeit.
»Wie ist das möglich?«, hauchte er.
»Das, mein lieber Adam«, sagte Moreau, »ist eine gute Frage. Es ist möglich, weil er existieren muss.«
Adam starrte den Franzosen entgeistert an. »Ich bin … er? Aber das ist unmöglich!«
»Du hast einen langen Weg hinter dir, den vermutlich die wenigsten von uns ertragen hätten, und geschafft hast du es nur, weil du einen starken Anker in der Zukunft hattest.«
»Mich selbst?« Adam schüttelte den Kopf. Die paradiesische Kunstlandschaft um ihn herum kam ihm plötzlich wie ein Gefängnis vor, die recycelte Luft nicht mehr atembar. »Das kann nicht sein. Ich bin nicht mein Vater.«
»Natürlich nicht. Er ist vielmehr du.« Plötzlich tauchte Viktoria wieder auf. Er hatte sie nicht kommen sehen und das Knirschen des Kieses unter ihren Schuhen keinen Platz in seiner eingeschränkten Aufmerksamkeit gefunden. Moreau nahm ihm das Foto ab und hielt es ihr hin. Sie schnappte es und entfernte sich wortlos wieder.
»Dieses Foto habe ich bekommen, als ich zwölf Jahre alt war. Aber es wurde jetzt erst aufgenommen?« Fassungslos blickte er der Frau hinterher.
»Was denkst du«, fragte der Franzose, »wird die liebe Viktoria jetzt tun? Wird sie das Foto zu Zug 117 bringen, es jemandem geben, der Luis heißt und deiner Mutter einredet, dass dein Vater nicht bei einem Fluchtversuch in Colorado gestorben ist, sondern es nach New York geschafft hat?«
Adam hatte das Gefühl, ihm würde der Boden unter den Füßen weggezogen und er ins Vakuum gerissen. »Unmöglich«, flüsterte er immer wieder.
»Ich möchte dir eine Frage stellen«, fuhr Moreau fort. »Du hast viel Zeit in virtuellen Welten verbracht. Nach alledem: Wenn es nur eine reale Welt gibt, aber die Anzahl potentieller virtueller Welten unendlich ist, wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass du die einzig reale Welt bewohnst?«
Annähernd null, dachte Adam und schluckte schwer. Nein, weigerte er sich, den Gedanken zu akzeptieren, und schüttelte den Kopf. »Nein!«
»Vielleicht ist das alles gar nicht wirklich passiert. Unsere ganze Geschichte – deine ganze Geschichte – ist nur eine Simulation gewesen. Das wäre möglich, nicht wahr? Hast du nicht häufiger gedacht, dass etwas nicht stimmt? Kannst du von irgendetwas zu einhundert Prozent sagen, dass es echt war?«
»Ja!«
»Aber natürlich: Der Schmerz! Das Leid! All das kann doch keine Illusion gewesen sein. Das ewige Rad.« Moreau schmunzelte. »Unsere Unwissenheit und das Nichtverstehen der wahren Natur der Dinge sind die Ursache allen Leidens, soll Buddha gesagt haben. Auch für ihn war das Leben nur eine leidvolle Simulation.«
»Was reden Sie da überhaupt?«, knurrte Adam, der das kryptisch-selbstverliebte Gerede des Billionärs leid war.
»Ich will damit sagen, dass die Realität ein zweifelhaftes Ding ist, ob du an Samsara oder eine Simulation glaubst. Wir können niemals sicher sein, dass unser Leben nicht nur der Traum eines anderen ist.«
»Ich glaube, was ich sehe.« Die Antwort kam eher automatisch als aus Überzeugung, wie er sich eingestehen musste. Waren nicht die Augen am leichtesten zu täuschen? Die Veranda, auf der er saß, befand sich immerhin auf der Innenseite eines ausgehöhlten Asteroiden und war mindestens genauso künstlich wie eine virtuelle Realität. Es gab keinen Himmel, nur die künstliche Sonne als Zentrum, Vogeldrohnen, die ebenso künstliche Lieder zwitscherten und mit zunehmender Flughöhe, in der die Zentrifugalkraft nachließ, kaum noch mit den Flügeln schlagen mussten.
»Genau! Wenn dein Weg zu mir und all das hier keine Simulation ist, dann hieße das, dass die Singularität bereits eingetreten ist und eine Künstliche Intelligenz den Verlauf der Zukunft vorausgesagt hat – und zwar schon vor langer Zeit, als du noch ein Kind warst. Wir haben dir das Foto zugesteckt, als du noch ganz klein warst, Adam, und wir wussten, was passiert. Dass deine Mutter stirbt. Und Utah sich in die Tiefe stürzt. Und dass du doch nicht aufhören würdest, nach deinem Vater zu suchen. Ist das so schwer vorstellbar? Irgendjemand hat alle KIs zusammengeschaltet und eine echte, starke KI geschaffen, die unsere Handlungen vorhersagen kann, weil alle unsere genetischen Merkmale und unsere Gefühle nur Algorithmen sind, eingewoben in den einen großen Code des Universums. Haben wir also in der echten Welt eine Simulation durchlaufen lassen, um zu überprüfen, ob der vollständige Determinismus der KI recht hat und sie die Zukunft wirklich vorhersagen kann? Habe ich mit dem Foto einen Dominostein umgestoßen, der eine präzise aufgebaute Kettenreaktion in Gang gesetzt hat, die dich jetzt hierherführen musste? Dich und Luise?«
Das würde bedeuten, dass er alles weiß. Alles. Er hätte alles gesehen, jeden Atemzug vorausberechnet, jede Begegnung, jeden Regentropfen auf meinem Gesicht, dachte Adam fieberhaft. Aber das kann nicht sein. Oder?
Als er zurückschreckte, lachte Moreau. »Ja, ich war auch bei euren kleinen konspirativen Treffen dabei, falls du dich das gerade fragst.«
Ihm ist nichts verborgen! Unser Plan ist gescheitert. Wir befinden uns in seinem Plan.
»So eine KI gibt es nicht«, wandte Stuart ein. »Die benötigte Rechenleistung und Datenverarbeitungsheuristik existieren nicht.«
»Wer kann schon sagen, was sich hinter dem Vorhang abspielt, hinter den kein Mensch blicken kann?«
»Die Singularität.«
Moreau nickte, und sein Blick wurde für einen Augenblick leer. »Du selbst hast ihr mit dem nächsten Evolutionsschritt des maschinellen Lernens den Weg bereitet: dank Luise als Basisheuristik deiner VR-Software. Wirklich gut, das muss ich sagen. Aber seitdem ist nichts mehr, wie es sein sollte, nicht wahr? Seither kann die Wirklichkeit berechnet werden. Sie ist gewissermaßen entzaubert als ein übergeordneter Datenstrom.«
»Die Singularität hat noch nicht stattgefunden.«
»Ach ja? Woher nimmst du diese Gewissheit?«
Stuart öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Er sah zu Adam, und sein rechtes Augenlid zuckte.
Beruhige dich, James, es ist erst vorbei, wenn es vorbei ist. Mein Vater hat uns ein Zeichen gegeben, sagte Luise.
Welches Zeichen? Wieso?
Sein Headmemory ist aktiv. Das Handterminal, das vor Moreau auf dem Tisch liegt, ist der Schlüssel zum Quantumlink und in das Proxima-Konstrukt. Ich glaube, Stuart hackt sich gerade hinein.
Woher weißt du das?
Ich würde es tun. Er ist mein Dad, schon vergessen? Wir müssen ihm Zeit verschaffen!
»Das ist nicht möglich«, sagte Stuart laut.
»Warum nicht?«, fragte Moreau. »Der IQ der Künstlichen Intelligenz könnte längst ins Trillionenfache gewachsen sein, und mittels der allgegenwärtigen Nanotechnik und Robotik hätte sie die Welt und bald das Universum nach ihren Vorstellungen geformt. Ein Algorithmus mit nahezu unendlicher Rechenleistung würde alles wissen. Alles vorhersagen können. Unsere Handlungen, unsere genetischen Merkmale, unsere Gefühle sind kaum mehr als Algorithmen, eingewoben in die umfassende Ordnung des Kosmos. Das Universum entfaltet sich als komplexer, aber durchschaubarer Plan, von dem sich ablesen lässt, wie alles in fünf Minuten, in einer Stunde oder einer Million Jahren aussehen wird – egal ob hier oder irgendwo jenseits der Oortschen Wolke. Spielt es da wirklich eine Rolle, ob du das Foto damals in der Wirklichkeit bekommen hast und jetzt als realer Mensch vor mir stehst oder ob du es erst in zehn Jahren vom alten Karpfen bekommen wirst, weil du im Moment nicht mehr bist als ein digitale Kopie dessen, der du einmal sein wirst?« Moreau machte eine Pause und hielt sich das Whiskeyglas unter die Nase, bevor er daran roch und kurz die Augen schloss. »Welche Erklärung macht dir mehr Angst?«
Adam senkte den Blick und schwieg.
»Richtig!« Der Franzose beugte sich vor und streckte den Zeigefinger seiner Hand mit dem Glas in Adams Richtung. »Es spielt nämlich keine Rolle! Es ändert nichts an deiner Passionsgeschichte. Hast du nicht durchlitten, Adam, was ein Mensch durchleiden kann? Ich habe einmal gelesen, dass jede gute Geschichte eine Passionsgeschichte ist. Davon sehe ich heute keine mehr, weil es kein Leid mehr gibt, außer der Strom fällt aus. Die Frustrationstoleranz gegenüber den Widrigkeiten menschlicher Wirklichkeit ist quasi nicht mehr existent. Alles wird dem Komfort und der Annehmlichkeit untergeordnet. Und dann kommst du, lieber Adam. Der erste Mensch. Der letzte Mensch. Gut hast du dich geschlagen, selbst in Singapur, als wir uns das erste Mal persönlich getroffen haben. Als du Luise getroffen hast.«
»Du warst dort. Du warst die ganze Zeit in Stuarts Konstrukt.«
Moreau lächelte, als er Adams schockierten Blick bemerkte. »Natürlich. Ich war auch mit dir am Zug und habe gesehen, wie du dein Headmemory mit Menschen gefüllt hast, die zum Aussterben verdammt waren. Und eine Frage lautet jetzt, ob es in meinem Interesse liegt, dass ihr den Quantumlink dafür nutzt, eine Arche Noah für Überflussmenschen zu bauen.« Er deutete auf das altmodische Handterminal auf dem Tisch. »Hier ist er, schau ihn dir an. Das Tor nach Proxima, der Quantumlink. So ein kleines Gerät. Und doch ist es der Schlüssel für das nächste Kapitel in der Geschichte der Menschheit. Mit ihm lassen sich die Klone ansteuern, die auf Proxima b auf uns warten. Du könnest sie in echte Menschen verwandeln. Ihnen einen Planeten schenken, in dem es noch echte Herausforderungen gibt. Wo ein Individuum gebraucht wird, nicht überflüssig ist. Ist es nicht ironisch, dass ich gerade dich – einen Überflussmenschen – dazu ausgewählt habe, die Menschheit von diesem schrecklichen Paradies namens Erde fortzuschaffen für einen Neustart? Eine Revolution herbeizuführen?«
»Die Zukunft ist das ungeformte Potenzial des Universums, hast du in Singapur zu mir gesagt«, entgegnete Adam. »Aber sie ist bloß das Ergebnis eines komplexen Algorithmus, den eine KI geknackt hast und in den du Einblick hattest, oder nicht? Was auch immer hier passiert, ist also keine Revolution, sondern ein weiterer Dominostein, den du an genau der richtigen Stelle umgestoßen hast.«
»Solange ihr Erfolg habt, würde es keinen Unterschied machen, oder?«, hielt Moreau dagegen. »Es ist durchaus möglich, dass all das schon einmal geschehen ist und Stuart mit seinem Plan Erfolg hatte, Luise mit den Luise-Konstrukten der VR-Simulationen gleichzuschalten und als Erster eine Super-KI zu schaffen, und all das ist das Ergebnis. Wäre es nicht logisch für eine Luise-KI, sich selbst – auch durch mich – ins Zentrum einer Revolution zu setzen?«
»Ich bin kein Revolutionär.« Adam schüttelte den Kopf.
»Noch nicht, mein Lieber.« Der Franzose schwieg eine Weile, und erst jetzt fiel Adam auf, dass das Vogelgezwitscher aufgehört hatte. »Ist es nicht wundervoll? Dieses retardierende Moment vor dem großen Crescendo des Finales? Dem Augenblick, auf den alles hinauslaufen musste? Das unausweichliche Ende, das zum Neuanfang führt?«
Über den Kiesweg kamen weitere Frauen in blauen Kleidern und mit den federnden, zu langen Schritten der niedrigen Schwerkraft herbei. Sie alle trugen Hauben auf ihren Köpfen und lächelten identisch. Er fühlte sich an die Administratorin in seiner Kindheit erinnert, deren Anblick er nie vergessen würde.
Vorsicht, sagte Luise. Jede Revolution beginnt mit einem Blutvergießen. Bleib wachsam, James!
»Ah«, machte Moreau und nickte ihm verstehend zu. »Jetzt begreifst du es. Ein Neuanfang braucht den Opfermythos, das Heldentum, den scharfen Schnitt des Pfluges, der die Ackerkruste aufwühlt und Platz für eine neue Saat bringt.«
Adam sah zu Stuart, der immer noch hochkonzentriert dasaß. »Und einen Bösewicht, den es zu bezwingen gilt«, sagte er, und seine Stimme klang schwer wie Blei.
»Nun, das ist die menschliche Erzählung, denkt ihr nicht? Und darum geht es hier doch. Sie wiederaufleben zu lassen, bevor sie verschwunden ist im Zeitalter der Daten – oder sie davor zu retten.« Moreaus weiße Zähne funkelten wie Diamanten, als sich sein Mund zu einem breiten Lächeln verzog, und er sah zum ersten Mal wieder Stuart an. »Du hast dich in das Konstrukt gehackt. Eine Backdoor, vermute ich? Bin ich überrascht? Nicht wirklich. Aber deshalb lasse ich dich noch lange nicht gehen. Die neue Welt, mein alter Freund, ist nicht für dich und mich.«
Aus den Augenwinkeln sah Adam eine Bewegung hinter Stuart. Es war Viktoria – oder eine der anderen? –, die hinter ihm aufgetaucht war und lächelte. Der Supervisor schien sie nicht bemerkt zu haben und riss die Augen auf, als plötzlich eine armlange Klinge aus seiner Brust ragte. Dickes Blut troff von dem kalten Metall auf Stuarts Schoß. Der Sterbende blickte erst ungläubig auf die Waffe hinab und schließlich zu Adam hoch, als Viktoria sie wieder herauszog. Ihr Arm war kein Arm mehr, sondern ein langes Messer.
»Luise«, formte Stuarts Mund ein letztes Wort.
Vater!, hallte es durch Adams Kopf, und ein tiefes Gefühl der Trauer durchfloss ihn. Ob es seine eigene war oder die von Luise, konnte er nicht sagen.
Moreau blieb ruhig in seinem Sessel sitzen und studierte jede seiner Regungen, als betrachte er fasziniert ein Schauspiel.
»Sie wollen, dass ich Sie umbringe«, sagte Adam mit bebender Stimme, ohne den Blick von der Leiche seines ehemaligen Hosts abzuwenden. »Ich soll Ihrer Erzählung einen würdigen Endpunkt setzen, der Ihrem Gotteskomplex gerecht wird. Aber das werde ich nicht tun. Ich werde kein Blut vergießen, nur weil Sie das in Ihrer perversen Heilsgeschichte von mir verlangen.«
»Nein? Nach allem, was ich dir angetan habe. Denk an all den Schmerz, an deine Einsamkeit. Denk an all die Menschen, die du verloren hast. Denk an deine Mutter. Oder denk an …« Moreau lächelte selbstsicher und machte einen Wink in Richtung von Adams Rücken. Er wollte sich umdrehen, doch stattdessen krampfte er sich mit den Fingern in den Armlehnen seines Stuhls fest, rechnete damit, jeden Augenblick von einer Klinge durchbohrt zu werden.
Schritte näherten sich.
»Ich würde euch ja vorstellen, aber ihr kennt euch ja bereits. Wenn auch … anders«, sagte der Franzose und lehnte sich zurück. Ganz beiläufig gab er Viktoria ein Zeichen, und sie legte die von Stuarts Blut besudelte Klinge auf den Holztisch, bevor sie sich zurückzog.
Adam drehte den Kopf und sah eine Frau neben sich treten. Noch während seine Augen an ihrem Körper hinauf bis zu ihrem Gesicht fuhren, sprang er aus seinem Stuhl auf.
»W-wie ist das möglich?«
»Hallo, Adam.« Utah war älter geworden, nicht mehr das Mädchen mit den melancholischen Augen, das er einmal gekannt hatte. Aber sie war noch immer Utah. Selbst die Stimme, reifer und tiefer geworden, erinnerte ihn noch an sie.
»Utah«, hauchte er. »Das …«
Das kannst nicht du sein, wollte er sagen, traute sich jedoch nicht, es auszusprechen.
»Du fragst dich vermutlich, ob ein kleines Mädchen den Sturz in einen Canyon überleben kann?«, meldete sich wieder Moreau zu Wort. »Das sollte nicht möglich sein. Aber du hast sie nicht sterben sehen, nicht wahr?«
»Bist du das wirklich?«, fragte Adam und machte einen zaghaften Schritt auf sie zu. Utah wich scheu seinem Blick aus, und er zögerte. »Wie …?«
»Ich habe ein neues Leben gefunden«, antwortete sie leise.
O James, es tut mir so leid, sagte Luise in seinen Gedanken, als sie den Orkan aus jahrzehntelang unterdrückten Gefühlen bemerkte.
»Sie ist nicht echt!« Adam machte einen Schritt zurück, sah den erschrockenen Gesichtsausdruck Utahs, die plötzlich aussah, als hätte er sie geohrfeigt, und der Schmerz dieses Anblicks zerriss ihm beinahe das Herz. »NEIN!«, schrie er. »SIE IST NICHT ECHT!«
»Ist sie ein Roboter? Natürlich. Aber sie hat alle Erinnerungen, verstehst du? Ihr Tod war folgenlos. Deine Trauer umsonst. Spielt es eine Rolle, was du empfunden hast, als deine Freundin gestorben ist? Spielt es eine Rolle, was irgendjemand von uns empfindet, wenn uns der Tod verwehrt bleibt?«
»Sie ist …« Er traute sich nicht, es laut auszusprechen: Eine Fälschung. Eine Illusion. Aber er schwieg.
»Ich sage dir, was sie ist«, entgegnete Moreau ernst, rückte auf seinem Stuhl nach vorne und packte ihn an den Schultern. »Sie ist das, was wir werden. Sie ist die Zukunft an diesem Ort. Wir werden zu Maschinen, Adam, sind es vielleicht schon längst geworden. Das ist das Ende der Evolution, verstehst du das? Den Menschen mit all seinen Schwächen, seiner Endlichkeit, seinem Leib aus Fleisch und Blut gibt es nicht mehr. Diese Welt ist tot. Das System kommt ohne uns aus. Wir sind die Überflüssigen. Ich bin überflüssig. Also bitte ich dich nur noch um eins, Adam, um einen … Reset.« Moreau lächelte.
»Ich hasse Sie«, flüsterte Adam konsterniert.
»Ich habe bloß den Prolog geschrieben. Du bist der letzte Akt der Menschheit.«
»Aber nicht der letzte Akt der Menschlichkeit.«
Moreaus Lippen zuckten, dann verzogen sie sich wieder zu einem Lächeln.
»Menschlichkeit«, wisperte er schwach und sah auf die Klinge hinab, die in seiner Brust steckte. Adams Hand um den Griff zitterte leicht. Er hatte nicht einmal bemerkt, wie er zugestochen hatte. »Das ist es.«
James, schrie Luise in seinem Bewusstsein. Das Terminal!
Er fuhr herum und griff danach, doch Viktoria und die anderen Roboter rührten sich nicht mehr. Es war, als wären sie auf der Stelle festgefroren. Lediglich Utah folgte ihm mit gerunzelter Stirn.
Adam schaute hinab und sah, dass er noch immer das Messer in der rechten Hand hielt. Er ließ es fallen, und es schepperte auf die Holzdielen.
Das Zittern in seinen Gliedern war mit einem Mal fort, als er in die Hocke ging und sich mit aller Kraft abstieß. Die geringe Schwerkraft an der Innenseite des Asteroiden ließ ihn für irdische Verhältnisse weit aufsteigen, doch als er glaubte, wieder hinabstürzen zu müssen, verlangsamte er sich zwar stark, schwebte aber irgendwann in Richtung der gleißenden Plasmakugel im schwerelosen Zentrum des Himmelskörpers. Utah hatte den Kopf in den Nacken gelegt und sah ihm nach, wurde immer kleiner. Die Zentrifugalkraft gab ihn nur widerwillig frei, aber auch sie konnte ihn nicht mehr halten.
Hast du Zugriff auf das Terminal?
Ich bin schon dabei, die Übertragung einzuleiten. Es tut mir so leid, Adam.
Es ist vorbei, gab er zurück. Gleich ist alles vorbei.
Und als sein Körper in die künstliche Sonne stürzte, war sein Geist schon fort.