Sie nuschelte und grinste. War trotzdem reizend. Damenhaft reizend, ganz anders als jüngere Mädchen. Ein bisschen mama-mäßig, aber auch ziemlich frech. Eigentlich hübsch. Fülliger Mund mit Lippen, die echt wirkten. Rotblonde Haare, die einwandfrei nicht echt waren. Und sie war schwer beschäftigt. Sie kotzte gerade in eine Mülltonne, als er sie entdeckte. Er blieb stehen und sah ihr eine Weile zu, bis sie sich aufrichtete, zu ihm hinüberschaute und ihm plötzlich zuwinkte. Er gehorchte dem Wink und sah, wie eine Ratte an ihren Füßen vorüberrannte. Das Maul des Nagetiers war vollgestopft mit Kebabresten oder so etwas. Die Frau war zu sehr weggetreten, um das Tier zu bemerken. Sie tat ihm leid. Andere Leute taten ihm oft leid.
Er sich selbst auch.
Es kam so, wie er es gewollt hatte, er durfte mit ihr nach Hause gehen.
»Wie alt bist du eigentlich?«, fragte er zum dritten Mal.
»Tick, tack. Tick, tack.«
Vielleicht weinte sie ja eigentlich. Vor allem hatte sie gelacht, sogar, als er sie reichlich hart packen musste, damit sie im U-Bahnhof Nationaltheatret nicht in den Spalt zwischen Bahnsteig und Wagen fiel. Ihr Lachen war ansteckend, sogar im Suff. Sie kam ihm trotzdem nicht besonders fröhlich vor.
»Tick, tack.«
Ihre Wohnung war schweineschick. Nicht, dass er selbst ausgerechnet in Scheiß-Manglerud hätte wohnen wollen, und schon gar nicht in einem riesigen Hochhaus. Die Wohnung war auch nicht besonders groß, zeigte aber wirklich guten Geschmack. Geschmack wie in Einrichtungszeitschriften. Ziemlich dunkle Farben. Gerade genug Bücher im Regal, und ein viel zu schüchterner Flachbildschirm. Und solche Gruppen aus leeren Vasen und Kerzen, auf einem Holzbrett arrangiert, um ganz zufällig auszusehen. Hier und dort, überall, aber nicht übertrieben viele. Die Wohnung war perfekt, um dort zu übernachten, und derzeit war er total abhängig davon, solche Orte zu finden. Bekannte oder fremde, wenn es dort nur einigermaßen sauber aussah und die Leute in Ordnung waren, dann war er bis zum nächsten Tag gerettet.
»Viel zu alt«, jammerte sie. »Die Uhr tickt.«
Er hatte eine große Kanne Kaffee gekocht und der Frau außerdem eine Menge Wasser eingetrichtert. Er wusste, wie sie sich fühlte. Er betrank sich nur selten, aber wenn es passierte, war es danach das Beste, den Rausch auszuschlafen. Die Hölle, wenn man dann endlich aufwachte, aber dennoch.
»Vielleicht solltest du schlafen«, schlug er vor und stand vom Sofa auf.
»Nein«, sagte sie und versuchte, ihn zu sich zu ziehen. »Du bist so niedlich. So lieb. Du wärst sicher ein toller Papa. Können wir nicht zusammen ein Kind machen?«
Er lachte.
»Ich hab es dir eben in der Bahn doch schon gesagt. Ich bin homo. H-O-M-O. Ich habe keine Lust auf Frauen … no offence. « Er trat einen Schritt zurück und hob beide Handflächen. »… und ich hab auch keine große Lust auf Kinder. Ich bin einundzwanzig.«
»Es wäre so leicht«, sagte sie und versuchte, sich bequemer hinzusetzen. »Ich habe alles, was wir brauchen, und es ist die richtige Zeit im Monat, und …« Ihre R mussten irgendwo auf dem Boden eines Glases liegen. Sie sagte »wä’e« und »hichtig«. Ihre Hand rutschte von der Sofakante ab, als sie aufstehen wollte, und sie fiel zurück. War nicht mehr so hübsch.
Er tippte auf vierzig Jahre.
»Achtunddreißig«, sagte sie, und der Schluckauf setzte ein. »Ich bin achtunddreißig, und die Uhr tickt fleißig.« Ein Kichern. »Das hat sich gereimt. Komm, wir machen ein Baby.«
Sie schloss die Augen. Noch einige Minuten, dann würde sie schlafen. Er nutzte die Gelegenheit, um sich noch einmal umzusehen. Neben dem jämmerlichen Flachbildschirm lag ein iPad. Das hatte sie offenbar in den USA gekauft, denn Apple hatte das coolste gadget aller Zeiten erst vor einem Monat lanciert. Sauteuer.
Saugeil.
Ab und zu stahl er.
Nicht viel. Meistens Speis und Trank. Ein seltenes Mal Geld, aber nur kleine Beträge, und nur im Notfall. Das iPad hatte ein knallrotes Lederetui und führte ihn in Versuchung.
»Kind«, sagte sie unerwartet energisch.
Diesmal konnte sie aufstehen. Das Grinsen war verschwunden. Sie deutete ein Kopfschütteln an. Dann leerte sie die halb volle Tasse lauwarmen Kaffees, stellte sie ab, streckte den Rücken und hob die Hände über den Kopf, als ob sie eben erst aufgewacht wäre. Er hatte gehofft, sie werde auf dem Sofa einschlafen, damit er sich in das verlockende Bett legen könnte, das sich aller Wahrscheinlichkeit nach hinter der Tür in der Längswand befand. Nun würde es wohl umgekehrt sein. Auch gut. Anspruchsvoll zu sein, konnte er sich nicht leisten, und gegen das Sofa war nichts einzuwenden.
Mit überraschend festen Schritten ging sie durch das Zimmer zu der integrierten Küche. Eine Schublade klirrte. Mehrere Schubladen. Er starrte das iPad an. Sie hatte auch ein iPhone, das wusste er. In der Handtasche, die im Gang am Haken hing und eine Brieftasche und jede Menge Schminke enthielt. Die Tasche war in der U-Bahn zwischen ihren Beinen umgekippt, und er hatte ihr helfen müssen, alles wieder aufzusammeln.
»Hier«, sagte die Frau und hob eine riesige Spritze über ihren Kopf.
Groß genug für ein Pferd. Oder einen Elefanten. Die Spritze hatte keine richtige Spitze, das sah er nun. Sie hatte überhaupt kein Metall, war stumpf und seltsam. Sie sah ein bisschen aus wie eine dieser Spielzeugspritzen, wie sie oft in niedlichen Arztköfferchen mit einem aufgedruckten roten Kreuz lagen.
»Hast du was zu essen?«, fragte er.
»Sicher. Nachher. Erst das hier.«
Dumm war er nicht. In der Schule war er lange Zeit der Beste in der Klasse gewesen. Clever und eingebildet, hatte er die Lehrer sagen hören. Dann war seine Mutter gestorben, und mehr Schule hatte es nicht gegeben. Das Leben war weitergegangen, irgendwie. Er stolperte hinterher, so gut es eben ging, lebte vor allem von der Hand in den Mund. Ab und zu wie ein Prinz. Meistens nicht. Eine feste Adresse hatte er nicht mehr gehabt, seit sein Vater schließlich die Geduld verloren und ihn vor die Tür gesetzt hatte.
Da war er siebzehn.
Seit vier Jahren lebte er nun schon von Sozialhilfe und der Barmherzigkeit anderer. Dumm war er trotzdem nicht, und als die Frau ein weiteres Mal mit der riesigen Plastikspritze winkte, begriff er, was sie wollte.
»Bist du gesund?«, fragte sie.
»Ja. Aber ich hab keinen Bock auf …«
»Keine HIV -Infektion?«
»’türlich nicht«, antwortete er irritiert. »Ich passe auf.«
»Erbliche Krankheiten?«
Ihr R war zurückgekehrt.
»Nein«, antwortete er. »Außerdem können wir mit dem Ding da kein Kind machen.«
Sie stand jetzt dicht vor ihm. Ihr Atem roch nach Kotze, Kaffee und Rotwein. Ihre Zunge war bläulich verfärbt. Ihre Augen noch blauer.
»Zehntausend Kronen«, sagte sie tonlos.
»Was?«
Er trat einen Schritt zurück.
»Du kriegst zehntausend Kronen. Dafür brauchst du bloß in eine Tasse zu wichsen. Im Badezimmer oder so. Dann gibst du mir die Tasse und kriegst zehntausend Kronen. Siehst aus, als könntest du die brauchen.«
Zehntausend Kronen in bar hatte er zuletzt bei seiner Konfirmation besessen.
»Dreißig«, sagte er rasch. »Ich will dreißigtausend.«
»Nein«, sagte sie und ging zu dem kleinen Möbelstück, auf dem iPad und Flachbildschirm ihren Platz hatten.
Aus einer schmalen Schublade zog sie einen Stapel hellbrauner Banknoten, zusammengehalten von etwas, das aussah wie ein Haargummi.
»Zehntausend Kronen«, erklärte sie entschieden. »Ich weiß nicht einmal, wie du heißt, also gehst du keinerlei Risiko ein. Niemand wird etwas von dir verlangen. Weder Geld noch irgendwelche Besuche zu Familiengeburtstagen. Du gibst mir, was ich will, du kriegst das Geld und …«
Wieder setzte der Schluckauf ein, und sie musste einen Schritt zur Seite treten, um nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten.
»Das ist verdammt noch mal nicht in Ordnung«, sagte er leise. »So kannst du doch kein Kind machen. Kinder dürfen nicht …« Er fuhr sich mit der Hand durch die halblangen Haare. »Warum fährst du nicht nach Dänemark oder so? Oder suchst dir einen Typen, mit dem du zusammen sein kannst, verdammt noch mal, du bist doch …«
Sie schwenkte die Geldscheine.
»Du siehst gut aus«, sagte sie. »Du bist Norweger und blond und jung. Du bist lieb. Du hast mir nach Hause geholfen. Ich habe keine Ahnung, wie intelligent du bist, aber ich bin clever genug für zwei.«
Er hätte sie niederschlagen können. Ihr das Geld entreißen und weglaufen. Sie war nicht mehr so betrunken wie noch vor zwei Stunden, als er sie gefunden hatte, aber es wäre leicht, sie zu überwältigen. Und sie hatte keine Ahnung, wer er war.
»Zehntausend Kronen für ein paar Sekunden Arbeit«, sagte sie.
In dem Punkt hatte sie recht. Lange würde es nicht dauern.
»Und das iPad«, sagte er und zeigte darauf.
»Nein. Zehntausend. Take it or leave it. «
»Aber wieso ich? Hast du nicht …«
»Du weißt nichts über mich. Ich weiß nichts über dich. So soll es bleiben. Und jetzt brauche ich eine Antwort.«
Er antwortete.
Zehn Minuten später stand er allein im Flur der kleinen Wohnung und hatte ein ganzes Vermögen in der Tasche. Die Frau war mit Tasse und Spritze in ihrem Schlafzimmer verschwunden und hatte ihn weggeschickt. Ohne ihm etwas zu essen anzubieten, wie sie versprochen hatte. Ihre Handtasche hing noch immer am Haken neben der Wohnungstür. Er öffnete sie vorsichtig und zog die lederne Brieftasche heraus. Sie liebte Bargeld, diese Frau. Hinter dem Foto eines Schäferhundes steckte ein Bündel Zweihunderter. Die Kreditkarte klemmte fest in dem engen Seitenfach, aber mit einigem Gefummel konnte er sie weit genug herausziehen, um den Namen darauf zu lesen.
Wenn sie schon keine Ahnung hatte, wer er war, wollte er jedenfalls wissen, mit wem er möglicherweise ein Kind gemacht hatte. Andererseits, in dem Alter schwanger zu werden, nach einem mehr oder weniger zufälligen Versuch, im Suff eine künstliche Befruchtung vorzunehmen, wäre ja wirklich ein Glückstreffer. Nach kurzem Zögern schob er die Karte wieder ins Fach und legte auch die Brieftasche zurück, ohne das Bargeld anzurühren. Dann lief er aus dem Haus, um sich etwas zu essen und eine andere Übernachtungsmöglichkeit zu suchen. Unten auf der Straße beschloss er, so zu tun, als hätte sich diese absurde Szene niemals zugetragen.
Ihren Namen vergaß er seltsamerweise nie.